Читать книгу Silvia - Folge 2 - Jürgen Bruno Greulich - Страница 2
ОглавлениеVor einem kalten Auge
Kein Wecker klingelte am Morgen, keinen Wolfgang und keine Ursula musste Silvia begrüßen, keine Kette klirrte, von keinem herablassenden Blick wurde sie gestreift, der Albtraum war vorbei, ein neuer Traum begann. Dass er besser würde, daran gab es in diesem Moment keinen Zweifel. Schlaftrunken verließ sie das Bett, das für sie allein bestimmt war und aus dem niemand sie verbannen würde, um ihr eine Matratze davor als Schlafplatz zuzuweisen. Sie ging ans hohe Fenster und schaute hinab in den Park, sah das Gittergerüst der laublosen Laube, dahinter die mächtigen kahlen Bäume des englischen Parks. Es war hell draußen, der Himmel grau bedeckt, irgendwo links, wohin sie von hier aus nicht schauen konnte, erstreckte sich der französische Garten zum See und zur Trauerweide, unter der sie manchmal mit den anderen Mädchen gesessen war an heißen Sommertagen. Nun war sie ein zweites Mal hier im Schloss angekommen, dieses Mal aus eigenem Willen und eigener Kraft, wie von einem Magneten angezogen. Es war wie ein Märchen.
Bis spät in die Nacht hatte sie sich gestern nach ihrer Ankunft mit Corinna unterhalten, erst beim Kaffee, später beim roten Wein, hatte von den Ereignissen der vergangenen Monate und des letzten Wochenendes berichtet, hatte ihr Herz keiner „Herrin“, sondern einer Freundin ausgeschüttet. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte ihr jemand zugehört und sie ernst genommen, sich für sie interessiert, einen Menschen in ihr gesehen, nicht eine Funktion. Die Freiheit war gar nicht kalt wie befürchtet, sie schenkte Geborgenheit und Schutz. Dass es keine wirkliche Freiheit war, störte nicht, denn Freiheit war es nicht, das sie suchte, da es sie sowieso nicht gab, für niemanden, außer im Tod. Sie war frei von Wolfgang und Ursula, das genügte, mehr hatte sie nicht gewollt.
Ihr Zimmer war geräumig und hoch, ausgestattet mit einem Kleiderschrank aus hellem Holz, einem runden Tisch mit zwei Polsterstühlen, einem Fernseher und einer kleinen Stereoanlage ohne Subwoofer, dessen Kontrolllicht den Bereitschaftszustand anzeigte, unglaublich, wie schändlich Wolfgang mit ihr umgesprungen war. Die kleine Digitaluhr auf dem Nachttisch zeigte gleich halb zehn; sie machte sich frisch im angrenzenden kleinen Bad mit Dusche und Toilette und kramte aus ihrem Koffer ein schwarzes knielanges Kleid heraus. Gerne hätte sie einen Slip darunter getragen, um mal wieder richtig angezogen zu sein, was ja möglich gewesen wäre, jetzt, da Wolfgangs Regeln nicht mehr galten, doch hatte sie keinen und auch kein Geld, um einen zu besorgen bei einem Einkaufsbummel im kleinen Städtchen. Es würde so gehen müssen, bis sich eine Lösung fand irgendwie.
Zögernd nahm sie den Hörer des blauen Telefons ab, das ebenfalls auf dem Nachttisch stand, und drückte die Eins. Sie solle anrufen, wenn sie so weit sei, hatte die Herrin, nein, Corinna, vor dem Zubettgehen gesagt. Hoffentlich störte sie nicht. Zweimal hörte sie das Freizeichen, dann erklang Corinnas Stimme. „Guten Morgen, Silvia. Hast du gut geschlafen?“
„Ja, danke …“ Beinahe hätte sie es hinzugefügt, das ergebene „meine Herrin“, die diese Frau doch gar nicht mehr war, für sie jedenfalls nicht mehr, aber doch wurde sie noch immer so genannt von ihrem Geist, in den die Ehrfurcht vor ihr tief eingegraben war.
Zwei Minuten später stand Corinna vor ihrer Tür; keine Strenge ging von ihr aus, nichts Ehrfurchtgebietendes, jung sah sie aus in ihrem knielangen roten Kleid und liebevoll war das Lächeln, mit dem sie Silvia einen Schlüssel reichte. „Der ist für den Personaleingang. Damit kommst du jederzeit ins Haus.“ Dann gab sie ihr den weißen Briefumschlag, den sie in der anderen Hand hielt. „Ich nehme mal an, dass du nicht das meiste Geld mitgenommen hast. Hier ist ein bisschen, falls du einkaufen gehen willst oder so.“
„Ja, aber …“
„Kein Aber. Nimm’s einfach. Es ist kein Geschenk, sondern ein Vorschuss, der irgendwann von deinen Einkünften abgezogen wird.“
Von den Einkünften? Der Gedanke daran war nicht ohne Reiz. Und nicht ohne Vorbehalt. Würde sie es wirklich fertigbringen, ihr Geld auf diese Weise zu verdienen, die hier im Haus die einzig mögliche war? Ach, warum nicht? Sie hatte es doch schon gekonnt, drüben im Mädchentrakt mit den fremden Männern, und wäre sie innerlich nicht bereit dazu, hätte ihr Weg sie nicht schnurstracks hierher geführt.
Von diesen Gedanken notdürftig beschwichtigt, ging sie neben Corinna her die Treppe hinunter, um den Mädchen vorgestellt zu werden, jedenfalls denen, die zu dieser frühen Stunde schon beim Frühstück saßen. Unten kamen sie am Foyer vorbei, in dem man einen Staubsauger brummen hörte, und die nächste Tür führte in den Speiseraum. Dieser sah freundlicher aus als der im „Mädchenhaus“. Auf jedem der vier Tische stand eine bauchige Vase mit frischen Rosen, Gerbera und Chrysanthemen, die Stühle hatten blaue Polster und an den weißen Wänden hingen Aquarelle mit unverfänglichen Landschaftsmotiven. Vier junge Frauen saßen an einem Tisch vor dem Fenster, durch das man auf den leeren Platz vor dem Haus schaute, und wie eine Personalchefin stellte Corinna sie vor: Laura war eine hoch aufgeschossene blauäugige Blondine im hochgeschlossenen knielangen flauschigen Kleid, Monika eine rassige Schönheit mit lockigem schwarzem Haar, fast kohlschwarzen Augen und üppigen Formen; Christine war die Kleinste von ihnen, eine braunäugige hübsche Brünette, die einen kurzen Rock und eine weite Bluse trug.
„Und das ist Iris“, sagte Corinna. „Vermutlich kannst du dich noch an sie erinnern.“
Natürlich erinnerte sich Silvia an Iris, die zarte Blüte, die Gefügige, die Introvertierte, deren Gebieter ihr Vater war, ein Bekenntnis, bei dem Corinna seinerzeit sogar die Regeln vergessen hatte. Sie trug eine Jeans und einen dunklen Pullover. Etwas länger war ihr rehbraunes Haar geworden, doch ebenso scheu wie damals schauten die dunklen Augen und einer versunkenen Welt entstammte ihr Lächeln.
Auch sie konnte sich noch erinnern. „Hallo, Silvia. Hat es dich auch hierher verschlagen?“
Hilflos zuckte Silvia mit den Achseln. „Wie’s halt so geht. Und du? Bist du schon lange wieder hier?“
„Ich bin gleich hiergeblieben nach der Zeit im Mädchenhaus, ging gar nicht mehr heim.“
Das konnte Silvia gut verstehen, doch sagte sie lieber mal nichts dazu, um nicht in Wunden zu wühlen, die vermutlich nie richtig heilen würden. Corinnas Beispiel folgend, ging sie zur Anrichte hinüber, auf der es so ziemlich alles gab, was man für ein Frühstück benötigte, und nahm sich eines der duftenden Brötchen, dazu etwas Butter, ein hart gekochtes Ei und eine Tasse Kaffee. Die Mädchen rückten zusammen, damit sich Corinna und Silvia auch noch an den Tisch quetschen konnten, der eigentlich nur für vier gedacht war.
Der Kaffee, so bemerkte Silvia beim ersten Schlückchen, schmeckte ausgezeichnet, stark und aromatisch, besser als der daheim. Obwohl dieses „Daheim“ das ihre ja gar nicht mehr war, fiel ihr ein.
Die kleine Brünette wandte sich an Corinna. „Sollen wir die Fotos gleich heute Vormittag machen oder lieber noch warten?“
Mit dem Aufschneiden ihres Brötchens beschäftigt, zuckte Corinna mit den Achseln. „Das musst du Silvia fragen, nicht mich.“
Vorsichtig stellte Silvia die Tasse ab. „Fotos? Von mir? Was für Fotos?“
Konzentriert klaubte Christine einige Krümel von der Tischdecke auf. „Fotos für die Karte.“
„Für welche Karte?“
„Na ja, für die Karte, die im Foyer ausliegt und dem Gast das Angebot vorstellt.“
Gast? Foyer? Angebot? Verstand Silvia richtig? „Freizügige Fotos?“
Christine nickte. „Ziemlich.“
„Ach.“
Es war Corinna, die das stockende Gespräch nach einem eleganten kleinen Bissen von ihrem Brötchen neu belebte, indem sie erklärte, dass Christine im Nebenjob sozusagen auch als Fotografin des Hauses fungiere, sogar professionell darin ausgebildet sei und die Sache sehr gut mache. Aber natürlich sei es Silvia unbenommen, sich noch einige Tage zu erholen, wenn ihr das lieber sei. Es gebe keinen Grund, sich Stress zu machen.
Und nun? Im Posieren für freizügige Aufnahmen war Silvia ja geübt. Und diese Fotos hier würden wenigstens keiner heimlichen Geliebten vorgezeigt werden, nahm sie mal an. „Von mir aus können wir es gleich machen.“
Also eilte Christine nach dem Frühstück los, um die Kamera zu holen, und auch Corinna zog sich zurück, da sie noch einiges zu erledigen habe, wie sie mit einem bedauernden Lächeln erklärte.
Sinnierend schaute Laura ihr nach. „Kaum zu glauben, welch einen Heidenrespekt ich damals vor ihr hatte, als ich drüben im Mädchenhaus war.“
Ach. Sie war auch eine der Sklavinnen gewesen? Ja, vor eineinhalb Jahren etwa, sagte sie, also lange vor Silvias Zeit. Im Nu waren sie in eine Unterhaltung über die Aufseher verstrickt, die mit einer Ausnahme die Gleichen wie bei Silvia gewesen waren.
Eine Begegnung ehemaliger Sklavinnen erinnere doch sehr an die Zusammenkunft von Kriegsveteranen, sagte kopfschüttelnd die Schwarzhaarige, die einen weiten grauen Trainingsanzug trug. Marmelade tropfte von ihrem Brötchen auf den üppigen Busen und sie versuchte sie mit der Fingerspitze wegzuwischen, was natürlich nicht gelang, sondern sie nur gleichmäßig verteilte. „Mist!“, brummte sie und zuckte dann gleichgültig mit den Achseln. „Was soll’s. Ich muss momentan ja nicht hübsch aussehen.“
Christine kam wieder herein, behängt mit einer Fototasche von den Ausmaßen eines Reisekoffers, und schnell trank Silvia ihre Tasse leer, um ihr zu folgen, wohin auch immer. – Ihr Weg führte sie ins Foyer, das verlassen im trüben Tageslicht schlummerte. Der Staubsauger war verstummt und verschwunden, alles aufgeräumt und sauber, der Raum bereit für neues Leben. Die Säule, an der Veronika ihre Bestrafung erlitten hatte, weckte Erinnerungen an die vergangene Zeit, in der sie kaum hatte glauben können, dass es dieses Foyer wirklich gab. Und noch viel weniger hätte sie für möglich gehalten, jemals hierher zurückzukehren.
Neben der Bar gab es eine Tür, kaum zu entdecken, da von der gleichen samtenen Tapete wie die Wand bedeckt. Sie führte in die Garderobe, einen großen Raum mit hohen Spiegeln, einem Schrank, Schminktischen und Garderobenständern, diese dicht behängt mit kleinen Kleidungsstücken, die wohl niemanden richtig anzogen. Es roch nach Parfüm, das Licht war gelblich warm, die Atmosphäre voller Erwartung, bang und ein bisschen kribbelnd, vielleicht aber brachte Silvia diese Gefühle selbst mit herein. Eine weitere unscheinbare Tür führe zu den angrenzenden Duschen mit den Toiletten und den Bidets, erklärte Christine. Wenn sie mal müsse?
Nein, Silvia musste nicht. Aber fotogerecht geschminkt musste sie werden mit Rouge für den blassen Teint, einem kräftigen Rot für die Lippen und kontrastreichem Lidschatten; zuletzt bekam sie das Gesicht gepudert mit einem weichen großen Pinsel, damit es auf den Fotos nicht glänze. Dann bekam sie von Christine ein kleines zartes Kleidungsstück in die Hand gedrückt und musste die Pantoffeln, die für die Fotos natürlich überhaupt gar nicht infrage kamen, gegen rote hochhackige Schuhe tauschen. Von diesen gab es in einem großen Fach des großen Schrankes eine reiche Auswahl in allen möglichen Farben und Größen, offenbar zur freien Verfügung.
Mit allem Notwendigen ausgestattet, folgte sie Christine in einen Korridor, den einige Wandlampen in Kerzenform gedämpft beleuchteten. Rot waren der Teppichboden und die samtenen Tapeten. Rechts gab es zwei Türen, die eine führte ins Foyer und die andere, die geradeaus führte, war stets abgeschlossen, da dieser Bereich vom Rest des Hauses streng abgeschieden blieb, so erklärte Christine. Sie gingen also nach links. Gegenüber der Garderobe befanden sich die Herrentoiletten und nach diesen kam eine Tür, an der eine verschnörkelte goldene Drei angebracht war wie im Hotel. Ihr schräg gegenüber trugen zwei andere Türen die Eins und die Zwei.
„Das sind die Liebeszimmer“, sagte Christine. „Hier ist man dann mit dem Gast alleine.“
Hier also geschah es … Scheu schweifte Silvias Blick umher und kaum konnte sie sich vorstellen, jemals einen dieser geheimnisvollen Räume betreten zu werden.
Sie folgten dem Knick des Korridors nach rechts und hier führten noch weitere Türen in weitere Liebeszimmer, von denen es acht insgesamt gab, wie Silvia erfuhr. Ohne die beiden Zimmer unten. Gleich nach der Biegung führte eine Wendeltreppe hinab, aber nein, nicht zum Mädchenraum, wie sie für einen klitzekleinen Moment tatsächlich gedacht hatte, denn dieser befand sich doch im anderen Teil des Gebäudes, streng abgeschottet. Seltsam, der Gedanke, dass es hier im Haus die eingeschüchterten und bedingungslos gehorsamen Mädchen gab, die in atemloser Erregung gehalten wurden. Sie waren um diese Zeit wohl mit dem Abwasch beschäftigt, gespickt mit dem Poformer, und eine von ihnen trocknete in diesem Moment vielleicht die Tasse ab, aus der sie vorhin getrunken hatte.
Auch der Korridor unten war in Rot gehalten und schummrig beleuchtet, doch hatten die Türen keine Nummern. Christine öffnete gleich die erste von ihnen auf der linken Seite und sie betraten einen düsteren Raum. Fenster hatte er keine, an der Decke eingelassene Lampen verbreiteten gelbes Licht, schwarz war der dicke Teppichboden. Auf einem kniehohen, halbrund vortretenden Podium standen zwei schlanke metallene Säulen, die bis zur Decke ragten, etwa zwei Meter voneinander entfernt, und an der Wand dahinter hing unheildrohend eine Peitsche mit langem Griff und einem einzigen langen Riemen. Einrichtung gab es fast keine, nur einen steifen Stuhl ohne Polster, einen bequemen Ledersessel und in einer Ecke eine schwarze Kommode mit mehreren Schubladen.
Christines Geste war die eines Reiseführers, der eine Sehenswürdigkeit präsentiert. „Das ist das Chambre O. Benannt nach einem Roman.“
Welcher Roman gemeint war, musste Silvia nicht fragen. Sie solle sich doch bitte fertig machen, sagte Christine und holte aus ihrem Koffer eine Kamera mit dickem Objektiv hervor. Fertig machen bedeutete das Kleid ablegen. Silvia tat es zaudernd, hakte dann den BH vorne auf und hängte ihn über die Stuhllehne. Slip gab es keinen, dafür auf der Haut ihre Überbleibsel vom Wochenende, die blau unterlaufenen Striemen, die Christine taktvoll ignorierte.
Silvia musste, durfte das mitgebrachte rote Negligé überstreifen, das nicht allzu viel von ihr verbarg, eigentlich gar nichts. Wie von Christine gewünscht, stellte sie sich aufs Podium zwischen die Säulen, wobei sie sehr aufpasste, sie nicht zu berühren, als stünden sie unter Strom. Christine betätigte einen Schalter und Silvia wurde überflutet von hellem weißem Licht, das vier Scheinwerfer von der Decke auf sie herabwarfen. Kalt starrte das Auge der Kamera sie an, unbeteiligt wie ein gefühlloses fremdes Wesen, metallen klickte der Verschluss. Zuerst stand sie nur so da, hoffte, dass es bald vorüber sei, dann holte Christine den Stuhl aufs Podest und die Posen wurden gewagter, nur zögernd nahm Silvia sie ein, setzte sich mit geöffneten Beinen darauf, dann der Lehne zugekehrt mit den Brüsten aufs Querholz gestützt, dann lag sie bäuchlings auf der Sitzfläche und reckte den Hintern empor.
Christine ließ die Kamera sinken und Silvia erhob sich erleichtert. Es hatte ja fast so lange gedauert wie eine Fotosession bei Wolfgang. Aufmunternd nickte Christine ihr zu. „War nicht schlecht für den Anfang.“
Was? Für den Anfang? Sie waren gar nicht fertig?
Als könne sie nichts dafür, zuckte Christine mit den Achseln, und erweicht von einem bittenden Blick, nahm Silvia die nächsten Posen ein. Sie wurde nun an einer der Säulen fotografiert, die man durchaus berühren konnte, da sie doch nicht unter Strom standen. Man konnte die Beine um sie schlingen, sie umarmen, die Wange an sie schmiegen, konnte sogar die Zunge übers kühle Metall gleiten lassen.
Es dauerte nicht lange, bis das bisschen Negligé abgestreift war und sie mit gar nichts an posierte. Rücklings und bäuchlings lag sie auf dem Boden, stand an der Wand, den Blick auf die Peitsche gerichtet, hielt sich mit beiden Händen an einer herabbaumelnden Kette fest, wurde immer weiter angetrieben von Christines Anweisungen. Diese dirigierte die Haltung des Kopfes, die Richtung des Blicks, die Stellung der Arme und Beine, sie forderte, lockte, korrigierte und schmeichelte, brach das Eis, nahm Silvia die Scheu, ließ sie den Zweck der Aufnahmen vergessen, ihren Gefühlen Ausdruck geben, sich im Hier und Jetzt verlieren. Aus dem kalten Auge der Kamera wurde ihr eigener, anteilnehmender, warmer, hungriger Blick. Immer wieder öffnete und schloss sich klickend die Blende, wurde die Kamera zum lebendigen Wesen, das Silvias lasziven, obszönen, berückenden Anblick begierig in sich fraß.
Als sie satt geworden war und das Klicken erstarb, erblühte ein Lächeln in Christines Miene. „Das war’s, die Aufnahmen müssten gut geworden sein.“ Wie aus einem Traum erwacht, legte Silvia den BH wieder um, während Christine die Kamera im Koffer verstaute. „Corinna und ich wählen die geeignetsten Fotos aus, die dann entwickelt werden. Sobald du fürs Foyer bereit bist, kannst du dich in der Karte bewundern.“ Mit einem Fingerschnippen am Schalter verlosch das Flutlicht und der Raum versank wieder im Zwielicht, das ihm angemessen war.
Silvia streifte das Kleid über und zog mit halb verdrehten Armen den Reißverschluss am Rücken hoch. „Kann ich beim Auswählen der Fotos dabei sein?“
Christine schüttelte den Kopf. „Das wäre nicht gut. Es würde den objektiven Blick stören …“
Der objektive Blick, ja, ja … Vermutlich suchte er nach den gewagtesten Fotos, während sie mit ihrem subjektiven Blick die schmeichelhafteren, weil weniger verfänglichen Bilder bevorzugt hätte. – Zurückgekehrt in die Garderobe, warf Silvia das Negligé in den Bastkorb, in dem jedes Wäschestück gleich nach Gebrauch zu landen hatte, egal, wie kurz man es angehabt hatte. „Die Waschmaschine hier dürfte gut ausgelastet sein.“
Christine lächelte entlastet. „Zum Glück gibt es hier Angestellte, die sich um solche Sachen kümmern.“
O ja. Von Hausarbeit befreit zu sein, das hielt auch Silvia für einen Segen …
***
Um dreizehn Uhr gab es einen Mittagstisch mit Salaten und kalten Speisen, um halb sieben das Abendessen. Der Rhythmus war also noch so, wie Silvia ihn kannte. Kurz nach eins ging sie in den Speiseraum hinunter und traf dort Laura und die Schwarzhaarige, die den Trainingsanzug von heute Morgen gegen ein langes weites Kleid getauscht hatte. Wie hieß sie noch mal?
Sie schien Silvia ihre Frage anzusehen und lächelte nachsichtig. „Monika. – Ich kann mir auch keine Namen merken.“
Ach ja. Es war Silvia doch auf der Zunge gelegen. Sie erwiderte das nachsichtige Lächeln dankbar. Gut, dass nicht alles ein Problem war …
Aufgetragen wurde von den beiden Jungs für alles, die Silvia ebenfalls noch kannte, viel hatte sich im Haus offenbar nicht geändert, allerdings waren ja auch keine Jahrzehnte seit ihrem Aufenthalt verstrichen. Auch der Koch war vermutlich noch der Gleiche, jedenfalls schmeckte das Essen noch genauso köstlich wie in der Erinnerung.
Auch Corinna erschien zum Mittagsmahl, noch ins rote Kleid des Vormittags gehüllt und mit hochgestecktem Haar, ihren Hals und die Arme schmückten silberne Reife, besetzt mit zierlichen Türkisen. Hübsch sah sie aus, jugendlich und reizvoll, man hätte auch sie zur Arbeit ins Foyer schicken können … Da man aber so über eine Chefin vermutlich nicht denken durfte, revidierte Silvia diesen Gedanken gleich wieder …
Um vierzehn Uhr, so erfuhr Silvia auf ihre Frage, öffnete das Haus die Pforten für seine Gäste, und offen blieb es, bis der Letzte wieder gegangen war, was sich bis fünf Uhr morgens hinziehen konnte oder noch länger. Meistens aber sei um zwei oder drei Uhr in der Nacht Feierabend.
„Und das jeden Tag?“
Entsetzt hob Monika die Hände. „Gott behüte! Da wäre man ja bald fix und fertig.“
Auch Laura, die ebenfalls wieder mit am Tisch saß und grade ein Stückchen Schafskäse mit der Gabel aufspießte, verdrehte die Augen. „Das würde noch fehlen.“
Corinna, die als Arbeitgeberin eigentlich nichts als die Optimierung des Ertrags vor Augen hätte haben müssen, lächelte amüsiert zu Silvia herüber. „Wie du hörst, kann man den Mädchen keinen täglichen Dienst zumuten. Die Klagen wären nicht auszuhalten. Aber wahrscheinlich würden die Gäste auch bald die Lust an den armen abgearbeiteten Dingern verlieren. – Also ist es anders geregelt: Jede hat drei Tage in der Woche, an denen sie fest eingeteilt ist und von vierzehn Uhr bis zum Ende da sein muss. An den anderen Tagen kann sie es halten, wie sie will, kommt entweder gar nicht oder später oder geht früher, ganz wie es ihr in den Kram passt. Es sind jeden Tag vier Mädchen eingeteilt, das ist die Mindestbesetzung im Foyer.“
Ein blaues Auto bog draußen von der Straße ein, doch fuhr es nicht in den Hof, sondern verschwand hinter dem Turm, der den Seitenflügel gegenüber dem Mädchentrakt abschloss.
„Das ist Annemarie“, sagte Laura, legte Messer und Gabel auf den Teller und stand auf. „Ich gehe mal, bereite mich zusammen mit ihr vor, dann habe ich wenigstens Gesellschaft.“ Sie verließ den Raum und draußen kam ein weißes Auto durch die Einfahrt, nahm den Weg des blauen.
„Oh, Danielle ist heute ja richtig früh dran für ihre Verhältnisse“, meinte Corinna verwundert.
Da kamen sie also, die Mädchen, um mit der Arbeit anzufangen. Ob es ihnen schwerfiel? Laura hatte diesen Eindruck nicht gemacht, hatte eher zufrieden gewirkt und mit den Dingen einverstanden. Nachdenklich stocherte Silvia im Geflügelsalat, nahm einen Bissen, hob den Blick und schaute in Corinnas dunkle Augen. „Könnten Sie für mich auch drei Tage aussuchen?“
Corinna wischte mit einem Stück Baguette die Soße vom Teller. „Sie sind bereits festgelegt. Aber bist du denn schon so weit?“
Das hätte Silvia selbst gerne gewusst. Neugierig aber war sie auf jeden Fall. Na ja, und reizvoll war es auch, dieses geheimnisumwitterte Foyer. Außerdem würde das Leben auf Kosten des Hauses wohl nicht lange funktionieren. Sie seufzte schwer. „Irgendwann muss ich ja mal anfangen.“
Sinnierend brach Corinna ein winziges Stück vom Baguette ab. „Es sind der Donnerstag, der Freitag und der Sonntag.“
Ach. Das also waren die Tage, an denen Silvia in Zukunft eine Entschuldigung haben würde, sich auf die Pflicht berufen konnte, unterworfen dem Zwang des Hauses, dem tröstlichen, der keine Wahl ließ, ihr die Last der Entscheidung nahm. Dienstag war heute. Übermorgen würde es so weit sein.
Corinna hatte keine Skrupel, nach der klaren Ansage ein bisschen Konfusion in Silvia zu schüren: „Du kannst natürlich auch heute schon anfangen oder morgen, falls du möchtest. Es liegt an dir.“ Mit dem Gemurmel, dass sie noch einiges zu tun habe, legte sie ihre Serviette auf den Teller, trug ihn zum Servierwagen hinüber und verließ den Raum mit einem freundlichen Winken.
Lächelnd schaute Monika ihr nach. „Ist eigentlich ein angenehmes Leben hier. Ich kann jetzt nämlich ein Nickerchen machen.“
Ein Mittagsschläfchen? Das hielt Silvia für eine gute Idee …