Читать книгу Silvia - Folge 2 - Jürgen Bruno Greulich - Страница 10
ОглавлениеVon der Toleranz der Ehefrau
An diesem Nachmittag kam Silvia ein halbes Stündchen zu spät zu ihrem „Dienst“, was man sich aber erlauben konnte, wenn Grund für die Verspätung ein Schäferstündchen mit der Chefin war. Außerdem gab es nicht allzu viele Kunden, sodass sich ihre Kolleginnen nicht über mangelnden Beistand beklagen mussten. Als sich die Dunkelheit vom Himmel senkte, traf sie bei einer kleinen Pause drüben im Speiseraum auf Corinna, die freundlich war, doch distanziert, als sei nichts gewesen oder als wolle sie das Gewesene den anderen Mädchen verheimlichen. Nur als sie sich erhob und den Raum verließ, streifte sie Silvia mit einem liebevollen Blick, ebenso Iris. Als Chefin draußen in einem normalen Betrieb hätte ihr Handeln gegen elementare Regeln verstoßen, hier tat es das zwar auch, doch befand sie sich nun mal in ihrem eigenen Reich, in dem sie die Spielregeln selbst festlegte. Vermutlich hoffte sie schwer, dass ihr Treiben nicht in Konfusion enden möge.
Auch Silvia blieb nicht mehr lange sitzen. Ins Foyer zurückgekehrt, wurde sie von einem Kunden ins Zimmer zwei verschleppt, und danach suchte sie die Garderobe auf, um sich wieder frisch und hübsch zu machen. Alles hier in diesem intimen Raum war Sinnlichkeit; sie schaute aus den Schminkspiegeln, wohnte in den Kleidern ringsum, atmete im Duft des Parfüms, wisperte an den warmen roten Wänden, hieß jede Eintretende herzlich willkommen.
Kaum hatte sie das fleckig gewordene Negligé in den Wäschekorb geworfen, kam Annemarie aus der Dusche, in ein weißes Badetuch gewickelt. Sie hatte auch die vergangene Nacht im Schloss verbracht, nicht erpicht darauf, nach Hause zu fahren. „Da muss ich ewig nur Eis vom Auto kratzen“, erklärte sie. „Und außerdem, was soll ich daheim, da sitzt ja doch nur mein Freund auf dem Sofa und starrt Löcher in die Luft.“
„Hat er nichts zu tun?“, fragte Silvia.
„Doch. Er plant eine Schule für Lebenskünstler zu gründen und ist dabei, den Lehrstoff zu sammeln.“
„Auf dem Sofa?“
„Ja, das ist seine Form der Lebenskunst.“
„Und wovon lebt er?“
„Von mir natürlich. Ich bin Teil seiner Kunst.“
„Und du findest das in Ordnung?“
„Ach, nach diesen ganzen dynamischen, erfolgreichen, selbstbewussten und smarten Kunden hier ist die Nähe eines nichtsnutzigen Faulpelzes recht erholsam. Außerdem hat er mir schon einmal ein Paar Socken gestrickt.“
„Das klingt nach Liebe. Lass ihn sitzen auf deinem Sofa.“
„Ja, das denke ich auch.“
Bald waren sie beide für die Gäste zurechtgemacht, geschminkt, gepudert, mit Parfüm bestäubt und in ein transparentes Negligé gehüllt, bereit, die Mannesblicke anzuziehen wie bunte Vögel die Katzen. – Oh! Es hatte sich etwas getan im Foyer. Keine Öde mehr, keine gelangweilte Verlassenheit. Es herrschte jetzt knisterndes Leben, erwartungsvolle Kunden, manche mit einem Glas Wein, Kognak oder Whisky in der Hand, wurden charmant bezirzt von den Mädchen, vier an Zahl momentan, zum Glück waren einige Freiwillige erschienen. Iris reichte Getränke, sorgte für saubere Aschenbecher und auf Wunsch für fachgerecht angekettete Opfer, Immanuel schenkte Wein, Spirituosen, Mineralwasser aus, ließ den Jazz erklingen, beobachtete die Zimmer auf seinen Monitoren und kassierte all das viele Geld, das die Gäste für den Liebesdienst bezahlten. (Noch immer fand Silvia es unbegreiflich, dass ein flüchtiger Genuss so viel wert sein solle, aber natürlich war dieses Haus mit den ausgesucht hübschen und willigen Gespielinnen für jeden liebes-, nein, sexhungrigen Mann das reinste Paradies und für ein solches konnte ja bekanntermaßen kein Preis zu hoch sein.)
Ein Gast stand verloren am Tresen, ohne Begleiterin, und schaute ihnen erfreut entgegen. Endlich zwei, die Zeit für ihn hatten. Sie begrüßten ihn lächelnd, nahmen ihn in ihre Mitte, stellten sich vor.
„Annemarie und Silvia“, wiederholte er selig. „Ihr seid zwei Engel.“ Waren sie das? Und wenn ja, von wem gesandt? Vom Himmel, wie dieser Mann vermutlich meinte, oder von der anderen Seite? Der Mann griff nach seinem Kognakschwenker, als müsse er sich an etwas festhalten, der goldene Ehering stieß mit hellem Klang gegen das Glas und wie eine Hand glitt sein Blick über Silvias, dann über Annemaries Körper. „Ach, die Entscheidung fällt schwer. Am liebsten würde ich euch beide nehmen.“
Annemarie lächelte beschwichtigend. „Es hat keine Eile, lassen Sie sich ruhig Zeit.“ Sie bestellte bei Immanuel ein Mineralwasser und mit einem seligen Seufzen ein kleines bisschen vom Amaretto. „Ich mag das, es schmeckt einfach himmlisch.“ Und Silvia? Fragend schaute Immanuel sie an. Nein, sie mochte jetzt nichts, später. Ihr Blick schweifte durch den Raum – und blieb an Monikas Begleiter hängen. Diesen Mann mit dem braunen, kurzen Haar, der stumpfen Nase und den fleischigen Lippen kannte sie, es war der aus dem Zug, er hatte sie zu den Taxis begleitet und befürchtet, sich in der Stadt hier langweilen zu müssen.
Er hatte auch sie entdeckt, erkannte sie, starrte sie ungläubig an. Sie hielt seinem Blick nicht stand, senkte die Lider, es war das erste Mal, dass sie sich ihrer neuen Arbeit schämte. Dieser Mann sprengte das geschlossene System des Hauses, er stammte aus der Zeit davor, war ein Geist aus einem vergangenen und fremd gewordenen Leben, vor ihm war sie nicht einfach nur ein käufliches Mädchen, sondern die Silvia von einst, nun bloßgestellt.
Er flüsterte einige Worte in Monikas Ohr und ließ sie stehen, schlenderte herüber mit einem feinen Lächeln auf den Lippen und begrüßte Silvia wie eine gute Bekannte: „Hallo, welch angenehme Überraschung. Sie sehen entzückend aus.“ Sie wünschte sich mehr anzuhaben als diesen schwarzen Schleier aus hauchdünnem Chiffon. „Ich hätte nicht gedacht im Zug …“ Im letzten Moment verschluckte er den Zusatz: Dass Sie eine Hure sind.
„Ich auch nicht … Ich meine, ich hätte nicht gedacht, Ihnen hier zu begegnen.“
Unschuldig hob er die Hände. „Nach einer ganzen Woche Arbeit braucht man ein bisschen Zerstreuung. – Verrätst du mir deinen Namen?“ Da war es nun, das vertraute Du, das sie in ihre Rolle wies, die Barriere stürzte, sie sturmreif machte. Sie sagte ihm, wie sie hieß, und er lächelte geheimnisvoll. „Silvia, das ‚Waldkind‘ der Romantiker, das klingt wie ein Versprechen. Du bist doch sicher bereit, es einzulösen?“
Natürlich würde sie es einlösen, das Versprechen, das sie nicht gegeben hatte, was blieb ihr anderes übrig. Es gab den Schutzschild nicht mehr, der sie im Zug noch vor ihm abgeschirmt hatte wie auch vor jedem anderen Mann. Sie nickte.
„Ich denke, es wird nett mir dir.“ Er bestellte bei Immanuel einen Kognak und sie nahm jetzt auch etwas, einen kleinen Bourbon. Sie prosteten sich zu, nahmen ein Schlückchen. Der Mann schaute sich um. „Es ist angenehm hier. Leider erfuhr ich erst heute von diesem Etablissement, an meinem letzten Tag hier in der Stadt. Das ist mal wieder typisch. – Aber sag mal, Silvia, was kostest du denn?“
„Fünfhundert.“ Ein warmes Kitzeln kroch in ihre Wangen.
Er lächelte amüsiert. „Du musst doch nicht rot werden. Ich dachte, es sei teurer.“
Mit beiläufiger Geste zückte er das Portemonnaie und wollte ihr das Geld reichen, doch verwies sie ihn an Immanuel, der die Scheine ungerührt entgegennahm, als hätte er von ihrem Gespräch kein Wort verstanden. Er war genau der richtige Mann für seinen Job, die Diskretion in Person.
„Zimmer fünf“, sagte er.
Sie nahm den fremden Mann bei der Hand, ihre erste Berührung, und führte ihn in den Korridor. In Zimmer fünf war sie noch nicht gewesen, wusste nur, dass jedes Zimmer mit ungerader Zahl seine Besonderheit hatte, und fragte sich bang, was dort wohl auf sie wartete. Es war in sanften Ockertönen gehalten, ähnlich wie ihr Zimmer oben. Zwischen Bett und Spiegel stand ein dreibeiniger Hocker aus dunkel schimmerndem Holz, hüfthoch, die Sitzfläche mit rötlichem Leder bezogen, und an der Wand hing eine dünne Rute neben einem großformatigen Gemälde im barock verschnörkelten Rahmen. Darauf war eine junge Frau zu sehen, die bäuchlings über einem Schemel wie diesem lag, ihr langer Rock war hochgeschlagen und über ihren Rücken gebreitet, nackt war ihr Po. Ängstlich schaute sie hoch zu einem Mann im dunklen Frack, der mit der Linken ihre Taille niederdrückte und in der erhobenen Rechte eine Gerte hielt, bereit zum Schlag. „Die Züchtigung der Unfolgsamen“, lautete der Titel, in schwarzen ornamentalen Buchstaben auf eine sienafarbene spanische Wand im Hintergrund gemalt.
Silvias Begleiter schaute sich beeindruckt um. „Sehr apart. Hat man dich schon mal über diesen Hocker gelegt?“
„Nein.“ Den Zusatz, der ihr auf der Zunge lag, behielt sie für sich. Noch nicht.
„Aber es könnte geschehen?“
Sie nickte.
„Und du fürchtest dich davor?“
Sie nickte erneut.
„Keine Sorge, das ist nicht mein Stil.“ Er ließ sich im Sessel nieder, den es hier wie in jedem anderen der Liebeszimmer gab. „Mein Name ist übrigens Alexander. – Aber leg den Fummel doch ab.“ Sie streifte die Träger von den Achseln, ließ das Gewand zu Boden sinken, musste sich im Kreis drehen und noch ein zweites Mal, zeigte ihm ihren Körper und die Haut mit den blauen und roten Streifen.
Fast ehrfürchtig klang die Stimme des Mannes: „Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht, sprach der gute alte Nietzsche. Erstaunlich, dass es so etwas noch immer gibt.“
Warum sollte es das nicht mehr geben? Weil es dem Zeitgeist widersprach? Als würde das die Triebe interessieren. Eine solche Diskussion anzufangen, ließ sie lieber sein, weise, wie sie manchmal war.
Unverdrossen weidete er die Augen an ihr, als könne er nicht genug von ihrem Anblick bekommen. „Du hast mir im Zug schon ausgesprochen gut gefallen, doch glaubte ich, dass an dich nicht heranzukommen sei, du wirktest verschlossen, richtig abweisend, eine wirklich gute Tarnung. – Weißt du, was ich mir vorstellte, wenn ich dich ansah?“ Nein, das wusste sie nicht. „Ich stellte mir vor, dass du dein Kleid ablegst, ohne ein Wort zu sagen, dass du nackt vor mir stehst, so wie jetzt …“ Ach, dabei hatte er doch so eifrig beschäftigt gewirkt, als habe er nichts als seine Arbeit im Sinn, auch er gut getarnt. „Und ich stellte mir vor, dass du zu mir kommst, dich vor mich kniest, meine Hose öffnest und mir einen bläst.“
Die Fantasien eines Mitreisenden. Wie oft sie wohl schon Ähnliches getan hatte im Kopf eines Betrachters, ohne es bemerkt zu haben? Aber egal, die Gedanken waren frei, sie ließen ihr Opfer unbehelligt, gaben dem Missbrauch keine Gestalt, richteten keinen Schaden an, solange sie nicht Handlung wurden. Diese Gedanken allerdings wurden nun zur Handlung, gedacht, ausgesprochen und verwirklicht, sie behelligten das Opfer, machten den Missbrauch sichtbar, ohne aber Schaden anzurichten, wie sie meinte.
Sie kniete zwischen den Beinen des Mannes nieder, öffnete den Reißverschluss der Hose und nestelte den groß aufgerichteten Penis pflichtbewusst hervor. Ihr Kopf sank hinab, sie beleckte ihn zärtlich, bedeckte ihn mit verheißungsvollen Küssen, sog ihn in den Mund, lutschte ihn innig, als hätte sie ihn vermisst.
„Das ist gut“, seufzte der Mann. „Besser noch als in der Vorstellung.“ (War das möglich? Wann jemals hatte die Wirklichkeit die Fantasie an Wonne übertroffen?) Im nächsten Moment schreckte er auf, da aus seiner Sakkotasche ein melodisches Zirpen erklang. „Nicht ausgerechnet jetzt“, murmelte er und zog ein Handy hervor. Seine freie Hand legte sich auf Silvias Kopf, damit sie nicht von ihm ablasse, ihre Lippen blieben geschlossen, sie liebkoste ihn weiter, während sie den Worten lauschte. „Hallo, Liebling … Ja, es läuft ganz gut, ich kann nicht klagen. Nur wird es leider später als gedacht … Warum? Ach, weißt du, mein Schwanz befindet sich gerade im Mund einer Nutte … Nein, sie beißt nicht, nur keine Sorge, sie macht das sehr schön … Silvia, ein schöner Name, nicht? … Ob es ihr richtiger Name ist? Ich weiß nicht, sie kann jetzt nicht sprechen. Ich frage sie später … Natürlich erzähle ich dir davon, was sonst. Und weißt du was? Sie hat keine Haare zwischen den Beinen. Sehr reizvoll, nicht? … Komm doch einfach mal mit bei Gelegenheit, dann kannst du es selbst angucken … Nein, ich will dich nicht verkaufen, was denkst du denn, aber wir könnten einen interessanten Abend verbringen … Ja, ich komme heute noch. Ich fahre mit dem letzten Zug und bin um dreiundzwanzig Uhr am Bahnhof. Holst du mich ab? … Schön, aber zieh nicht so viel an. … Wieso zu kalt? Es gibt doch eine Heizung im Wagen … Sicher lasse ich noch etwas für dich übrig. Bis dann, ich freue mich auf dich.“
Lächelnd steckte er das Handy weg. „Meine Frau. Sie hat Sehnsucht nach mir.“ An Offenheit schien es dieser Ehe nicht zu mangeln.
Behutsam umfasste seine Hand ihren Schopf, hob ihren Kopf nach oben, hatte offenbar genug von ihrem Mund. Er stand vom Sessel auf und ließ sich von ihr entkleiden. „Du hast ja vermutlich mitgehört: Ich soll dich von Jacqueline fragen, ob Silvia dein richtiger Name oder ein Künstlername ist.“
„Ich heiße so.“ Wohlig schmiegte sich ihr Busen in seine warme Hand.
Der Mann entpuppte sich als außergewöhnlicher Liebhaber mit einfühlsamer Geduld, fast sachlicher Akribie und erstaunlicher Gelenkigkeit. Er nahm sie in verschiedenen Stellungen, von denen sie die wenigsten kannte, mitunter glichen sie akrobatischen Übungen, offenbar betrachtete er Sex als Sportart, die es diszipliniert und mit Geschick anzugehen galt. Doch war es trotz aller turnerischer Anforderung mehr als nur Technik, nämlich auch Genuss. Halb um ihn gewickelt mit verbogenen Gliedern, spürte sie ihn tief in sich und aalte sich verzückt in ihrem Höhepunkt (der dem Kunden aber keinen Preisnachlass bescherte).
Danach, als er erschöpft neben ihr lag, kannte er jeden Winkel ihres Körpers, jeden Zugang, jede ihrer Antworten auf sein Streicheln, seine Liebkosungen, sein Eindringen, er kannte das Zittern ihrer Knospen, die Anschmiegsamkeit ihres Schoßes, ihre erregten Seufzer, ihr aufgewühltes Stöhnen, ihr brünstiges Schluchzen. Sie war keine Fremde mehr für ihn, er kein Fremder mehr für sie, der anonyme „Mann aus dem Zug“ hatte einen eigenen, unverwechselbaren Charakter bekommen, das Gespenst war in die neue Zeit eingetreten und ein Kunde aus Fleisch und Blut geworden, sie musste sich vor ihm nicht mehr schämen. Er zog sich an und legte zwei Hunderteuroscheine auf den Schemel. „Es war schön mit dir. Wenn es sich einrichten lässt, komme ich bald wieder. Und vielleicht bringe ich Jacqueline mit, sie schien nicht abgeneigt.“
„Ich bin immer für Sie da.“ Träge rekelte sie sich auf dem glatten Laken.
„Das ist gut.“ Er verließ sie mit einem fast liebevollen Lächeln, als verabschiede er sich von seiner Geliebten. Bald würde er seine Frau in die Arme schließen, diese ungewöhnlich tolerante Jacqueline. Wie sie wohl aussah und was sie fühlte unter der Fassade der Freizügigkeit? Silvia konnte sich kein Bild von ihr machen, wozu auch. Sie würde ihn sicherlich nicht hierher ins Schloss begleiten, falls er selbst überhaupt noch einmal kam, würde ein Geist bleiben, für kurze Zeit über einen Satelliten hierher ins Zimmer getragen und gleich wieder verweht, Wellen, elektrische Signale, unfassbar, ungreifbar, unwirklich. Wie auch Silvia für sie imaginär blieb, belebt nur durch die Worte ihres Mannes, ihr einziges Bindeglied. Silvia nahm eine Dusche und wandte sich wieder den konkreten Menschen zu, die sie draußen im Foyer mit ganz realen Blicken bedachten …