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3. Aristoteles’ Poetik und die Folgen

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Von der Antike bis zur europäischen Romantik

Anfänge in der Antike

Für die Anfänge des europäischen Theaters lässt sich ein synergetisches Zusammenwirken von Theaterpraxis und Literatur bzw. Schriftkultur verzeichnen (vgl. De Kerckhove 1995). Theater entstand in der griechischen Antike aus einem staatlich institutionalisierten Zusammenspiel von kultischer Feier und Literatur. Um das Jahr 534 v. Chr. wurde unter dem Tyrannen Peisistratos von Athen das Fest der Großen Dionysien zu einem repräsentativen Politfest umgestaltet, in dessen Rahmen es zum ersten Mal zur Aufführung von Tragödientexten kam. Die zunächst anlassgebundene dramaturgische Form, wie man sie mit dem Werk von Aischylos, Sophokles und Euripides verbindet, galt dabei als literarische Neubearbeitung des Mythos durch einen identifizierbaren Autor. Zugleich aber wurde Sprache in der Aufführung zum Gegenstand einer sinnlichen und gemeinsamen Erfahrung, die die rein literarische Rezeption überstieg (vgl. Lehmann 1991). Das Zusammenwirken einer literarisch konzipierten fiktionalen Handlung mit der akustischen und körperlich-visuellen Ausstrahlungskraft ihrer Darbietung machte Theater zur einer besonderen medialen und sozialen Institution, in der die auf sie hin entworfenen literarischen Gehalte erst zur vollen öffentlichen Wirksamkeit gelangten. Damit war das eigentliche Differenzkriterium für die Unterscheidung von rein literarischer und theatraler Kunst geschaffen. Dennoch blieb die Bewertungsperspektive vorrangig sprachlichen und inhaltlichen Kriterien verbunden, ein Umstand, der durch eine rein textuelle Überlieferungstradition forciert wurde (vgl. Balme/von Brincken 2007, 266).

Aristotelische Vorgaben

Diese bestimmte maßgeblich auch Aristoteles’ Auseinandersetzung mit der Tragödie, die er nahezu gänzlich einer Literaturtheorie anheim stellte. Im 6. Kapitel seiner Poetik (Aristoteles 1982) bezeichnete Aristoteles die Inszenierung [Opsis ] der tragischen Texte als das ,Kunstloseste‘. Zugleich betonte er, die mimetische Qualität und kathartische Wirkung der Tragödie kämen auch ohne Aufführung bereits im reinen Lektüreakt zustande. Konsequenterweise verhandelte Aristoteles’ Poetik nur die literarischen, im Dramentext greifbaren Teile der Tragödie, und zwar gegliedert nach ihrer Wichtigkeit: den Mythos im Sinne einer zusammenhängenden, auf lineare Sinnentfaltung und Zielspannung abgestellten Fabel mit ihren Wende- und Höhepunkten (Peripetie, Anagnorisis und Katastrophe); sodann die der Fabel untergeordneten Charaktere; die den Intellekt ansprechenden Inhalte; schließlich die sprachlich-literarischen Mittel (Lexis), wie sie sich in dialogischen und monologischen Sprechformen niederschlagen.

Mimesis und Sinnprinzip

Nach Aristoteles betreibt die Tragödie vorrangig Mimesis, sie ahmt sinnerfüllte Handlungen von Menschen literarisch nach (Aristoteles 1982, Kap. 2). Wenn Aristoteles diese Tragödienfabel außerdem im Sinne einer „guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe“ (Aristoteles 1982, 19) interpretierte, stilisierte er sie zum Paradigma einer literarisch durchregulierten Form. Mimesis wurde in der Folge gänzlich einer auf die Realität bezogenen Mitteilungsforderung untergeordnet. Dies führte geradewegs zum Primat einer auf innere Geschlossenheit, dramaturgische Kausalität und narrative Finalität abgestimmten literarischen Fabel, die sich durch logische Anordnung, Überschaubarkeit und intellektuelle Nachvollziehbarkeit definiert (vgl. Lehmann 1999, 54 ff. und 60ff.).

Literaturhistorische Gewichtung

Diese Festschreibung von Drama auf einlinige Handlungsdramaturgien setzte für folgende Reflexionen zum Verhältnis von Drama und Theater den paradigmatischen Bezugspunkt. Die weitere Rezeptionsgeschichte sollte ausgehend von Aristoteles den Dramenbegriff vor allem als Gegenstand der literarischen Gattungslehre behandeln und ihm eine hohe terminologische Homogenität verleihen, während die Idee einer genuinen Aufführungskunst zunächst zurücktrat (vgl. Bayerdörfer 2005). Die Institutionalisierung einer eigenständigen Spielpraxis war entsprechend von heftigen Abwehrreaktionen, Kontroversen und Legitimationsdiskursen gekennzeichnet.

Die Wiedergeburt des Theaters in der Renaissance

Die von Italien ausgehende Wiederentdeckung und -belebung der antiken Tradition in der Renaissance orientierte sich zunächst vor allem am dramatischen Text und an den Kriterien der Aristotelischen Poetik. Letztere wurde dabei – im Verbund mit der Horazschen Poetik (vgl. Horaz 1967)– zum normativen Regelwerk verengt (eine Tendenz, die später im europäischen Barock dann nochmals verstärkt wurde; vgl. Bayerdörfer 2005). Die Auseinandersetzung mit den römischen Texten von Plautus und Terenz führte außerdem zur Ausbildung einer Komödienpoetik, auf deren Grundlage dann die Gelehrtenkomödie, die sogenannte Commedia erudita konzipiert wurde.

Neue Relationierung von Theater und Text

Einerseits durch die Beschäftigung mit antiker Theaterarchitektur (Vitruvs De architectura) sowie andererseits mit der ebenfalls aus der Antike übernommenen Kunst der Rhetorik kam es dann europaweit zu Versuchen, eine im weitesten Sinne theatrale Spiel- und Aufführungskonvention zu etablieren, wobei der besondere Bildungswert von antiker Dramatik im Zusammenspiel von Sprache und Inhalt im Vordergrund stand. Theater firmierte vorrangig als öffentliches Vermittlungsforum. Jedoch: Auch wenn man die erstrebte Verbindung von höchster Weisheit mit der Kunst der rhetorischen Beredsamkeit zum eigentlichen Legitimationskriterium für den zunehmenden Trend zu öffentlichen Aufführungen bestimmte, so mussten fortan doch die Beziehungen zwischen dem geschriebenen und dem gesprochenen Wort, zwischen dem individuell-kontemplativen Lektüre-Akt und der öffentlichen und gemeinschaftlichen Rezeption von Theater sowie zwischen den Institutionen von Literatur und Theater in komplexer Weise reflektiert werden (vgl. Stone Peters 2003, 105ff.).

Institutionalisierung von Literatur und Theater

Im Zuge dessen erwachte auch das Selbstbewusstsein der Autoren dramatischer Texte. Drama avancierte zu einem spezifischen, von anderen literarischen Formen durch seinen Theaterbezug unterschiedenen Genre. Zeitgleich dazu prägte sich ein Verständnis von Theater als einem institutionalisierten Ort und einer Darstellungs-Praxis aus, an dem und durch welche eine bestimmte Art von Literatur anschaulich präsentiert wurde. Theater wurde infolgedessen zu einem schärfer profilierten, jedoch nach wie vor komplexen Begriff, der sowohl den speziellen Veranstaltungsraum, das jeweilige Ereignis wie auch die ihm unterlegten dramatischen Texte umfasste. Die parallele und sich gegenseitig befördernde Institutionalisierung des Theaters (als Ort und Ereignis) und einer in gedruckter Form vorliegenden Literatur führte jedoch bald dazu, dass das Spiel auf der Bühne und der dramatische Text hinsichtlich ihrer verschiedenen Wirkungsqualitäten befragt wurden (vgl. Balme/von Brincken 2007, 270). Im engen Verbund mit technischen Neuerungen im Bereich des Bühnenraumes und -bildes etablierte sich im Laufe der Zeit mehr und mehr eine Kultur des Zuschauens. Damit schien es geboten, verstärkt auf die institutionellen und vor allem medialen Bedingungen des Theaters als einer visuell-akustischen Aufführungsform zu reflektieren. Dies führte nicht nur dazu, dass fortan die Dramatiker selbst als Theoretiker auftraten, sondern in ihrer Orientierung an der Bühnenpraxis Modifikationen an den überkommenen poetologischen Regeln vornahmen.

Theater als Forum bürgerlicher Öffentlichkeit

Mit der von der Aufklärung lancierten Herausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit kam es im 18. Jahrhundert zum entscheidenden, bis heute nachhaltig wirksamen Paradigmenwechsel innerhalb der Theaterkultur: Theater wurde als funktionaler Bestandteil innerhalb des bürgerlichen Wertegefüges konzipiert. Die Neuorientierung führte zugleich zu einer entscheidenden Differenzierung auf ästhetischer Ebene. Während man an den höfischen Theatern vor allem die musikalischen Genres von Oper und Singspiel und damit zugleich die akustisch-visuellen Elemente der Bühnenkunst favorisierte, so definierte sich bürgerliches Theater wesentlich als literarischinhaltliches mit moralischem Auftrag. Es wurde darin zum Forum bürgerlicher Öffentlichkeit, ja, zum „bürgerlichen Leitmedium“ (Rainer Ruppert) schlechthin. Dazu trug wesentlich die Einsicht bei, dass das mediale Format des Theaters – anders als die reine Literatur – eine große Anzahl von Menschen an einem Ort zu versammeln und gleichzeitig anzusprechen in der Lage war. Dennoch war es auf der anderen Seite gerade die Minderschätzung des reinen theatralen Spielpotenzials, das keineswegs mit literarischen Konzepten oder deren Vermittlung deckungsgleich ist, welche die Epoche kennzeichnete (vgl. Balme/von Brincken 2007, 274f.).

Philosophische Ästhetik und Drama

Angesichts dieser Diskrepanz verwundert es nicht, dass auch dort, wo der Dramenbegriff schließlich innerhalb der philosophischen Ästhetik reflektiert wurde, das Augenmerk eindeutig auf literarisch-sprachlichen sowie inhaltlichen Bezügen lag. Den Kulminationspunkt solcher Perspektivik gab Georg Wilhelm Friedrich Hegels an Aristoteles geschulte Vorstellung ab, das Drama stelle die Synthese aus der Objektivität des Epos und der Subjektivität der Lyrik dar und bilde, als höchste Form der Poesie, „seinem Inhalte wie seiner Form nach sich zur vollendetsten Totalität“ (Hegel 1986, 474) aus. Zwar veranschlagte Hegel die sinnliche Realität des Theaters in Gestalt der lebendig-unmittelbaren Darstellung durch Stimme und Körper durchaus. Er betonte explizit den Charakter des Dramas als einer für die Bühnenumsetzung konzipierten künstlerischen Form. Dennoch fungierte die theatrale Anschaulichkeit bei ihm durchweg und jederzeit als auf den Dichtungsgehalt durchschaubare Größe. Nicht zuletzt legte Hegel mit seiner Vorstellung von literarisch konzipierter inhaltlicher Geschlossenheit, Ganzheit und sprachlicher Vollendung den Grundstein für einen Werkbegriff, der mit den genuinen Bedingungen von theatraler Praxis nicht kompatibel ist.

Theatermoderne ab 1890

Krise des Dramas

Entscheidende Impulse für eine neue Beziehung von Drama und Aufführungspraxis gingen erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von den Werken Henrik Ibsens, August Strindbergs und Anton Tschechows, dann von den Konzepten des europäischen Naturalismus und schließlich vollends von der Gegenbewegung des Symbolismus aus. Vor dem Horizont von Industrialisierung, Urbanisierung und sozialer Entfremdung reflektierte man allgemein eine tiefgreifende Veränderung im gesellschaftlichen wie weltanschaulichen Wertegefüge und nicht zuletzt den Zerfall des klassisch-idealistischen Subjektbegriffes und seiner sprachlichen Voraussetzungen. Dies führte zu Entsprechungen innerhalb der dramatischen Form. Das wesentliche innerdramatische Kommunikationsmedium des Dialogs stand nunmehr ebenso zur Disposition wie die strikte Trennung sprachlicher und szenischer Entwürfe. Die Tendenz zum Monolog sowie zu Sprechpausen nahm zu, zum anderen ordneten die entsprechenden Stücke die von ihnen entworfenen Figuren und deren Konstellationen in ein literarisches Gesamtgeflecht ein, das Haupt- und Nebentext sowie innere und äußere Kommunikationsebene des Dramas in vielfältiger Weise verschachtelte. Damit war zugleich eine dynamische Entwicklung im Verhältnis von Drama und Theater in Gang gesetzt, die gemeinhin mit dem Etikett der „Krise des Dramas“ (Peter Szondi) versehen wird, was freilich zu kurz greift: Auszugehen ist eher von einem komplexen Prozess ästhetischer Autonomisierung von Drama und Theater, die jedoch zu gegenseitiger Neuorientierung und theoretischen und praktischen Versuchen der Bezugnahme und des ästhetischen Transfers führte.

Theatermoderne

Die bis heute wirksamsten Vorgaben der Theatermoderne kamen dabei paradoxerweise von Seiten der Literatur, nämlich aus dem Umkreis des französischen Symbolismus, vornehmlich in Gestalt des belgischen Dramatikers und späteren Nobelpreisträgers Maurice Maeterlinck. Dieser formulierte nicht nur eine dezidierte Kritik an einer zeitgenössischen Aufführungspraxis, die auf dem Primat der Illusionierung basierte; er ging darüber hinaus gegen den psychologisch unterfütterten Handlungsprimat des literarischen Theaters an (vgl. Maeterlinck 1983). Darüber hinaus revidierte er das Verständnis von Drama im Sinne eines Spieltextes grundlegend. In seiner Auffassung, die unbeschränkte literarische Entwurfs- und die Einbildungskraft des Autors würden durch die raum-zeitliche Begrenzung des Theaters sowie durch die Zufälligkeit individueller schauspielerischer Darstellung eingeschränkt, behauptete er eine radikale Gegensätzlichkeit von literarischer Imagination und theatraler Manifestation. Entsprechend plädierte er in seinen theoretischen Schriften für ein „statisches Theater“ in Gestalt eines am Beispiel des Marionettentheaters orientierten „Androidentheaters“ (Un Théâtre d’Androides, 1890/1983; vgl. Bayerdörfer 1976 und 2005). Die in seinen Dramen L’Aveugles, L’Intruse oder auch Pelléas et Mélisande entworfenen Figuren gerieten entsprechend zu nicht mehr subjekthaften, weithin anonymen Äußerungsvehikeln für den Vortrag der Sprachpoesie des Autors. Ihre Rede ist innerhalb des Bühnenraumes und des dramatischen Geschehens nirgendwo genau verortbar, sie übersteigt die psychologisch plausible Figurenäußerung und ist in ihrer klanglichen und rhythmischen Gesamtstruktur auf überindividuelle, transzendent-metaphysische Dimensionen bezogen. Das symbolistische Theater Maeterlinck’scher Prägung zielte mit einer solchen, als „Dialog zweiten Grades“ bezeichneten Selbstthematisierung der Sprache geradewegs auf die Dominanz der Literatur nicht nur auf, sondern gegenüber der Bühne (vgl. Birkenhauer 2005, 47ff.).

Theater als eigenständige Kunstform

Gerade der perspektivische Wechsel jedoch, nämlich dass hier als eigentliches ästhetisches Substrat nicht mehr nur der dialogische Rollen-, sondern der Text als Ganzes verstanden wurde, führte zu einer komplementären europaweiten Tendenz, die fortan darauf zielte – das ist entscheidend –, Theater selbst zu einem poetischen Komplex zu machen. In Hugo von Hofmannsthals programmatischem Text Die Bühne als Traumbild (1903; Hofmannsthal 1959) wurden entsprechend der Leitmetapher die szenischen Vorgänge als von jeder handlungslogischen Stringenz befreites formal-assoziatives Beziehungsgeflecht verstanden, das nach vornehmlich sinnlich-evokativen Kriterien konzipiert ist (vgl. Balme/von Brincken 2007, 284). Paradoxerweise war es also gerade die avancierte Literatur mit ihrer Aufwertung der poetischen Qualität der Sprache gegenüber deren abbildender und psychologisch darstellender Funktion, die eine grundlegende Emanzipation des Theaters vom literarischen Text initiierte (vgl. Deak 1993; Bayerdörfer 1976). Die somit über das Genre der Literatur weit hinausreichenden Bestimmungen sowie ihre Radikalisierungen durch die historischen Avantgarden Europas prägten die Theaterästhetik des 20. Jahrhunderts bis heute nachhaltig: Theater wurde fortan als Größe wahrgenommen, welche unter Umständen „ganz eigene, andersartige und der dramatischen Literatur sogar feindliche Wurzeln und Voraussetzungen hat“ (Lehmann 1999, 79).

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