Читать книгу Einführung in die moderne Theaterwissenschaft - Jörg von Brincken - Страница 8
4. ,Werktreue‘ – eine obsolete Forderung?
ОглавлениеNicht-textbasierte Spielpraxis
Das Auseinanderdriften der ästhetischen Positionen Text und Theater markiert also den wesentlichen Paradigmenwechsel in der Theaterästhetik des 20. Jahrhunderts (vgl. Lehmann 1999, 73f.). Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass eine theatrale Spielpraxis, die entweder ohne dramatische Vorlagen auskam oder aber den Text als jeweils auf die szenischen Bedingungen zugeschnittene funktionale Größe behandelte, über die gesamte Theatergeschichte hinweg das offizielle Literaturtheater begleitete und oftmals sogar vorherrschend war, etwa in Gestalt der komischen Tradition der Commedia dell’arte oder des Unterhaltungstheaters. Der Grund dafür, dass gerade diese Formen nur ungenügend als ernst zu nehmende Alternative reflektiert wurden, liegt zum einen im Umstand der Aliterarizität begründet. Die Commedia dell’arte etwa sowie die ihr verwandten Genres waren in Form geschriebener Texte nicht bzw. kaum überliefert. Oder aber geschriebene Vorlagen hatten keine über die jeweilige Bühnenrealisation hinausreichende Halbwertzeit, sondern waren Gebrauchstexte, die – und das keineswegs nur in Form von ,Zugeständnissen‘ – an den spezifischen Bedingungen der jeweiligen Theaterpraxis und den aktuellen Bedürfnissen eines Publikums orientiert waren. Dies zeigt auch, dass es der Gattung Theatertext selbst an einer kohärenten Gestalt und einer einheitlichen Geschichte mangelt (vgl. Graf 1992, 2).
Historizität des Werkbegriffs
Wenn nun in jüngerer Zeit – ausgehend von polemischen Diskussionen um die ästhetische und inhaltliche Adäquanz aktueller Opernregie (die sogenannte ,ZEIT-Debatte‘) – für das Theater generell die Forderung nach Werktreue erhoben wurde, so darf zum einen nicht übersehen werden, dass der Werk-Begriff, unter dem hier eine Rückverpflichtung von Bühne auf Text und Gehalt postuliert wird, eine exklusive, den Blick auf Theater als eigenständige Kunstform neuerlich verengende normative Perspektive verzeichnet. Ein sprechender Beleg dafür ist bereits die historische Verkürzungsstendenz: In der ZEIT-Debatte ist vom sogenannten Regietheater der 1960er und 1970er Jahre, für das die Deutung eines vorhandenen Werkes durch den Regisseur wichtiger als das Werk selbst war, als eigentlichem Stein des Anstoßes die Rede (vgl. Osthoff 1980; Dahlhaus 1984; vgl. Ely/Jaeger 1984; vgl. Mainusch 1985; Schläder 1992). Bei aller Berechtigung der Kritik an manchen aktuellen Regiekapriolen, sollte man diese doch an den Gesamtleistungen und -entwicklungen der Theaterkultur des langen 20. Jahrhunderts, die sich vom ausschließlichen Primat des geschriebenen Werkes grundlegend emanzipiert hat, bemessen. Dazu scheint jedoch neben dem ästhetischen Empfinden die historische Kompetenz zu fehlen. Ein Umstand, der zu argumentatorischen Widersprüchen führt. Denn einmal wird der Gesamthorizont, in den sich die aktuelle Diskussion einordnet, auf einen Zeitraum von ca. 40 Jahren verengt. Auf der anderen Seite wird mit dem Begriff der Werktreue ein weitaus älteres und lange veraltetes Etikett bemüht. Dieses war seiner Herkunft nach – und darauf kommt es an – selber einer Eingrenzung geschuldet, die Theater als gesellschaftliches Medium grundlegend anders bemessen hat, als es heute noch der Fall sein könnte. Denn das weite Theaterverständnis, das sich im Sinne einer dynamischen und keinesfalls reibungslosen Wechselwirkung von Literatur und Theaterpraxis seit der Renaissance immer wieder von Neuem aktualisierte, wurde erst im Zuge der programmatischen Literarisierung des Theaters im Dienste seiner Festlegung auf das gesellschaftlich und moralisch Nützliche im 18. Jahrhundert zurückgenommen (vgl. Fischer-Lichte 1985b). Im Zuge dieser im historischen Kontext plausiblen Ideologisierung, avancierte ein vom Dichter verfasster literarischer Text zur eigentlichen legitimierenden Voraussetzung der Verwendung des Begriffs Theater. Erst damit wurde auch das Dispositiv von Werk bzw. Werkästhetik geschaffen, welches den Text entlang der durch Hegel verbindlich formulierten Kriterien von Vollendung, Ganzheit und Einheit als Sinnangebot verstand und das Theater programmatisch zu dessen Medium reduzierte.
Textbindung
Zu einer peniblen Textbindung der Aufführung kam es dann tatsächlich im Zeitraum 1830/40 durch die an den europäischen Repräsentationstheatern vorherrschende Festlegung auf die literarische Dramatik. Dies bedeutet auch eine dezidierte Abgrenzung gegenüber einer als Gebrauchsware diskreditierten Unterhaltungsdramatik, die auf dem Wege vielfältiger sprachlicher Übertragungen und praxisorientierter Anpassungen nichtsdestoweniger die Grundlage der europäischen Theaterkultur im 19. Jahrhundert ausmachte (vgl. Bayerdörfer 2005). Insofern war das Verhältnis zwischen Literatur und Theaterpraxis zu keiner Zeit zugunsten der Ersteren vollends entschieden. Bereits Goethe, dessen Schaffen scheinbar rundweg für eine Absicherung des klassischen Werkverständnisses in Anspruch genommen werden kann, plädierte als Theaterpraktiker für das Prinzip der Überarbeitung und des Eingriffs: „Der einnehmende Stoff, der anerkannte Gehalt solcher Werke sollte einer Form angenähert werden, die teils der Bühne überhaupt, teils dem Sinn und Geist der Gegenwart gemäß wäre.“ (Goethe 1887, 89f.) Er sprach sich damit zu einem frühen Zeitpunkt zugleich für die Aktualisierung überkommener Stoffe und für eine Einrichtung derselben zu den genuinen Bedingungen der Bühnenkunst aus (vgl. Fischer-Lichte 1990 Bd. 1, 352 f.).
Literarische Disziplinierung
Doch auch Goethes Plädoyer änderte nichts an der Tendenz zur Verallgemeinerung und Disziplinierung der ästhetischen Wertung, die notwendigerweise auf das textuelle Substrat als fester identifizierbarer Form zurückgeworfen war. Ihre theaterpraktische Entsprechung fand diese Tendenz vor allem im Historismus des darin stilbildenden Meininger-Theaters gegen Ende des 19. Jahrhunderts, das seinen handwerklichen Standard an der historischen Plausibilität bemaß. Sie wurde dann im engen Zusammenhang mit Entwicklung der Philologien in der Mitte des 19. Jahrhunderts wesentlich befördert und mündete schließlich in Versuche, Theater textuell-dramaturgisch durchzuregulieren, etwa bei Paul Heyse und vor allem in Gustav Freytags Schrift Die Technik des Dramas (1863). Diese Festlegungen sollten sich vor allem im breiten gesellschaftlichen Bewusstsein von Theater festsetzen.
Entfesselung des Theaters
Dem gegenüber jedoch stehen die skizzierten programmatischen Aufbrüche der internationalen Theatermoderne ab 1890 und der historischen Avantgarden, deren Errungenschaft, nämlich die Emanzipation des Theaters als eigenständige Aufführungskunstform, bis heute ebenso nachhaltig wirkt, vor allem aber innerhalb der Theaterpraxis und ihrer Theorie. Es ließe sich im Ausgang von der Theaterpraxis des 20. und auch des 21. Jahrhunderts sogar von einem neuen theatralen Werkverständnis sprechen, das nicht mehr um das Text- und Gehaltssubstrat zentriert ist, sondern den jeweils aktualisierten Umgang mit den medialen Bedingungen und materiellen Voraussetzungen selbst zum wesentlichen Teil einer selbstreflexiven Theaterästhetik bestimmt.
Aktueller Werkbegriff
Wie Theresia Birkenhauer entsprechend betonte, wird in den aktuellen theoretischen Diskussionen der Begriff Werk gerade nicht mehr als normativ totalisierender und verfestigender verstanden, sondern im Gegenteil
als ein Grenzbegriff, […] der auf die vielfältigen Vermittlungen im Prozess ästhetischer Produktion und Rezeption verweist. Mit [Werk] ist jene Seite der künstlerischen Praxis benannt, die sich den Intentionen der Produzenten widersetzt, in ihnen nicht aufgeht. […] In dieser Perspektive erscheint das [Werk] nicht als fertiges Objekt, sondern als eine Instanz der Vermittlung zwischen Beabsichtigtem und Realisiertem, Subjektivität und Material. (Birkenhauer 2005, 390)
Ästhetischer Transfer
Für die Theaterwissenschaft verlangt dies, wie auch Christopher Balme herausstellt, nach einem dezidierten Verzicht auf den Begriff der Werktreue zugunsten der Frage nach dem Transfer und dem ästhetischen Austausch, der sich zwischen Theater als einer autonomen künstlerischen Praxis und den anderen Kunstarten, einschließlich der Literatur, vollzieht (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 5. 4. 2006, 44). Eine wahrhaft zeitgemäße Perspektive auf das Werk hätte sich also auf jeden Fall von der hierarchischen Beziehung Drama – Theater zu lösen und die Dynamik ihres Wechselspiels, gerade auch in Bezug auf Text-Transformation (vgl. Fischer-Lichte 1985b), in Rechnung zu stellen. Kriterien wie Spannung, Bedeutungs-Entzug, Verlust, aber auch Plötzlichkeit, Intensität und natürlich auch das einer ,geglückten Irritation‘ sind die angebrachten im kritischen Diskurs um Theaterästhetik.
Schnittmengen und Differenzen zwischen Text und Theater
Das Texttheater ist keineswegs obsolet, es hat sich allerdings seinerseits gewandelt. Gerade die Autoren ab der Mitte des 20. Jahrhunderts tragen dem Umstand der ästhetischen Eigenständigkeit des Theaters in entscheidendem Maße Rechnung, werden gar zu ihren Gewährsleuten und Verfechtern, etwa indem sie die performative Dimension der Szene in ihre Texte einarbeiten: Sprachexperimente, Aufbruch der Figurenidentität, konkreter Status des Wortes und des Textgesamts usw. – das alles sind Indizien einer neuen, am medialen Transfer orientierten Ästhetik, die literarisches Schaffen für die Bühne auf diese hin öffnet und damit das vormals geschlossene Werk nunmehr in der Ambivalenz zwischen Wort und Szene aufgehen lässt. Oftmals betonen die Autoren dabei ein Potenzial dichterischer und gerade auch visueller Imagination innerhalb des Textes, das auf das Theater hin ausgespannt ist, jedoch nicht im Sinne von erstrebter Deckungsgleichheit, sondern in Form von Differenzen und Schnittmengen, die sowohl die Literatur als auch das Theater an ihre jeweiligen Grenzen treiben. Das heutige Theater antwortet darauf mit einer Inszenierungspraxis, die den Text nicht als fehlerfrei umzusetzendes Sinnkontinuum, sondern als unter den Bedingungen von Theatralität neuerlich zu bearbeitendes Material ernst nimmt und ihn als Ansatzpunkt neuer szenischer Transformationsverfahren jenseits der Textreue-Norm nutzt (vgl. Balme/von Brincken 2007, 289). Aktuelles Theater dieser Art entsteht sozusagen an der Schnittstelle seiner Konfrontation mit herangetragenen Materialien, und seien dies literarische Entwürfe. Es ist vor diesem Hintergrund zu fragen, ob das neuerlich im Kurs stehende Plädoyer für Werktreue nicht weniger durch ein traditionelles Verständnis von Texttheater legitimiert, als vielmehr durch den „Unwillen […] sich auf ungewohnte Theatererfahrungen überhaupt einzulassen“. (Lehmann 1999, 83) charakterisiert ist. Es stände damit konträr auch zur Qualität aktueller Theatertexte.
Zeitgeist und Überzeitlichkeit
Nun mag generell die Tendenz, sich heute auf einen überkommenen Werk-Begriff zu berufen, zumindest als tastender Ausdruck eines neuerlichen theateraffinen Qualitätsbewusstseins positiv zu werten sein. Ganz in diesem Sinne wurde – fast entschuldigend – das Solidarische einer Kritik betont, die dem Theater nur zeigen solle, „dass es sein ästhetisches Bezugsystem neu zu justieren hat“ (Johanna Dombois und Richard Klein, ZEIT 5. 10. 2006). Das Problem ist dann aber wiederum, dass sich, auch wenn man den Begriff der Werktreue sozusagen nur im Sinne eines freundschaftlichen Klapses heranzieht, unweigerlich die Dimensionen vergrößern: Formale und ästhetische Ansprüche werden nämlich im Begriff der Treue mit ethischen Kategorien identifiziert. Hinter dem aktuellen und per se verständlichen Bedürfnis nach klaren Einordnungen, das sich in stilistische Forderungen hinein fortsetzt, steht, so ist zu vermuten, eine angesichts der sich im Wandel befindlichen globalen Gesellschaft anachronistische Sehnsucht nach überzeitlichen Werten, die sich wenigstens in der Kunst manifestieren sollen – was mit Kunst jedoch weniger zu tun hat als mit Weltanschauung (vgl. Fischer-Lichte 1985b, 39 ff.; Rühle 1982, 97ff.). Zugleich soll Kunst in Gestalt des Theaters auf die eigenen affektiv-emotionalen Bedürfnisse im Hier und Jetzt antworten, was per se einen Widerspruch zur ersten Bedingung darstellt. Theater, das sich und die gesellschaftliche Vielfalt, in der es sich abspielt, ernst nimmt, kann Traditionen und Publikumsbedürfnisse wahrnehmen und reflektieren. Das Wahre, Gute und Schöne für alle Zeit befestigen und dem Zeitgeist willfahren, das kann es – und darf es – nicht. Was nicht Beliebigkeit oder Affirmation des Bestehenden bedeuten muss: In der Betonung des ontologischen Status des Theaters als eines Ereignishaften, Transitorischen und radikal Präsentischen wäre geradezu die sich in der Werktreue-Debatte manifestierende Problematik von Gegenwart und Vergänglichkeit in der Kunst wie in der Realität anvisierbar, reflektierbar und diskutierbar.
Lebendige Theatergeschichte und -theorie
Die vorliegende Einführung versucht sich entsprechend dieser spezifischen Perspektive an der Aufarbeitung und Klärung derjenigen Fragen, die sich zum einen aus der Eigenständigkeit des Theaters als einer sehr alten, jedoch nach wie vor brandaktuellen künstlerischen Darstellungsform ergeben und die zum anderen im Wechselverhältnis des Theaters und seiner genuinen Kriterien mit denen der anderen Künste, speziell der Literatur, begründet sind. Der bereits in der Einführung deutlich gewordene Anspruch, beide Positionen in ihrer geschichtlichen Verflechtung herauszuarbeiten, bedingt eine weitgehend historisch verfahrende Perspektive. Gerade an ihr aber lassen sich auch die systematisch-theoretischen Aspekte und die spezifischen medialen Bedingungen, mit denen die Theaterwissenschaft im Hinblick auf ihren Gegenstand zu tun hat, in ihrer Gewordenheit darstellen. Auf jeden Fall aber wird sich die Geschichte des Theaters und seiner theoretischen Betrachtung – so ist zu hoffen – als im mehrfachen Wortsinne ausgesprochen lebendige veranschaulichen lassen. Dies wiederum belegt die Notwendigkeit einer Theaterwissenschaft, die ihren systematischen Fokus nicht nur an der wechselvollen Historie, sondern an der jeweiligen Aktualität ihres Gegenstandes sowie seiner komplexen ästhetischen, medialen und sozialen Bezüge orientiert.