Читать книгу Silvia - Folge 2 - Jürgen Bruno Greulich - Страница 3
ОглавлениеDer Preis des Erfolges
Es war stockdunkel, als Silvia aufwachte. Ihre Hand tastete über den Nachttisch auf der Suche nach der Lampe, fand sie, ein bisschen Licht flammte auf. Es war kurz vor achtzehn Uhr. Aus dem kleinen Mittagsschläfchen war ein ausgewachsener Schlaf geworden, fast hätte man meinen können, dass ihr dieses schreckensreiche Wochenende noch immer in den Knochen und vor allem wohl in der Seele stecke. Sie quälte sich wie gerädert aus dem Bett, knipste die Deckenleuchte an, schüttete im Bad kaltes Wasser ins Gesicht, wurde etwas frischer und etwas wacher. Aber war das ein Vorteil? Was nun anfangen mit der Zeit?
Sie schaltete den Fernseher ein. Er war ans Kabel angeschlossen oder an eine Satellitenantenne, es gab fünfundzwanzig Programme. Was aber nichts nützte. Zweimal zappte sie von vorn bis hinten durch und wieder zurück, dann schaltete sie ihn aus. Was da an Unterhaltung geboten wurde, unterhielt sie nicht. Schaudernd blickte sie in den Abend, der noch gar nicht richtig begonnen hatte, wie in einen endlos langen Schlund, eine zähe Stunde würde sich an die nächste reihen ohne Sinn. So hatte sie sich ihr neues Leben nicht vorgestellt, nicht so einsam, nicht so deprimierend.
Vielleicht bot der Speiseraum Rettung. Punkt halb sieben ging sie hinunter, aber niemand war da. Gähnende Leere, keine Gesellschaft. Sie setzte sich an den Tisch am Fenster, schaute hinaus. Fünf Wagen standen im Hof, schwere Limousinen, die geduldig auf ihre Fahrer warteten. Wie lange ein Gast wohl blieb, eine Viertelstunde, eine halbe oder länger? Einer der beiden Jungs für alles schob einen Servierwagen herein, der Größere der beiden, er sah noch genauso aus wie seinerzeit, hatte eine halbe Tube Gel im Haar und trug die bekannte Kluft, eine enge schwarze lederne Hose und eine Lederweste auf der nackten Haut. Entweder erkannte er Silvia nicht mehr oder ließ sich das Erkennen nicht anmerken, jedenfalls setzte er drei abgedeckte Assietten von seinem Wagen auf zwei Warmhalteplatten, ohne eine Miene zu verziehen. Beim Hinauseilen aber sandte er dann doch den Anflug eines Lächelns zu ihr herüber, das sie dankbar erwiderte, hungernd anscheinend nach jeder Regung von Freundlichkeit, als hätten Wolfgang und Ursula eine seelische Wüste in ihr hinterlassen.
Sie gab ein bisschen vom gedünsteten Gemüse, etwas Gulasch und einen der selbst gemachten Knödel auf einen Teller und setzte sich wieder an den Tisch. Unter welchen Umständen das Essen wohl zubereitet worden war, ob sich der Koch zwischendurch eines der Mädchen genommen hatte? Wirklich erstaunlich, dass ihr dieses Schloss hier mit seinen höchst sonderbaren Gebräuchen viel menschlicher und wärmer erschien als das vermeintliche Zuhause, von dem sie nun endlich geflohen war, was sie noch immer kaum glauben konnte. Corinna war vermutlich damit beschäftigt, die dildogespickten Sklavinnen mit ihrem Anblick zu erschrecken und vielleicht sorgte sie grade in diesem Moment dafür, dass eine von ihnen am Tisch sitzend eine Stärkung vom Aufseher erhielt. Leise musste sie lächeln bei dieser Erinnerung …
Draußen fuhr eine der Limousinen vom Hof und im nächsten Moment rollte ein anderer Wagen herein, der noch größer und protziger war. Er wurde auf dem frei gewordenen Platz geparkt und ein dicklicher Mann im dunklen Anzug stieg aus, reckte sich, als habe er eine lange Fahrt gehabt, und watschelte zielstrebig zum Eingang hin, offenbar kannte er sich hier aus.
Eine Frau, ein Mädchen betrat den Raum, fast hätte Silvia nicht geglaubt, hier überhaupt noch jemand zu sehen. Sie war in einen schwarzen langen Umhang gehüllt, hatte ein volles, sinnliches Gesicht, braune große Augen und schulterlanges rötlich braunes Haar. Mit einem Lächeln kam sie an den Tisch. „Hallo. Du bist bestimmt Silvia?“
Ach, anscheinend, sprach sich die Ankunft einer Neuen schnell herum. Die Frau, das Mädchen, die sich mit Annemarie vorstellte, holte sich etwas zu essen und setzte sich an Silvias Tisch, aß ein bisschen, aber mit nur wenig Appetit.
„Es ist heute jede Menge los. Man könnte meinen, es sei Vollmond.“ Wie um ihr recht zu geben, fuhr das nächste Auto auf den Hof und beider Blicke folgten durchs Fenster hindurch dem Mann im grauen Anzug zum Eingang hin. „Na ja, es ergänzt sich recht gut.“
„Was denn?“
„Es ist nicht vorteilhaft, bei dem Job viel zu essen. Und da heute auch nicht viel Zeit dafür bleibt, ergänzt es sich eben gut. Und meistens bekommen wir ja auch was von den Kunden ab.“ Sie blieb nur kurz, brachte den Teller zum Servierwagen und ging mit einem müden Winken wieder ins Foyer hinüber.
Dieser Platz am Fenster war wie Fernsehen. Ein Mann kam aus dem Haus, schlenderte zum Wagen, streckte sich gähnend und stieg ein. Wie er sich wohl fühlte, jetzt danach, ob es ihm gutgetan hatte oder ob er vielleicht das viele ausgegebene Geld bereute, für das er nicht mehr bekam als ein flüchtiges Glück, das so schnell verweht war wie ein Blatt im Wind? Komisch, diese Männer, und tatsächlich nicht zu ergründen. Doch konnte man offenbar ganz gut von ihnen leben, vorausgesetzt wohl, man hing nicht solchen Gedanken nach, die alles nur unnötig kompliziert machten …
Laura kam herein, auch sie trug einen schwarzen Umhang und nahm wie Annemarie nur wenig auf den Teller. Sie wirkte ein bisschen abwesend, als befänden sich ihre Gedanken noch irgendwo anders, und setzte sich ebenfalls an Silvias Tisch, was dieser das angenehme Gefühl gab, irgendwie schon dazuzugehören zu den Mädchen des Hauses. Auf Lauras Frage, was sie am Nachmittag gemacht habe, gestand Silvia, ihn einfach verschlafen zu haben.
Laura lächelte verständnisvoll. „Es gab noch keine, die nach einer Fotosession mit Christine nicht völlig erledigt war.“
Corinna kam herein in ihrem roten Kleid. Sie nahm sich etwas auf den Teller, setzte sich zu ihnen und schenkte Silvia ein liebevolles, Laura ein besorgtes Lächeln. „Es ist viel los, nicht wahr?“
Laura nickt. „Man könnte meinen, es sei Samstagabend.“
„Ja. Ich habe schon nach Monika gesucht, sie aber nicht gefunden. Anscheinend ist sie außer Haus. Dann habe ich bei Helen angerufen, doch die hat keine Zeit. Sonja ist in die Alpen gefahren und Irene büffelt für ihre Magisterarbeit … Nichts zu machen. Aber vielleicht taucht ja noch die eine oder andere auf im Laufe des Abends.“
„Ja, hoffen wir mal. Wenn nicht, müssen wir es halt irgendwie allein schaffen.“
In gewisser Weise schien es hier zuzugehen wie im richtigen Leben. Laura hatte ihren Teller leer gegessen, brachte ihn zum Servierwagen und ging wieder an das, was sie alle hier ihre Arbeit nannten.
Bekümmert schaute Corinna ihr nach. „Es ist unberechenbar. Da kommen an eigentlich ruhigen Abenden plötzlich viele Gäste und dann wieder ist es genau umgekehrt. – Schade, dass Iris in solchen Fällen nicht einspringen kann.“
„Wieso kann sie nicht?“
„Es ist so vereinbart. Sie ist immer im Foyer, erledigt alles Mögliche, aber ein Mann kann sie nicht haben. Sie hat genug durchgemacht.“ Ratlos zuckte Corinna mit den Achseln. „Was sollte ich tun? Ich konnte sie doch nicht zu ihrem Vater zurückschicken. Er hat angefangen sie zu missbrauchen, als sie noch ein kleines Kind war, und erzog sie systematisch zu seiner Sklavin, peitschte sie beim geringsten Verstoß gegen seine Gesetze.“
„Und ihre Mutter, konnte sie ihr nicht helfen?“
„Ihre Mutter war zu schwach, wurde auch von ihm unterdrückt, starb dann vor zwei Jahren, und Iris wagte mit niemandem über ihr Schicksal zu reden, von der Angst zum Schweigen gebracht. Hier im Schloss sprach sie zum ersten Mal darüber, und das wohl nur, weil sie sich vor mir ebenso fürchtete wie vor ihm.“
„Versuchte ihr Vater nicht, sie zurückzubekommen?“
„Doch, natürlich. Aber was soll er tun? Ins Haus kommt niemand, der nicht erwünscht ist, es ist gut abgeschirmt. Und zur Polizei kann er natürlich nicht gehen. Da würde er sofort im Gefängnis landen. Iris ist unerreichbar für ihn.“ Sie schaute durchs Fenster zum Wagen, der in den Hof einbog und vor dem Mädchentrakt parkte. „Na ja, immerhin sind die Einnahmen gut. Ich sollte mich mal um die Buchhaltung kümmern.“ Sie stand auf, nahm den Teller mit dem Besteck in eine Hand und drehte sich noch einmal zu Silvia um. „Weißt du eigentlich vom Vorratsraum nebenan? Dort gibt es Getränke. Nimm dir, was du brauchst. Einen schönen Abend noch, Silvia … es ist schön, dass du da bist.“ Sie stellte den Teller zu den anderen auf den Wagen, wie es sich gehörte, und ließ ein liebevolles Lächeln zurück.
Da saß Silvia wieder so alleine wie zuvor. Das Programm des Fensters war so spannend auch nicht. Was sollte sie noch hier? Im Vorratsraum nebenan gab es tatsächlich jede Menge Getränke, vom Mineralwasser bis zum Whisky. Sie nahm eine Flasche Wasser, eine Flasche Bordeaux und zwei Gläser mit nach oben und setzte sich vor den Fernseher. Was Wolfgang jetzt wohl tat, ob er ebenfalls vor dem Fernseher saß, sich vielleicht die gleichen Nachrichten wie sie anguckte? Oder befand sich Ursula bei ihm, um mit ihm zusammen den Verlust der Sklavin zu beklagen? Ob die beiden wussten, wohin sie geflüchtet war? Es würde nicht allzu schwer zu erraten sein. Oder glaubte Wolfgang nicht, dass sie tatsächlich Zuflucht in einem Bordell suchen würde? – Ja, in einem Bordell! Wie komisch das klang. Aber es war so. Dort unten im Foyer prostituierten sich die Mädchen, die ein bisschen ihre Freundinnen geworden waren, gingen mit den fremden Männern in die geheimnisvollen Liebeszimmer, erledigten ihren Job, der mehr als nur irgendeine belanglose Arbeit war. – Und sie saß hier oben und wusste nichts mit sich anzufangen.
Sie trank einen Schluck vom samtenen Wein, stellte das Glas weg und schaltete den Fernseher aus, erhob sich ohne weitere Überlegung, wie ferngesteuert, ging ins Bad, stellte sich unter die Dusche und frischte das Make-up auf. Die Finger- und Fußnägel waren rot lackiert, frisch noch und makellos, sie mussten nicht nachgebessert werden. Sie wollte das Kleid wieder anziehen. – Aber nein! Das ging nicht. Keines der Mädchen hatte ein Kleid angehabt damals bei Veronikas Bestrafung. So etwas trug man dort im Foyer anscheinend nicht.
Sie durchwühlte ihren Koffer und fand etwas, das ihr geeignet schien: ein beigefarbenes dünnes Hemdchen, das schlicht gehalten war, von keinen Rüschen geziert, nur am Busen mit durchbrochener Spitze besetzt. Es war dünn, ein kühler Hauch, geschmeidig glatt, wie Wasser fließend, reichte bis zu den Knien, war an beiden Seiten bis zur Taille hoch geschlitzt, bedeckte nur knapp die Spitzen der Brüste. Ärmel hatte es keine, nur dünne Träger, den Rücken verhüllte es bis hoch zum Schulterblatt, verbarg die Striemen. Ja, das müsste gehen. Schuhe noch! Zwei Paar hatte sie mitgenommen. Sie schlüpfte in die weißen, die etwas höhere Absätze hatten.
Sie holte tief Luft. Und öffnete zaghaft die Tür, fühlte sich, als würde sie Verbotenes tun. Niemand war draußen, verlassen lag der Flur vor ihr. Aufgeregt pochte ihr Herz und vorsichtig, als seien die Stufen mit Glatteis überzogen, ging sie die Treppe hinunter. Auch unten begegnete ihr niemand, kein Laut war zu hören. Da war die Tür zum Foyer!
Sie nahm all ihren Mut zusammen, drückte die Klinke herab. Und wenn die Mädchen doch Kleider anhatten? Dann war sie bis auf die Knochen blamiert. Nah war sie dran, still und leise wieder davonzuschleichen. Und dann? Oben sitzen? Sich langweilen? Und vielleicht nie wieder den Mut finden für das, was doch getan werden musste?
Sie trat ein. Auf einem Sofa saß Annemarie, in ein schwarzes Negligé gehüllt und plaudernd mit einem Mann. Gut. Zu wenig hatte Silvia jedenfalls nicht an. Wenigstens darum musste sie sich keine Sorgen machen. Mehr als Annemarie sah sie nicht, hielt den Blick starr geradeaus gerichtet, ging zielstrebig zur Theke, die ihr wie die Rettung erschien, ließ sich auf einem Barhocker nieder. Leise Jazzmusik klang aus den Lautsprechern an der Decke, ein klagendes Saxofon und ein kühles Klavier, untermalt von einem figurenreichen Bass, es herrschte Nachtclubatmosphäre mit gedämpften Stimmen und knisternden Träumen.
Der Barmann kam zu ihr her, ein großer, schlanker Mann, nicht mehr der Jüngste, sicherlich an die sechzig. Sein volles weißgraues Haar war nach hinten gekämmt, sein faltiges Gesicht strahlte Sicherheit und Ruhe aus. Er trug ein weißes Sakko, ein dunkelblaues Hemd mit weißem schmalem Schlips und eine schwarze Hose, wirkte seriös und doch auch nicht, hätte ebenso gut Schiffssteward sein können wie Gymnasiallehrer oder auch Zuhälter, sie wurde nicht aus ihm schlau.
Warm und leise klang seine Stimme. „Hallo, Silvia, willkommen bei uns. Magst du etwas trinken?“
Auch er wusste also schon über sie Bescheid. Sie erwiderte sein Lächeln, so gut es ging. „Hallo. Wenn Sie mir einen Bourbon geben würden, mit Eis?“
Er nahm eine Flasche vom gläsernen Regal, schenkte goldene Flüssigkeit in ein bauchiges Glas in Form einer Tulpenblüte, gab Eiswürfel hinein und schob es ihr lächelnd zu. „Wir reden uns hier alle mit Du an. Ich heiße Immanuel.“ Ganz eindeutig war hier einiges anders als drüben im Mädchenhaus.
Sie wagte einen ersten scheuen Blick in die Runde. Fünf Gäste befanden sich im Foyer, einer kam zur Theke und nahm zwei Hocker von ihr entfernt Platz, ein stämmiger Mann mit Stiernacken und kurzem borstigem Haar, alles andere als ihr Typ, sie tat so, als bemerke sie ihn nicht. Etwas entfernt von Annemarie stand ein dunkelhäutiges Mädchen, eine Mulattin mit langem dunkelbraunem Haar, großen braunen Augen, ebenmäßigen stolzen Zügen und vollen, rot geschminkten Lippen. Auch sie hatte ein schwarzes durchsichtiges Hemdchen an, sonst nichts, und plauderte mit zwei Gästen. Christine war nicht zu entdecken, vielleicht war sie mit einem Gast in einem der Zimmer. Aber Laura war da. Sie flüsterte ihrem kahlköpfigem Begleiter etwas ins Ohr und kam zu Silvia herüber. Ihr Negligé war rot wie Wein, ihre helle Haut schimmerte hindurch, man sah die kleinen runden Brüste und den hellen Flaum des Schoßes.
Erfreut und auch verwundert lächelte sie Silvia an. „Schön, dass du gekommen bist. Wir können Entlastung brauchen.“
Immanuel stellte ein Glas Rotwein vor dem Stämmigen auf die Theke und dieser ließ den Blick forschend von Silvia zu Laura schweifen. „Ist sie neu hier?“
„Es ist ihr erster Abend.“
Ein breites Grinsen verunstaltete sein Gesicht. „Ach, schau mal einer an, eine Debütantin. – Sie ist wohl noch ein bisschen schüchtern, tut so, als würde sie mich nicht sehen.“
Es fiel Silvia schwer, ihre Hand zurückzuhalten, die sich unter seinem ungenierten Blick schützend vor den Busen legen wollte.
Lächelnd zündete er eine Zigarette an. „Aber zugeritten bist du schon?“
Was? Ein solches Vokabular hatte ja nicht einmal Wolfgang benutzt. Sie griff nach dem Glas und nahm einen tröstlichen Schluck, schaute ihn an, den stiernackigen Mann, und fand endlich eine Antwort. „Man gab sich alle Mühe.“
Er grinste amüsiert. „Diese Mühe gab man sich bestimmt gerne.“ Er rutschte vom Hocker, kam zu ihr her, baute sich dicht vor ihr auf, stämmig, gedrungen, ein nicht wegzurollender Fels. „Lass mal deine Titten sehen!“
War das sein Ernst? Genügte ihm nicht der tiefe Einblick, den das Dekolleté ihm bot? Hilfesuchend huschte ihr Blick zu Laura, diese aber nickte ihr aufmunternd zu, als sei ein solches Ansinnen nicht ungewöhnlich. Zaghaft griff Silvias Hand nach dem linken Träger, sachte schob sie ihn über die Achsel und mit den Fingerspitzen zupfte sie den Stoff nach unten, entblößte die braune Knospe. Scheu schaute sie um sich. Ob sie von allen anderen im Raum auch angestarrt wurde? Aber nein, so spektakulär war es nicht. Nur die beiden Männer bei der Mulattin lugten neugierig herüber. Immanuel schaute dezent in eine andere Richtung und auch Iris, die in diesem Augenblick das Foyer betrat und zur Bar kam, tat so, als würde sie nichts bemerken. Sie trug ein knöchellanges weißes Gewand, das hochgeschlossen war und dicht gewebt, das einzige weibliche Kleidungsstück hier, das die Trägerin nicht halbnackt sein ließ. Sie hielt ein rundes Tablett mit einem leeren Glas darauf in Händen, reichte es Immanuel und nickte ihm zu, als wolle sie ihm mitteilen, dass alles in Ordnung sei. Derweil zeigte Silvia auch ihre rechte Brust vor mit angehaltenem Atem.
Der Stiernackige war zufrieden. „Sehr schön. Ich werde dich vormerken für ein andermal.“ Er zwinkerte ihr zu und ging zu Annemarie hinüber, die inzwischen alleine auf dem Sofa saß, ließ sich neben ihr nieder und flüsterte ihr einige Worte ins Ohr, woraufhin sie die Schenkel öffnete und ihren haarlosen Schoß entblößte.
Silvia schob den Träger wieder hoch und sinnierend äugte Laura zu den beiden hinüber. „Annemarie ist sein Lieblingsmädchen.“
„Die Ärmste. – Oder sind die anderen Gäste auch so?“
„Gott behüte. Nein, er ist schon ein besonderes Exemplar. Aber du bist ja ganz gut mit ihm fertig geworden.“
„Eher wohl er mit mir.“
Der Kahlköpfige, den Laura hatte stehenlassen, trat hinter sie. „Muss ich dir denn jetzt hinterherlaufen?“ Sein Lächeln verriet, dass er sein Schicksal mit Fassung trug. „Gibt es noch eine, um die du dich kümmern musst, oder hast du jetzt Zeit für mich?“
Leicht lehnte sie sich an seine Brust. „Wie könnte ich jemals keine Zeit für Sie haben?“
Er schob einige Hunderteuroscheine über den Tresen und dankend nahm Immanuel sie entgegen. „Zimmer drei“, raunte er Laura zu, legte das Geld in eine stählerne Kasse und schrieb eine kurze Notiz in eine vorgedruckte Liste. Hand in Hand ging Laura mit ihrem Kunden derweil zur dunklen schweren Tür, die zu den Liebeszimmern führte, kurz schweifte ihr Blick noch einmal zu Silvia und ermutigend lächelte sie ihr zu. Auch der Stämmige bezahlte bei Immanuel, mit Annemarie im Schlepptau. Ihnen wurde Zimmer eins zugewiesen. Eine Bemerkung von ihm blieb Silvia nicht erspart: „Nur keine Sorge, Mädchen, du wirst nicht lange alleine bleiben.“ Annemarie warf ihr einen Blick zu, als wolle sie sich für ihn entschuldigen, und sie verließen den Raum.
So herablassend seine Worte waren, so prophetisch waren sie auch. Einer der beiden Männer kam von der Mulattin herüber, näherte sich Silvia zögernd. Er war etwa Mitte dreißig, etwas größer als sie, hager, bekleidet mit einer dunklen Hose, einem weißen Hemd mit bunt gemusterter Krawatte und einem gewöhnungsbedürftigen Sakko in Altrosa. Schüchtern schauten seine grünlich braunen Augen sie aus tiefen Höhlen an und mit dem Versuch eines Lächelns setzte er sich auf den Hocker neben ihr. Sein Ellbogen stieß gegen das Glas, es wankte bedenklich, blieb aber stehen und nichts schwappte über. „Oh Verzeihung.“
„Nichts passiert.“ Irgendwie hatte sie sich eine solche Annäherung anders vorgestellt.
Seine Hand strich über das dunkle kurze Haar, dann über seine aufgeworfenen Lippen. „Sind Sie frei?“
Sollte das nun wirklich ihr erster Kunde sein? „Ja, ich bin frei.“
„Würden Sie mit mir auf ein Zimmer gehen?“ Seine Frage klang so vorsichtig, als müsse er mit einer Absage rechnen.
Sie nickte und sah aus den Augenwinkeln heraus, dass Immanuel ein amüsiertes Lächeln nur notdürftig verhehlte. Nun ja, dieses erste Kontaktgespräch sollte sie vielleicht noch ein bisschen üben. Aber sie war halt neu hier, wie offenbar auch ihr schüchterner Freier. Sie hatten sich gesucht und gefunden.
Fragend schaute er sie an.
„Sie müssen erst bezahlen.“
Sofort nestelte er die Brieftasche hervor und wollte ihr einige Hunderter in die Hand drücken, doch wies sie auf Immanuel. Würdevoll nahm dieser die Scheine entgegen, zählte kurz durch und schob zwei über den Tresen zurück. Während der Mann sie wieder in die Brieftasche stopfte, beugte sich Immanuel etwas zu ihr herüber und dämpfte die Stimme zum Verschwörerton. „Zimmer zwei. Die zweite Tür links.“ Ermutigend lächelte er ihr zu.
Mut brauchte sie jetzt. Für einen klitzekleinen Moment schoss der Gedanke durch ihren Kopf, jetzt nach oben zu gehen, sich etwas Richtiges anzuziehen, ihren Aufenthalt hier als Missverständnis zu betrachten und das Haus zu verlassen. Und dann, wohin und was tun? – Sie sandte dem Schüchternen den Versuch eines Lächelns zu und ging vor ihm her in den Flur. An der letzten Tür auf der linken Seite, dort wo der Korridor nach rechts abknickte, dort prunkte die verschnörkelte Zwei, dort also waren sie richtig, zumindest was die Zimmernummer anbelangte.
Mit dem heißen Atem des Mannes im Nacken drückte sie die Klinke herab und zaudernd trat sie ein. Der Raum war in sinnlichem Rot gehalten, gelblich warm beleuchtet und sparsam möbliert mit einem runden Tisch, zwei zierlichen Sesseln und einer schlanken, hohen Kommode. Ein großes Gemälde hing an der Wand, passend zur Farbe des Zimmers überwiegend in dunklen Rottönen gemalt. Auch das Motiv passte: Auf einem breiten roten Bett lag ein blondhaariges Mädchen im roten transparenten Gewand, ihr Kopf war aufgerichtet und in die Hand gestützt, sie schaute lächelnd auf zu einem Mann im hellen Anzug. Vor diesem kniete eine Schwarzhaarige, auch sie in ein rotes Gewand gehüllt. In ihrer Hand hielt sie seinen schwellenden Schwanz und lächelnd schaute sie zu ihm hoch. „Erwartung“ hieß das gekonnt gemalte Werk.
Das Bett des Bildes war das des Zimmers, auch dieses war rot und wurde vervielfältigt von großen Spiegeln an den Wänden und der Decke. Golden schimmernde Gitterstäbe begrenzten das Kopf- und Fußende, einige Kissen lagen darauf, doch gab es keine Decke, unter der man sich hätte verkriechen können.
Stumm schaute sich der Mann um, wartete offenbar auf ihre Initiative. Ruhig war sie plötzlich, ohne Gefühl, viel sicherer als vor dem Überschreiten der Schwelle. Was würden die meisten Männer in dieser Situation jetzt erwarten? Es war leicht zu erraten. Sie schob die Träger des Hemdchens über die Achseln und ließ es zu Boden sinken, enthüllte sich fast feierlich, als sei sie eine Kostbarkeit, präsentierte den nackten Körper und zwangsläufig auch die Male der Peitsche.
„Oh, Sie wurden geschlagen?“
Silvia nickte.
„Aber warum denn?“
„Weil es Männer gibt, die Lust daran haben.“
„Wie kann man nur, Sie sind doch so schön …“
Vielleicht genau deshalb? Aber vermutlich spielte das Aussehen dabei eine untergeordnete Rolle. Sie wusste es nicht, zudem ging es ihn nichts an. „Haben Sie einen bestimmten Wunsch?“
„Ich weiß nicht.“ Sein Blick wich dem ihren aus, schweifte zum schweren roten Vorhang vor dem Fenster. „Oder doch … wenn Sie es mir mit dem Mund machen könnten?“
Ja, das konnte sie, hatte es schon oft genug getan und auch gelernt, es bei jedem Mann zu tun, gleich, ob sie ihn kannte oder nicht, ob sie ihn mochte oder nicht, ob ihr danach war oder nicht. Sie zog ihm das Sakko aus, das Hemd, die Hose, streifte mit einem entschlossenen Ruck den Slip herunter, dirigierte ihn zum Bett. Die Socken zog er selbst aus und legte sich rücklings hin, wartete. Zärtlich glitten ihre Lippen über die raue trockene Haut, die sich nach Feuchtigkeitsmilch sehnte. War ihr danach? Kaum. Doch spielte das keine Rolle. Sie schloss die Lippen um den prallen Penis, lutsche ihn mit Hingabe, als habe sie nur auf ihn gewartet, hörte das selige Ächzen des Mannes, spürte, wie er sich aufbäumte, und empfing seine klebrige Flut wie den Preis des Erfolges. – Ja, sie konnte es, konnte einen wildfremden Mann beglücken wie eine Maschine, die auf Knopfdruck funktionierte, war geeignet für das neue Leben, musste sich keine Sorgen machen, dass sie versagen würde.
Entspannt lag sie neben ihm, kaute an seinen säuerlich schmeckenden Resten, streichelte seinen flachen Bauch, als sei er ihr Geliebter. (War es denn erlaubt, ihm und sich selbst diese Zeit der Muße zu gönnen? Sie wusste es nicht, nahm aber mal an, dass es nicht angemessen wäre, die Kunden wie am Fließband abzufertigen für den hohen Preis, den sie für die Mädchen bezahlten.) Außerdem wollte er ja auch gar nicht lange bleiben. Etwas verschämt zog er sich an, als sei es ihm peinlich, zuerst nackt, dann mit der Unterhose von ihr gesehen zu werden. Sie lag noch immer auf dem Bett, halb auf die Seite gedreht, und schloss diskret die Augen, verpasste ja nichts, da sein magerer Anblick gar so reizvoll nicht war. Sie hörte sein Räuspern und machte die Augen wieder auf, sah ihn komplett angezogen neben dem Bett stehen. Sein Blick ruhte auf ihr. „Es war schön mit Ihnen. Ich komme bestimmt bald wieder.“
Sie versuchte sich an einem einladenden Lächeln, wusste nicht, was antworten, hatte ein solches Kompliment in einer solchen Situation ja noch nie bekommen. Was sagte man da? „Ich bin immer für Sie da.“ – Oh. Das stimmte ja wirklich, war nicht einfach so dahergesagt. Sie war für ihn da, sobald er Lust auf sie bekam, wie auch für jeden anderen, sogar für den ungehobelten Stämmigen, wenn er sie seinem Lieblingsmädchen Annemarie einmal vorziehen sollte, jeder konnte in sie kommen, wenn er nur genügend Geld hatte. Endgültig war sie zur Hure geworden. Welch ein schmähliches Wort. In ihren Ohren klang es wie eine Auszeichnung, als habe sie eine Prüfung bestanden, die man auch leicht hätte vermasseln können. Fast wäre sie stolz auf sich gewesen.