Читать книгу Einführung in die moderne Theaterwissenschaft - Jörg von Brincken - Страница 9
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II. Forschungsbericht
1. Die Theaterwissenschaft von ihren Anfängen bis heute
Anfänge des jungen Fachs
Die Theaterwissenschaft ist eine relativ junge Wissenschaft und ein Kind des beginnenden 20. Jahrhunderts. Erste theaterwissenschaftliche Vorlesungen hielt der Gründer des Fachs Max Herrmann bereits 1900, ein eigenes Institut bezog es jedoch erst 1923 in Berlin, einen Lehrstuhl bekam es gar erst 1938 in Köln zugewiesen. Indem Herrmann das transitorische Untersuchungsobjekt Theater vom Drama emanzipierte und mithilfe der überlieferten Quellen wie ein Archäologe zu rekonstruieren versuchte, stellte er das Theater selbst als ästhetisches Werk in den Mittelpunkt, das sich wie das Tafelbild in der Kunstgeschichte untersuchen ließ (Herrmann 1981). Dabei sollte zur peniblen Erforschung der Quellen die Einfühlung des Forschers in die historischen Theaterereignisse hinzukommen, um diese zu verstehen, so dass sich der Positivismus des 19. Jahrhunderts und die damals innovative geistesgeschichtliche Methode, wie sie Wilhelm Dilthey vertrat, die Waage hielten. Dass zur selben Zeit die historische Avantgarde die Theatralisierung des Theaters forderte, ist mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Tiefenstrukturen geschuldet, im historisch strengen Sinne lassen sich keine direkten Verbindungen nachweisen.
Etablierung in der NS-Zeit
Nachdem Herrmann aufgrund seiner jüdischen Herkunft und seine Methode nach 1933 weltanschaulich nicht mehr opportun erschienen, glaubte man in der Folge des sich ausbreitenden Irrationalismus und der Verabschiedung des Positivismus, der Performanz des Untersuchungsobjektes Theater in der wissenschaftlichen Rezeption mit einer ,intuitiven Wesensschau‘ begegnen zu können (Corssen 1997). Diese diente als Grundlage einer ,lebenswissenschaftlichen‘ Umdeutung in Richtung einer völkischen und rassistischen Theaterwissenschaft. So hat Heinz Kindermann als Germanist die geistesgeschichtliche Methode zur völkischen Literaturwissenschaft entwickelt und diesen Ansatz Anfang der 40er Jahre auf die Theaterwissenschaft übertragen (Englhart 2007).
Zwischen Wissenschaft und Praxis Kontinuitäten der Nachkriegszeit
Von Beginn an waren für die Theaterwissenschaft als neu zu etablierendes Fach zwei Grenzen besonders relevant: Einerseits ging das Fach methodisch und personell aus der Germanistik hervor, was nicht weiter verwundert, wenn man an die Abhängigkeit des traditionellen Theaters von dramatischen Texten denkt; hier hatte man sich gegenüber der philologischen Übermacht zu emanzipieren, was bis heute anhaltende Berührungsängste erklärt. Andererseits changierte die Theaterwissenschaft zwischen wissenschaftlicher Profession und praxisbezogener Ausbildung, wobei im deutschsprachigen Raum, im Gegensatz zu den angelsächsischen Drama Departments, der Schwerpunkt in der universitären Wissenschaft blieb. Als Ausbildungsstudiengang für Dramaturgie, Regie und Intendanz, gar als ,Theaterbeamter‘, zudem für die Kulturkritik und später auch für die anderen Medien, verstand sich das Fach jedoch von vornherein. Und so kam es, dass weniger die Universität als vielmehr die an einer kulturpolitischen Kontrolle und linientreuen Ausbildung der zukünftigen Medienschaffenden interessierten Nationalsozialisten der Theaterwissenschaft in Berlin, Köln, Wien und München zu einem etablierten Status im Fächerkanon verhalfen. Die Theaterwissenschaft erwies sich zudem als methodisch anschlussfähig an die Ideologie des Nationalsozialismus, hatte sie doch, in Abgrenzung vom Logos als ,Kern der Philologie‘, den ,Mimus‘ im Sinne der mimischen Äußerung als anthropologische Konstante in den Vordergrund geschoben. Da sich dieser als nationales und rassisches Merkmal gut eignete, gab es Versuche, eine deutsche Theaterwissenschaft aus dem ,Mimus‘ und davon abgeleitet aus den ,germanischen Kultspielen‘ zu begründen. Daneben galt es, in einem ,ganzheitlichen‘ Ansatz das ,Wesen‘ und die ,organische Lebensform‘ als ,Gemeinschaftsarbeit‘ und ,Gemeinschaftsempfang‘ zu erkennen, was sogar zu einer eigenen Theatergattung, dem von Carl Niessen proklamierten, letztlich aber erfolglosen nationalsozialistischen ,Thingspiel‘ führte.
Kontinuitäten der Nachkriegszeit
Die Nachkriegszeit prägte eine weitgehende personelle Kontinuität, während sich die Methoden zeitgemäß wandelten. Das ,Mimus‘-Konzept erlebte in den 50er Jahren eine kurze Blütezeit, die Theaterwissenschaft suchte hierbei die Verbindung zur Ethnologie und bewegte sich in einem Bereich, den die Theaterwissenschaft heute als Gebiet der Theateranthropologie versteht. Besonderer Schwerpunkt wurde jedoch die Theatergeschichte, welche programmatisch von der deutschen zur europäischen Theatergeschichte erweitert wurde, methodisch zog sich die ,intuitive Wesensschau‘ hinter die Hermeneutik zurück. Grundlage der historischen Arbeit blieben weiterhin die theaterwissenschaftlichen Sammlungen, insbesondere diejenigen in Wien, Köln und München, welche beständig erweitert wurden. Vorstöße in den theatersystematischen Bereich kamen gelegentlich vor, so wurden Arbeiten zur Schauspielkunst, Dramaturgie und Regie veröffentlicht (Kutscher 1949; Niessen 1949).
Transitorik des Theaters, Integrative Theaterwissenschaft, Semiotik
Das Jahr1968 brachte auch für die Theaterwissenschaft weitgehende Neuorientierungen. Generell konzentrierte man sich nun wieder mehr, wie einstmals Herrmann, auf das transitorische Ereignis Theater, wiewohl man aber die Validität einer Rekonstruktion ablehnte, so dass nicht das historische, sondern das gegenwärtige Bühnenereignis wichtiger wurde (Steinbeck 1970). Gleichzeitig erweiterte man den Untersuchungsbereich um die Neuen Medien Film und Fernsehen, was auch damit zusammenhing, dass Theater seine Funktion als gesellschaftliches Leitmedium verloren hatte (Erken 1982). Etwas später differenzierten sich im Zuge der Forderung nach einer ,integrativen Theaterwissenschaft‘ zusätzlich die Musiktheaterwissenschaft (vor allem in Bayreuth und München), die Tanzwissenschaft und die Theaterpädagogik aus. Mit dem neuen Medium Video bekam die Theaterwissenschaft ein Dokumentationsinstrument an die Hand, welches die Analyse der Bühnenereignisse erst wirklich möglich machte, ab den 80er Jahren gesellten sich zu den Theatersammlungen und Fachbibliotheken nun die Videosammlungen der Institute. Das Theater wurde als Kommunikationsprozess begriffen und teilweise sogar mit psychologischen Methoden empirisch untersucht. Aber erst die dem Strukturalismus entliehene Semiotik wurde dann die bis heute in der gesamten Theaterwissenschaft anerkannte systematische Analysemethode (Girshausen 1990).
Kulturwissenschaft, Postcolonial Studies, Theatralität, Performativität
Der Einfluss postmoderner Vorstellungswelten seit den 1980er Jahren initiierte auch in der Theaterwissenschaft mehrfache Grenzüberschreitungen (Briegel 2003). Theaterwissenschaft wurde vermehrt als Teil der Kulturwissenschaften begriffen, so dass interdisziplinäre Bezüge deutlich wurden und im Zuge der Postcolonial Studies ethnologische und anthropologische Fragestellungen zur vertieften Untersuchung von Identitäts- und Alteritätsphänomenen führten. Das Theater fand von nun an nicht mehr nur auf der Bühne statt, so dass unter dem Stichwort Theatralität der gesamte kulturelle und gesellschaftspolitische Bereich als Rollenspiel untersucht werden konnte. Der performative turn, auch unterstützt durch die Gender Studies aus den USA, lenkte die Aufmerksamkeit weg von den kulturellen Artefakten, hin zum Entstehungsprozess (Fischer-Lichte 2003).
Performance und Postdramatik
Zugleich wurde die Performance zulasten des Dramas wichtiger, so dass die Theaterwissenschaft sich mehr der künstlerischen Performance zuwandte und man alsbald vom „postdramatischen“ Theater sprach. Ebenfalls aus den USA kam der Trend, die Theaterwissenschaft wieder mehr der Praxis anzunähern, es entstanden praxisorientiertere Studiengänge in Gießen, Hildesheim, Erlangen und München (Schechner 2002; Gromes/Sting 2005). Mit der zunehmenden Integration elektronischer Bildmedien intensivierte sich die Diskussion über das intermediale Verhältnis auf der Bühne sowie zwischen Theater und anderen Medien mit der Folge, dass nun Theatergeschichte als Teil einer allgemeinen Mediengeschichte begriffen wird.
Phänomenologie, Iconic Turn, Rückkehr zum Theatertext
Seit Beginn des neuen Jahrtausends, insbesondere seit dem 11. September, zeichnen sich wieder neue Entwicklungen ab. Nachdem die Korporalität, Materialität und Ereignishaftigkeit des Theaters als Performance mehr in den Blick kam, erkannte man, dass die Semiotik keineswegs ausreicht, Theater als ästhetische Erfahrung zu erfassen. Seitdem wird versucht, die Zeichen mithilfe phänomenologischer Methoden zu ergänzen; dafür fehlt jedoch eine funktionierende Methode. Ähnliches gilt für die visuelle Komponente des Theaters, welche im Zuge des iconic turn und der Integration der Theater- in eine fächerübergreifende Bildwissenschaft zwar erkannt, aber ebenfalls bis heute methodisch nicht in den Griff zu bekommen ist. Mitsamt der gesellschaftlichen Mentalitätsverschiebungen im Zuge der Globalisierung ergibt sich für die Theaterwissenschaft momentan nicht nur eine leichte Akzentverschiebung hin zu einer neuen ,Substantialität‘ (vgl. Gumbrecht 2005; Böhme 1995), sondern zu einer wieder verstärkten Beschäftigung mit dem Theatertext.