Читать книгу Der Astrologe - Jürgen G.H. Hoppmann - Страница 13
Brandenburg – 10:25 – Autobahndreieck Spreewald
ОглавлениеAus den schlaffen Airbags zischt die Luft. Schluss mit der Raserei. Einzig das Autoradio funktioniert noch. Guter Empfang. Anscheinend guckt die Antenne aus dem Schneehaufen raus.
»Hallo Regie, was macht die Standleitung? Aurora meldet sich nicht? Ach Leute! Ruft im Dresdner Kongresszentrum an. Probiert alle Durchwahlnummern. Irgendwen erreicht ihr. Werte Hörer, die Sachsen machen ein Fass auf. Sieben Tage Astroparty bis zum Abwinken: internationale Stars, internationales Publikum, internationaler Service. Finanziert von der Europäischen Union, mit freundlicher Unterstützung von Questa o Quella, den Lebensberatern. 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. Achtung, wir haben Kontakt! Ich spreche mit Chantal, der persönlichen Assistentin von Frau Aurora Celestico?«
»Nu, nu.«
»Charmant, charmant. Madame Chantal, schenken Sie uns ein Tageshoroskop. Geld, Glück, Liebe, Gesundheit, speziell für Löwe-Geborene, weil heute Sonnentag ist.«
»Nu, nu, nu. Meine Chefin ist Löwin. Forsch, forsch.«
»Der Tag steht im Zeichen der Sonne. Feierliche Eröffnung an der Augustusbrücke. Barocker Götteraufzug in historischen Kostümen. Reden europäischer Spitzenpolitiker. TV-Liveübertragung über Europe-News plus Livestream im Internet. Exklusives Festessen im Dresdner Schloss. Rockkonzert auf den Elbwiesen. Wo mischen Sie mit, Fräulein Chantal?«
»Mit Kärtchen.«
»Chantal, Sie aus Frankreich im schönen Dresden …«
»Erzgebirge. Vorne ›Schant‹ und hinten ›alle‹: Schantalle. Ich bin Krebs. Abteilung Post und Aktenablage im sechsten Stock vom Kongresshaus, beim Fahrstuhlschacht. Krebs braucht Geborgenheit, sagt meine Chefin. Genau das Richtige für mich.«
»Ein Höllenlärm bei Ihnen. Kann Sie kaum verstehen!«
»Fahrstuhlmotoren, Lüftungsventilatoren und Wölfi. Der Aktenreißwolf. Braucht viel Platz. Bloß nichts Falsches reinstecken, sagt Frau Celestico.«
»Und die erreichen wir nicht. Ran ans Tageshoroskop, Fräulein Schantalle!«
»Oh je, oh je. Ich bin nicht eingearbeitet.«
»Die Hörer warten, draußen an den Empfangsgeräten!«
»Ich hab nur Englein-Kärtchen. Selbst gemalt, mit Filzstift auf Bierdeckel. Soll ich?«
»Frage an die Hörer in Berlin, Dresden, Sachsen und der Welt: Soll uns die Expertin aus dem Erzgebirgskreis ein Englein-Kärtchen ziehen? Los gehts!«
»Nu, nu. Ich mische und verteile im Kreise. Muss aufpassen, dass Wölfi nichts frisst. Mein Finger kreist. Nu horche druff: Fein konzentrieren und ›Stopp‹ sagen.«
»Werte Hörer, es wird spannend, denn ich sage … Stopp!«
Lautes Quieken, das Brummen von Fahrstuhlmotoren und Lüftungsventilatoren übertönend.
»Fräulein Schantalle, sind Sie noch da? Bis zur Musik bleiben zehn Sekunden für Geld, Glück, Liebe und Gesundheit.«
»Das Brüllaffen-Englein! Müssen alle fein klatschen und lieb sein. Gemecker mag es nicht. Kein Naserümpfen. Brülli ist sensibel und schnell beleidigt. Will viel gelobt werden.«
»Kein Naserümpfen also am Löwen-Tag, sagt das große Tageshoroskop des Europäischen Planetenfestes. Liebe Hörer, rufen Sie an, wenn es Ihnen gefallen hat. Oh, schon vier Anrufer in der Warteschleife. Hier Questa o Quella, Ihr Berater in allen Lebenslagen. Mit wem spreche ich?«
»Freiherr zu Strahlenfels. Kosmische Zwillinge e.V. Ich vermute, Seine Königliche Hoheit Prinz Harry of Wales und Meghan Herzogin von Sussex geben sich die Ehre beim großen Dresdner Sternenfest – inkognito.«
»Könige auf geheimer Mission? Werte Hörer, wir sind ›live on air‹. Ich sehe acht, neun, zwölf Anrufer in der Leitung. Wir schalten überall rein.«
»Prinz Harry, mein Süßer. Gib der Meghan den Laufpass, komm zu mir!«
Freizeichen, aufgelegt.
»Ich bin der Pittiplatsch und habe euch alle lieb.«
»Hier Brüllaffe. Schantalle, du olle Titten-Schnalle!«
»Nischwitz an der Mulde, Kreis Wurzen. Wir möchten schön grüßen unsere Tochter Gertrud, ihren Mann, die Enkelkinder, dann die Nachbarn, den Horst von gegenüber und …«
»Wellness-Oase Sächsische Schweiz. Kleine Preise, große Wirkung. Besuchen Sie unsere Prinzen-Suite.«
»Kampfbund der Fünften Internationale. Nieder mit faschistoiden Ausbeutercliquen der EZB. Boykottiert das ausbeuterische Planetenfest!«
»Erweiterte Oberschule EOS ›Mark Zuckerberg‹. Diese Kings, das sind Trolls. Müssen sie sperren, oder?«
»Frau Huber aus Zwiesel im Bayerischen Wald. Ich bin ja Reichsbürgerin. Und als solche sage ich klipp und klar …«
Der Polizeistudent im Tagespraktikum schaltet das Radio aus. Reibt sich die Nase. Wird beim Crash wohl irgendwo gegengestoßen sein. Ansonsten ist er unverletzt. Schwer zu erkennen, wie es seiner Zielperson auf dem Beifahrersitz geht. Zappenduster hier im Phaeton, bis auf die Armaturenbrettbeleuchtung. Ringsum nichts als Schnee, der die Sicht nach draußen verdeckt.
»Alterchen, hast du am Briefumschlag geleckt oder ist dir beim Aufprall irgendwas gebrochen?«
»Papperlapapp.«
Max drückt den Startknopf. Der Motor springt an. Gas langsam kommen lassen. Es ruckelt, die Räder drehen durch. Der Wagen steckt fest. Max schiebt die aufgeblasenen Luftsäcke zur Seite und versucht, die Fahrertür zu öffnen. Es knirscht, Schneematsch fällt rein, nach einem halben Zentimeter ist Schluss.
»Mist.«
»Grabe hurtig, Fischbock! Der Sonnen Kraft möge dich leiten.«
»Positiv.«
Beim Runterziehen des Seitenfensters stürzen Schneemassen herein. Max wühlt aus Leibeskräften, bis er Licht an Ende des Tunnels sieht, schaut durchs Guckloch nach draußen. Zwei Streifenwagen donnern mit Blaulicht vorbei.
»Perfekte Tarnung, dieser Schneehaufen. Wird etwas dauern, bis der Wagen freigeschaufelt ist. Mal was anderes: Wieso nennst du mich ›Fischbock‹, Alterchen?«
»Ahnung raunet, das Bürschchen sei geboren im Zeichen des Steinbocks mit dem Fischeschweif. Verhaftet mit der Welt der Erscheinungen, dies Zeichen – nicht wissend, dass die Realität die größte aller Illusionen, ›Maya‹ genannt von den indischen Astrologen. Das Leben ein Traum. Erwachen im Tode.«
»Wie romantisch. Wie die Schlager aus der Musikbox in der Eckkneipe nachts um halb zwei, wenn alle besoffen sind und keiner nach Hause will. Nach meiner Geburtsurkunde bin ich Wassermann. Glaube aber nicht an den Kram.«
»Trügerisch, solch amtliche Daten. Bist ungläubig, wie alle Fischböcke, womit bewiesen, dass du an andrem Tag geboren …«
»Moment: An Astroscheiß glaub ich nicht und deshalb bin ich Steinbock? Beißt sich die Logik in den Schwanz.«
»Fischbock. In den Fischschwanz!«
»Ich schaufel den Wagen frei. Keine Zeit für Gelaber.«
Es dauert eine Weile, bis der von Schnee und Eis befreite Sonnenwagen wieder über die Autobahn gleiten kann, schlingernd wie ein Speedboot. Zumindest in den Kurven nimmt Max jetzt etwas Gas raus. Dem Alten hat er Evis Zimtsterntüte gegeben, damit endlich Ruhe ist.
Max juckt es wieder am Arm: der Code! Er versucht, zu entziffern, was Aurora Celestico ihm im Sterben aufgemalt hat. Das Lenkrad steuert er mit den Knien, kramt sein Smartphone hervor, das beim Aufprall in den Fußraum geflogen ist, und schaltet einen frischen Account auf Google Mail frei. Name? Vielleicht den Kuchen, den er gestern am Backwagen verdrückt hat. Passwort? Sie beide. So, jetzt dieses Gewirr aus Buchstaben und Zahlen in eine Mail reinpacken.
Ab und zu schaut er nach vorne auf die Straße, steuert nach. Einmal Schneehaufen und nie wieder. Gut. Noch mal den Code vergleichen, speichern und ausloggen. Keine Ahnung, wozu der gut ist. Aber wenn sie ihm jetzt den Arm abhacken, ist er immer noch im Netz. Evi sollte ihn vielleicht wissen. Später. Jetzt erst mal den Stargast abliefern.
Kurz hinter Dresden-Marsdorf weiß-rote Signalhütchen auf der Überholspur. Blaulicht blinkt. Vor ihm ein Kleintransporter, versperrt die Sicht. Er lässt das Fahrerfenster runter und streckt den Kopf raus. Fahrtwind und Eisgriesel stechen in die Augäpfel. Also die Foto-App scharf machen und das Handy ganz weit raushalten.
Okay, die gute Nachricht ist, der Arm bleibt dran. Die schlechte: Im Rückspiegel kann er sehen, wie die Gurke auf dem Fahrbahnbeton zersplittert. Beinahe auf den Vordermann auf, muss arg auf die Klötzer treten.
Da: Bundespolizei in schwarzer Kampfmontur, am Ende der Schlange. Winkt dunkle Limousinen raus. Das gilt ihm! Max schert aus, walzt Signalhütchen nieder, gibt Gas. Die Männer ziehen ihre Waffen, springen in letzter Sekunde zur Seite. Martinshörner ertönen. Eine ganze Armee sitzt ihm jetzt im Nacken.
Tempo 240. Nur Fliegen ist schöner. Beim Flughafen Dresden-Klotzsche eine Passagiermaschine im Landeanflug. Gleiche Geschwindigkeit. Nebenbei mal eben das Navi auf dem Armaturenbrett starten. Ziel: Kongresszentrum am Ostra-Ufer. Zwischenstopp Hotel zum Grünen Gewölbe. Die Autobahnabfahrt mit Powerslide nehmen. Heck bricht aus, Reifenqualm im Rückspiegel. Rot heißt marschieren, speziell was Ampeln betrifft.
Zeit für eine Finte. Vollbremsung in der Königsbrücker. Automatik umschalten, den Alten abstützen, damit er nicht durch die Frontscheibe fliegt, und rückwärts in eine lauschige Seitenstraße. Reinrempeln in eine Parklücke, sodass dem Wägelchen vorn und hinten das Gebiss verbeult, Motor aus und wegducken.
Drüben auf der Hauptstraße rast die Blaulicht-Armada vorbei. Gelernt ist gelernt. Wer auf Bergpisten in Afghanistan den Panzerfäusten der Taliban entkommen ist, für den ist es kein Problem, eine Zielperson unbeschadet zum Zielort zu bringen.
Schleichwegmäßig Richtung Zentrum. Bei der Waldschlößchenbrücke über die Elbe, mit Vollgas hin zur romantischen Altstadt. Frauenkirche links liegen lassen, beim Fürstenzug breitärschige Touristengruppen mit der Stoßstange zur Seite schieben. Schlossplatz abgesperrt. Monteure werkeln an Tribünenbauten. Also durchs Georgentor. Ein Fiaker mit zwei Rössern, drei in Pelz gehüllten Touristen und einem sturen Fuhrmann steht quer. Die Doppelklangfanfaren des Phaeton machen der Kutsche mächtig Dampf.
Das Hotel zum Grünen Gewölbe am Taschenberg. Max bremst millimeterscharf vor den Füßen eines Hotelpagen im Lodenumhang. Er erklärt kurz und knapp, das auf dem Beifahrersitz sei der Stargast. Inkognito, nicht ansprechen! Der Butler verbeugt sich tief. Sein schwarzer Zylinder kommt ins Wanken. Eilfertig dienernd murmelt er: »Der Prinz, der englische Prinz!«, buckelt voraus.
Ein kleines Atrium mit neckischen Buchsbäumchen in Holztrögen. Rechts und links steinerne Fabelwesen, aus deren eisumrandeten Mäulern dampfendes Wasser fließt, wie Geysire im fernen Island. Es öffnen sich die schmiedeeisernen Tore zum Allerheiligsten.
Die Hotelrezeption eine Mischung aus Harry-Potter-Internat und Flughafenterminal. Man ignoriert den eiligen Neuankömmling. Ein Ehepaar mit Mops aus Düsseldorf hat ernste Anliegen. Wo der Rosenmontagsumzug sei, wollen sie wissen. Pipifax mit patriotischen Europäern. Der Empfangschef bedauert: Die Montagsdemos pausieren während des Planetenfestes.
Max zeigt seinen Praktikantenausweis. Lässt die Reservierung checken. Greift sich den Zimmerschlüssel. Wartet nicht, bis ein Fahrstuhl kommt. Hechtet über die Treppe hoch. Junior-Lounge im dritten Stock. Reißt Bettdecke und Laken runter. Greift sich ein Hotelkärtchen vom Nachttisch. Krickelt was drauf. Legt es auf die Matratze. Bettzeug drauf. Glatt streichen. »Bitte nicht stören« draußen an die Tür. In Nullkommanichts ist er wieder unten am Empfang.
Der Chefrezeptionist studiert das Festival-Beiprogramm. Die werten Gäste bleiben die ganze Woche? Ganz wunderbar, denn am Donnerstag, dem Mars-Tag, veranstalten die Patrioten in Pirna ein Rassehundseminar. Ob der Mops … Die Düsseldorfer sind empört! Ihr Hasso von Sürgenthal habe arische Vorfahren bis zur zwanzigsten Blutlinie. Ein rassereiner Zuchterfolg, Sternzeichen Löwe. Alle glotzen auf das fette Vieh, das phlegmatisch rumhechelt.
Der Polizeistudent knallt den Zimmerschlüssel auf den Tresen. Evi, seiner Verlobten, werde er das Zimmer überlassen. Ihr einen guten Nachmittagsschlaf wünschen, ja? Einen guten Nachmittagsschlaf. Er muss es dreimal sagen, bis man sich endlich vom Löwenmops abwendet, dem edlen Tier.
Raus aus dem Puff und rein in den Phaeton. An der Semperoper krachen sie beinahe gegen ein Reiterstandbild. Das Ausweichmanöver endet in einer meterhohen Euro-Skulptur, Plexiglas und Neonröhren, goldgelb mit blauen Rändern. Slalom vor dem Sächsischen Landtag. Links das Maritim-Hotel, hoch aufragend wie eine Burg. Rechts das Kongresszentrum, ein Ozeandampfer aus Glas und Beton mit grauem Schornstein auf dem Dach. Menschenmassen strömen auf die breite Freitreppe, von Security in gelben Warnwesten in sichere Bahnen gelenkt.
Der Polizeistudent im Praktikumseinsatz parkt vor einem Absperrgitter. Stolz auf die Erfüllung der Mission umrundet er den zerbeulten Luxuswagen und öffnet dem Stargast die Beifahrertür. Ein leises Surren erfüllt die Luft, kaum mehr als eine Sekunde. Nicht genug Zeit, um das Geräusch in Ruhe zu analysieren.
Kleine spitze Nadeln bohren sich in sein Fleisch. Sechshundertfünfzigtausend Volt aus Elektroschockern bringen selbst kampferprobteste Kosovo- und Afghanistankämpfer zu Fall.