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Prag – 14:30 – Obecní dům

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Schweigend richtet der Greis seinen zittrigen Zeigefinger auf die Altstadt. Nach jeder Abzweigung werden die Straßen enger, lässt sich ihr wuchtiges Gefährt schwieriger manövrieren. Die Gebäude schmuck und prachtvoll, erbaut in Zeiten, als es Kaiser und Leibeigene gab, Herrschaften und Dienstboten.

Ein opulent verzierter Märchenpalast, vor dem sich ihr verschrammtes Luxusgefährt quer über den Bürgersteig legt, wie ein riesiger Hund, dessen fletschendem Maul Fußgänger angstvoll ausweichen. Der Ford Galaxy parkt drüben auf der anderen Straßenseite. Ließ sich nicht abschütteln.

Scultetus schwingt sich hinaus, schlägt seinen gediegenen Wintermantel über das edle Tweed-Sakko. Er schaut hoch zu den gusseisernen Heldenstatuen, wie ein solventer Investor auf Immobilienschau. Beidseits des Haupteingangs platziert tragen sie Leuchter, als seien es Weltkugeln.

Auf einem Plakat im Boheme-Stil das verzierte Gemälde einer Dame von Welt, Tänzerin vielleicht oder Opernsängerin, wehendes rotes Haar, umfasst von einem Diadem, Ohrgehänge aus rosa Korallen, bunte Perlenkette mit Blättern und Blüten, stilisierter Sonne und einem Mond, all dies vor einem Ornament aus Tierkreiszeichen.

»Mächtig gewaltig, Chef. Gibts da drin was zu essen? Hab nen Mordshunger.«

Der Alte breitet die Arme aus. Eine Schar festlich gekleideter Herrschaften jubelt ihnen zu. Manche eilen gleich mit gezücktem Horoskop herbei, küssen ihm die Hand. Max drängt die Leute ab, schiebt Scultetus weiter.

»Wow, echt toller Schuppen! Dort, rein ins Café, gleich an die Kuchentheke. So. Jetzt müssen wir uns erst entscheiden. Das da, das ist zum Beispiel eine Domažlicer-Torte: Pflaumenmus, Mohn und Quark. Mit Zuckerbäckerei kenne ich mich aus. Ah, die Bedienung. Verstehen Sie Deutsch, ja? Eine Schwarzwälder Kirschtorte, die da, und einen doppelten Milchkaffee! Ein großes Stück von der Herrentorte. Zuerst bringen Sie mir, Moment, was ist das dort? Buchty, Buchteln? Ah, Dukatenbuchteln! Mit Vanillesoße! He, nicht so drängeln, Leute. Der Schlagerstar hier hat Vorrang. Wie, nur Tee und Gebäck, Chef? Okay. Bedienung? Eilt etwas. Ah, dort drüben spielt die Musik. Anscheinend alles vorbereitet für Ihre Gesangseinlage.«

An der Stirnseite des prachtvoll dekorierten Saals ein Podest mit Konzertflügel. Der Caféhauspianist lässt sanfte Melodien ausklingen, schließt den Deckel und winkt sie herbei.

Voll Stolz zeigt er auf vier gerahmte Jugendstilplakate. »Der Mond und die Sterne« seien das, kosmische Allegorien, bald hundert Jahre alt, geschaffen von einem Meister des tschechischen Jugendstils. Auf einem der Plakate steht ein Mädchen, das wie Evi aussieht, vor einer Mondsichel und wirft Kusshände. Ein blaues Tuch mit gelben Sternkreisen verdeckt ihre Blöße.

Rasch und geräuschlos trägt man ein Tischchen und zwei Stühle auf die Bühne, dazu ein Mikrofon. Derweil eilen die Kellner und Servierdamen durchs Publikum, teilen Kännchen mit frischem Kaffee aus und Eisbecher mit kandierten Früchten, gekrönt mit eingesteckten Waffeln. Lächelnden Blickes kredenzt man Scultetus, dem Stargast, Tee und Keksgebäck.

Max knurrt der Magen. Er klopft gegen das Mikrofon.

»Hallo, wo bleibt Kaffee? Dukatenbuchteln nicht vergessen!«

Im Saal empörtes Gezische, vereinzelte Buhrufe.

Scultetus nimmt das Mikro aus der Halterung und schaut lächelnd in die Gesichter der Anwesenden.

Ruhe kehrt ein.

Liebe Freunde, ehemalige Schüler und Klienten, die ihr zahlreich erschienen seid, trotz der kurzfristigen Einladung. Bald drei Jahrzehnte sind vergangen seit dem ersten gesamteuropäischen Astrologenkongress. Was damals in diesen heiligen Hallen vonstattenging, steht klar vor meinem inneren Auge.Erinnert euch, ihr Lieben! Im bitterkalten Frühjahr 1992, als der Saturn an gleicher Tierkreisposition stand wie heute, war dieses Haus zum Abbruch freigegeben. Überall regnete es herein. Im Mauerwerk zeigten sich breite Risse. Süßlicher Leichengeruch der Braunkohlenheizung. Flackerige Beleuchtung, Treppen wegen Einsturzgefahr gesperrt.In diesem Raum hier war die Kantine. Man briet mit altem Fett. Wir bestellten aus Solidarität mit dem Personal, das um den Arbeitsplatz bangte. Es war der einzige beheizte Raum. Drüben im zugigen Kongresssaal hüllten wir uns in Mäntel. Was solls! Gestirnstheorien und Erfahrungen wollten wir austauschen und Begeisterung teilen.Im Smetana-Saal, auf der Konzertbühne, stand eine zierliche, zerbrechlich wirkende Psychoanalytikerin aus London. Dozierte zu menschlichen Verstrickungen und Familienkonstellationen. Kritzelte mit schwarzen, blauen und roten Filzstiften, tief gebeugt über einen Projektor, verwirrende Linien und Symbole auf die Folie. Riesengroß das hinter ihr auf die Leinwand geworfene Horoskop.Sie nuschelte und flüsterte wie am heimischen Küchentisch, wenn man Familiengeheimnisse bespricht – was den intimen Effekt verstärkte – und deutete saturnine Konstellationen derart tiefgehend, wie selbst ich es noch nie erlebte. Uns allen grauste es. Wir zitterten vor der Macht der Planeten und vor Kälte vom feucht-klammen Saal.Die Exkursion zum Altstädter Rathaus. Ein sechshundert Jahre altes Wunderwerk der Uhrmacherkunst, mit Sonnen- und Mondzeigern, Bürgerlicher und Wahrer Ortszeit, Sternzeit und astronomischer Nacht. Über die Karlsbrücke hinauf zum Hradschin. Tycho Brahes prachtvoller Sarkophag in der St.-Veits-Kathedrale. Es gab kaum Touristen in jenem Spätwinter. Wir waren unter uns.Osteuropäische Astrologen setzen auf Prognose anstatt auf Psychologie, denn hinter dem Eisernen Vorhang bestimmte eine allmächtige Bürokratie das Leben, gab es kaum Karrierechancen. Man fragte, ob Verhaftung und Straflager droht. Soll man in den Westen flüchten? Wann und wie wird man sterben? Damals lehnte ich die Todeshoroskopie ab. Heute, aufgrund von Studien, revidiert sich mein Blick.Der Geist des Neuanfangs lag in der Luft. Welche Begeisterung, welches Engagement damals unter uns Tschechen und Schweizern, Slowaken und Franzosen, Engländern, Österreichern und Deutschen! Ob sich heutzutage in diesem Haus, in dem der Luxus eingezogen ist, wiederum eintausend idealistische Sterndeuter einfinden würden, mit reinem Herzen und heiligem Eifer zum Wohle der Menschheit? Oder gäbe es nur eitle Selbstdarsteller, die ein übersättigtes Publikum seicht und oberflächlich unterhalten, um ihre Gier nach Glanz und schnellem Geld zu befriedigen?Prachtvoll wiederhergerichtet ist euer Obecní dům. Euer Land profitiert von der Europäischen Gemeinschaft, hat Milliarden aus Brüssel erhalten und sich verpflichtet, den Euro einzuführen. Nun, in der Währungskrise, brauchen wir die Tschechen. Wäre es nicht Zeit, etwas zurückzugeben? Ich appelliere an euch, die ihr wohlhabend und mächtig geworden seid. Engagiert euch für den Kontinent, kommt zur Horoskopaufstellung am Samstag in der Europäischen Zentralbank zu Frankfurt am Main.

Ernste Gesichter im Saal.

Wortfetzen wie »Scheingeldsystem«, »Notenbank-Poker« und »Nullzinspolitik« machen die Runde. Magerer Applaus, peinliches Schweigen. Nicht eine Kuchengabel klirrt, keine Porzellantasse, die auf ihrer Untertasse Platz findet. Nur das Rauschen in den Ohren von Max, in dem ein ungeheurer Konflikt tobt.

Einerseits ist seine Bestellung eingetroffen. Verführerisch thront eine Schale Milchkaffee mit Zimt und Schokopulver und Schaumkrone vor ihm. Zierliche Dukatenbuchteln mit Marillenmarmeladenfüllung in Vanillesoße, nebst Domažlicer mit Pflaumenmusgarnierung, einem Schälchen Schlagobers und, als Entschuldigung für die Verspätung, auf Kosten des Hauses ein sattes Stück Schwarzwälder Kirsch.

So weit, so gut.

Andererseits leidet dieser alte Schlagersänger. Ohne Anerkennung, die er zweifelsohne erwartet hat, fällt er in sich zusammen, nimmt den Gesichtsausdruck jenes Tattergreises an, den Max vor gerade einmal sechs Stunden unter der Weltzeituhr am Alexanderplatz angetroffen hat. Es muss unbedingt was geschehen.

Ohne weiter nachzudenken, greift der Polizeistudent zum Mikro, klopft dreimal kräftig gegen und legt los:

»Mal ehrlich, Leute: Was sollen in diesem Schuppen tausend Astrofreaks? Astro ist Hokuspokus hoch drei! Reine Verarsche. Von wegen ›übersinnliche Wahrnehmung‹ und so: alles billige Zaubertricks. Wie bei den Hütchenspielern oder den Kartenbetrügern. Warten nur drauf, dass irgendein Depp seine Geldscheine zückt und sich melken lässt.

Also Schluss mit dem Psycho-Gelaber. Die ollen Tschechen sind wegen der Show gekommen, genau wie damals. Haben die Hütte hier eingerannt, weil sie Wessi-Stars erleben wollten. Wollen sie heute immer noch. Ostalgie ist Trumpf, grad bei so verschnarchten Rentnern.

Herr Scultetus, Sie als Schlagerstar sind doch ne olle Rampensau. Hab viel von Ihnen gelesen, in irgendwelchen Postillen, keine Ahnung. Sind so einer wie Heino, Freddy oder der Udo. Also keine großen Reden. Singen Sie ›Junge komm bald wieder‹, ›Blau, blau, blau blüht der Enzian‹ und meinetwegen ›Sonderzug nach Pankow‹. Hauptsache, Oma schwingt das Tanzbein und alle schunkeln mit. Let’s Rock!«

Es kracht dumpf, als er das Mikro ablegt. Leicht erschöpft und heiser geredet, aber rundum mit sich zufrieden, klatscht er sich saftigen Schlagobers aufs Hefegebäck, das in warmer Vanillesoße schwimmt. Beherzt nimmt er einen Schluck aus der Kaffeetasse. Der Gaumen muss feucht sein, damit der köstliche Kuchen flutscht.

Scultetus’ Gesichtshaut ist während der Rede seines Bodyguards immer bleicher geworden, sein feines Lächeln zur Maske erstarrt. Mühselig erhebt er sich und greift zum Mantel. Stuhlbeine knarzen übers Parkett. Es treibt ihn in eine unsichtbare Ferne. Wie ein schwebender Geist gleitet er durch die Menge, hinaus ins Schneetreiben.

Im Saal übersetzt man derweil Maxens Ansage ins Tschechische. Aufgeregtes Geschnatter. Der Pianist stürmt mit Storchenschritten auf die Bühne, baut das Mikrofon ab. Einigen älteren Damen stehen Tränen in den Augen. Sie werfen Max hasserfüllte Blicke zu. Herren mit dicken Wänsten recken ihm die Fäuste entgegen. Hastig steckt man der Bedienung Geldscheine zu, hilft sich in Woll- und Fellmantel, gibt sich die Klinke in die Hand.

Der Polizeistudent, bewaffnet mit Sahnelöffel und Kuchengabel, starrt mit offenem Mund auf die Leute. Eine Kellnerin streicht ihm mit gefährlich gezücktem Küchenmesser den bissfertigen Palatschinken von der Gabel. Pfeffert das Kleinod mit zorniger Miene aufs Tablett. Grapscht sich plump die Kaffeetasse. Tief tunkt ihr Daumen ins köstliche Nass. »Wie konnten Sie unserem großen Astrologen dies antun«, kreischt sie und verschwindet.

Draußen stapfen die Gäste aufgeregt durch den Schnee, winken nach Taxis, umarmen den Alten ein letztes Mal und lassen sich Horoskope signieren. Er steht seinen Mann, bis der letzte Fan gegangen ist. Der Vorplatz des Obecní dům leert sich. Schneeflocken umwirbeln die leicht zitternde, graue Gestalt. Fehlt nur noch der Wackelbeutel.

Der einzig verbliebene Cafégast mustert die abgekratzte Kuchengabel in seiner Rechten und den leeren Sahnelöffel in der Linken. Wie ein Fisch im Aquarium starrt er durch die Caféhausscheiben hinaus. Auf der anderen Straßenseite der Ford Galaxy mit den getönten Scheiben. Der Breitbärtige wirft eine brennende Kippe aus dem Fenster und steigt aus. Langer Mantel, ausgebuchtet. Könnte eine Waffe sein.

Max springt auf, wirft Tische und Stühle um, stürmt zum Ausgang, überquert den Vorplatz, wirft sich wie ein Fußballtorwart auf den Angreifer, haut den einfach um. Dann schiebt er den Starastrologen er mit sanfter Gewalt in den Sonnenwagen.

»Sorry, Chef. Rein und anschnallen. Alles nur ein Missverständnis. Ich persönlich stehe natürlich voll auf Astro. Ich schwöre es. Coole Sache, voll wichtig. Weiß jetzt auch, wo ich Ihren Namen gelesen habe: Im Wartezimmer vom Zahnarzt, schon ne Weile her. Goldene Postille, vorletzte Seite: ›Glückshoroskop des Scultetus‹. Ist alles eingetroffen, was da stand. Die reinste Wahrheit, voll ernst zu nehmende Wissenschaft.«

Der Phaeton rast davon. Hinter dem Bahnhof eine Straße zum Industriegelände, an diesem Sonntag menschenleer. Max bremst sanft ab und wartet, bis der Galaxy hinten aufschließt.

»Alles klar. Nix los hier, keine Zuschauer. Unser Sonnenwagen hält was aus. Spezialversteiftes Fahrgestell. Wo ist der Rückwärtsgang? Hab ihn. Gut festhalten, Arme vor den Kopf und gegen die Nackenstütze drücken!«

Mit 450 Pferdestärken setzt der schwere Wagen zurück, rammt dem Hintermann die Kühlerhaube ein. Der Ford sprüht heißen Wasserdampf in die Winterluft. Seine Frontscheibe zeigt Risse, hat den Kopf des Breitbärtigen aufgefangen.

Scultetus reibt sich die Schläfen. Sein Gesicht ist rosig geworden, das Zittern vergangen.

»Bürschchen, fahr uns bitte zum Flughafen. Falls möglich, ohne weitere Karambolagen.«

Der Astrologe

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