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2. Literatur vs. Theater
ОглавлениеTheater und Drama/Theatertext
Bereits der Begründer der deutschen Theaterwissenschaft, Max Herrmann, konstatierte für gewisse Epochen der Theatergeschichte ein enges Zusammenwirken von Theater und dramatischer Literatur, wobei Theater zumeist als sekundäres Vermittlungsmedium für literarisch entworfene Gehalte fungierte. Herrmann betont jedoch auch, dass in anderen Zeiten „[…] Drama und Theater in manchem Sinne geradezu einander feindliche Mächte“ (Herrmann 1918) waren. Theater emanzipierte sich hier von seiner Vermittlungsfunktion, mitunter vom Prinzip der Inhaltlichkeit schlechthin, es spielte sozusagen sein eigenes Spiel. Neben einer zweifellos bestehenden Wechselwirkung muss demnach auch ein grundlegendes Spannungsverhältnis zwischen der Bühnenkunst als eigenständiger Größe und ihrer Funktion als Medium für textuelle Gehalte veranschlagt werden. Der gedoppelte Sinn des Begriffes Drama (griech. drama; hergeleitet von griech. drān: handeln, tun) spiegelt dies. Er meint einmal eine literarische Form, die durch die Eigenäußerungen der dramatis personae, denen im Text keine Autoreninstanz vorgeordnet ist, charakterisiert ist. Zum anderen bezeichnet er die reine Spiel-Vorlage innerhalb einer aufführungsbezogenen Praxis, die sich von der literarischen wesentlich unterscheidet (vgl. Balme/von Brincken 2007, 265). Die Theaterwissenschaft betrachtet ein im Wortsinne dramatisches, also textbasiertes Sprech- und Handlungstheater nur als eine Möglichkeit unter anderen. Wenngleich es im westeuropäischen Raum bis heute dominiert, so steht ihm eine große Zahl von Theaterereignissen gegenüber, die auf Redetext und dramatische Handlung weitgehend verzichten. Auch aus diesem Grund hat sich als Alternative zum definitorisch vorbelasteten Begriff Drama derjenige des Theatertextes eingebürgert, der jede Art von Textvorlage, die auf einer Bühne zur Aufführung gelangt, bezeichnet (vgl. Balme 2008, 79).
Haupt- und Nebentext; Didaskalien
Von dieser Umorientierung ist auch das zentrale Formkriterium des Dramas betroffen: die Differenz von Haupt- und Nebentext, die erstmals durch den Philosophen Roman Ingarden eingeführt wurde (vgl. Balme 2008, 81f.):
Den Haupttext des Theaterstücks bilden die von den dargestellten Personen ausgesprochenen Worte, den Nebentext dagegen die vom Verfasser gegebenen Informationen für die Spielleitung. (Ingarden 1960, 403)
Die Theatersemiotikerin Anne Ubersfeld schlug als Alternative zum Begriff des Nebentextes den der Didaskalien vor, weil er neben den Spielanweisungen auch die Figurennamen und „alles, was im geschriebenen Text steht und nicht unbedingt von den Figuren gesagt werden muß“ beinhaltet (Ubersfeld 1991, 395).
Verhältnis Literatur – Theater
An der Relation Figurenrede – Didaskalien, welche sich in verschiedenen Epochen unterschiedlich gestaltet, spiegeln sich nicht zuletzt Haltungen zum Verhältnis zwischen literarischem Text und theatraler Umsetzung. Verzichteten die frühesten Theatertexte fast vollständig auf szenische Anweisungen, so erhielt der Nebentext im Laufe der Jahrhunderte immer mehr Bedeutung (vgl. Balme 2008, 82). Wesentliche Impulse kamen dabei vom literaturbasierten Theater der europäischen Aufklärung, das die szenische Umsetzung qua Szenenanweisungen streng auf den Inhalt des Dramas abzustimmen versuchte. In allen von Literatenseite unternommenen Versuchen, auf die szenische Realisation der Texte vorab Einfluss zu nehmen, spiegelte sich nicht zuletzt ein gewisses Misstrauen gegenüber den Eigengesetzlichkeiten der Bühne. Die unterschiedlichen historischen Perspektiven zum Verhältnis von Theater und Literatur lassen sich dabei vereinfachend unter drei bis heute in der Diskussion nachwirkenden Positionen subsumieren: das Theater hat die Literatur zu realisieren, das Theater verhindert die Literatur und schließlich, die Literatur verhindert das Theater (vgl. Birkenhauer 2005, 12).
Dramen- und Theatertheorie
Das eigentliche Dilemma der Theoriegeschichte besteht darin, dass sie von vorneherein durch eine große zeitliche Kluft zwischen einer Theorie dramatischer Literatur und einer Theatertheorie im engeren Sinne gekennzeichnet war. Beginnt Erstere bereits mit Aristoteles’ (384–322 v.Chr.) Poetik, deren Rezeption seit der Renaissance zu nachhaltigen Überlegungen bezüglich der literarischen Gattung des Dramas geführt hat, so sind die Anfänge einer Theatertheorie erst seit dem 19. Jahrhundert und verstärkt seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu verzeichnen (vgl. Bayerdörfer 2005). Und zwar, weil es ab diesem Zeitraum zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den eigentlichen Bedingungen von theatraler Kunst und ihren Wechselwirkungen mit den anderen Künsten kam.
Theater als Aufführungskunst
Für die zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich etablierende Theaterwissenschaft bedeutete dies freilich, dass neben Differenzen und formalen Überschneidungen immer auch die gegenseitige Abstimmung von historischer Spielpraxis und Literatur, sprich: die Modalitäten des Austausches zwischen zwei gänzlich verschiedenen Kunstformen in Betracht zu ziehen waren. Dabei aber rückte Theater als Aufführungskunst in den Mittelpunkt des Interesses (vgl. Kirsch 1992; Corssen 1994). Diese Perspektive, die sich dezidiert von der Philologie abgrenzt (vgl. Balme 2008, 80), hat Max Herrmann bereits 1914 festgelegt:
Das Drama als dichterische Schöpfung geht uns aber in der Theatergeschichte nichts oder nur in soweit etwas an, als der Dramatiker bei der Abfassung seines Werkes auch auf die Verhältnisse der Bühne Rücksicht nimmt […] und insofern also das Drama uns einen unbeabsichtigten Abdruck vergangener Theaterverhältnisse liefert; wir betrachten es ferner als Bestandteil des Theaterspielplans und als Gegenstand der Bemühungen nachgeborener Bühnenkünstler, es ihren veränderten Theaterverhältnissen zu eigen zu machen. Das spezifisch Dichterische aber bleibt für uns ganz außer Betracht; das völlig unkünstlerische Theaterstück im engeren Sinne des Wortes ist für unsern Gesichtspunkt unter Umständen wichtiger als das größte dramatische Meisterwerk der Welt. (Herrmann 1914, 4)
Die spannungsreiche Beziehung von Bühne und Literatur hat nichtsdestoweniger entscheidend zur Herausbildung des Theaters als einer eigenständigen Größe beigetragen.