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Dresden – 11:00 – Der Weg der Roten Fahne

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Die Sieger der Geschichte scharen sich um Spitzbart, den ersten Sekretär der Partei: Soldaten der Nationalen Volksarmee, Rotfrontkämpfer, Intelligenzler, Arbeiter und Bauern. Hammer und Zirkel im Ährenkranz auf dem Banner, das die junge Frau mit hoch erhobenem Haupt schwenkt. Das Mosaikwandbild des Kulturpalasts erstrahlt in neuem Glanze.

Es war nicht alles schlecht, meint Uromi. Was ihr wohl angesichts der gackernden Teenies, die mit ihren Selfie-Stangen herumhampeln, einfallen würde?

Plastikgrinsen in Edelsmartphones vor schön bunter Deko, deren Sinn ihnen scheißegal ist. Gegenüber unterm Wärmepilz schlürfen piekfein gekleidete Touristen Schampus im Stehen. Sündhaft teure Winter-Outdoor-Kleidung. Einkaufstütchen vom Fashionshop am Handgelenk.

Da: eine rasende Kutsche ohne Fuhrmann! Den Pferden spritzt Schaum aus den Mäulern. Am Wagen löst sich ein Rad. Metallene Achsen schleifen übers Pflaster. Karambolage an den Wärmepilzen. Schicke Tragetaschen mit aufgedrucktem Markenlogo gehen in Flammen auf. Sektgläser zerspringen. Selfie-Stangen zerbrechen.

Ums Eck, am Taschenberg, derweil ein Menschenauflauf. Der Türsteher mit dem schicken Zylinder ist hart umlagert. Kameras und Mikrofone recken sich ihm entgegen. Evi schnappt Wortfetzen auf. Prinz Harry sei in der Stadt. Chauffiere den Stargast des Planetenfests, Philip Duke of Edinburgh, Gemahl der englischen Königin höchstpersönlich. Ob es zu einem Adelstreff mit dem Geschlecht der Wettiner kommen wird?

Evi hat vom Altmarkt einen leichten Schwips mitgebracht. Schönsaufend kann sie das alles besser ertragen. Sie schwankt weiter, gestützt auf ihren getreuen Drahtesel. Vor der Semperoper Polizeiwagen, Feuerwehr und hektisch herumlaufende Arbeiter. Gelbe Sterne mit abgebrochenen Zacken liegen auf dem Pflaster, wie vom Himmel gestürzt.

Die Touristeninformation zeigt Flagge: zwölf Tierkreiszeichen statt der sonst üblichen Sterne auf Europas blauem Himmel. Das Gebäude im Stil eines griechischen Tempels. Drinnen Europa-Sticker, Europa-Flyer, Europa-Broschüren, Europa-Aufkleber und Europa-Postkarten. Fehlt nur das Bildnis eines grinsenden Europa-Generalsekretärs an der Wand, würde Uromi jetzt wohl bemerken. Großfernseher zeigen Europe-News. Bilder von Uniformierten, die Afrikaner aus maroden Schlauchbooten retten. Unten läuft das Textband mit:

+++ Mittelmeer: Frontex rettet Flüchtlinge bei schwerem Sturm vor Griechenland +++ Dresden: Zwei Millionen Besucher zum Großen Planetenfest der Europäischen Union erwartet +++ Berlin: Mysteriöser Todesfall an der Charité gibt Rätsel auf +++ Wetter: Schneefall zunehmend, sinkende Temperaturen +++

Die Leute drängeln sich an den Kassen. Bisschen eng hier fürs Fahrrad. Rechts eine geschwungene Freitreppe. Absperrkette mit Hinweistafel: VIP-Bereich. Als gerade keiner guckt, klinkt sie die Kette aus, schultert ihren Drahtesel und steigt hoch.

Stapelweise Planetenfest-Programme kein Schreibtisch besetzt. Evi klingelt mit der Fahrradglocke. Jemand niest. Ein japanisches Mangamädchen lugt hinter seinem Monitor hervor. Blau-weißes Käppi und Kostüm im allgegenwärtigen Astro-Europa-Design. Reste weißen Pulvers dekorieren ihre Nasenlöcher.

»Ja bitte?«

»Hier: der Gutschein von meinen Freund fürs Hotel und das Festivalticket.«

Die Hostess trippelt heran und rückt ihr Käppi zurecht, ein bisschen zu hektisch. Ihre Pupillen sind winzig wie Stecknadelköpfe.

»Sorry, das ist personalisiert. Ausgabe nur gegen Ausweisvorlage. Haben Sie damit ein Problem, reihen Sie sich bitte in die Warteschlange ein. Dort, am Fuß der Treppe. Kollegin kommt gleich. Hatschi!«

»Schatzi, du hast Schnee unter der Nase. Koks ist geil, nicht? Fühlt sich an, als ob man fliegt – gell?«

Die Euro-Hostess fährt sich mit einem Papiertaschentuch im Gesicht rum. Nach leichtem Zögern streckt sie der Bäckereifachverkaufsgehilfin ihre Hand entgegen.

»Amaterasu-ō-mi-kami. Kulturpraktikantin von der Universität Tokyo. Kannst mich Ama nennen.«

»Und du mich Evi.«

»Okay. Lass mich überlegen … Wegen des Tickets frage Herrn Morgenstern. Oh nee, besser nicht. Der vermasselt alles, macht uns verrückt. Probier es mit Piet, dem Grapscher. Lass ihn fummeln, dann ist er gnädig. Weiß ich aus Erfahrung. Es gibt noch diesen polnischen Rundschädel. Knallharter Sicherheitsberater des Festivals. Bildet sich total was drauf ein. Die drei Herren sind drüben im Semperoper-Foyer. Das mit dem Pulver …«

»… bleibt unter uns, Ama.«

Zur Bekräftigung des Schwesternschwurs bestätigt sie die Glocke ihre ollen Drahtesels.

»Pass auf, Evi: Gleich holt Prinz Harry seine Freikarten ab. Platz fünf der englischen Thronfolge! Wenn er auftaucht, ist die Hölle los. Auf der Website der britischen Sun heißt es, er reist inkognito, im Geheimauftrag der Queen. Exit vom Brexit und dergleichen. Paparazzis haben ihn bereits drüben im Hotel gesichtet. Ich muss voll da sein, verstehst du? Normalerweise hat die Festivalchefin hier alles im Griff. Momentan weiß keiner, wo sie steckt. Ungeheuer stressig, die Dame. Schikaniert jeden rum. Könnte sie glatt umbringen. Oh Gott, da ist er, in Begleitung von Herzogin Meghan, der Duchess von Sussex. Cooler Inkognito-Look.«

Ein Punker mit Gesichtsdekoration erklimmt die Treppe. An seiner Seite ein mageres Gerippe mit ausgefransten Ohrmuscheln.

»Hello Ladies!«

Ama grüßt mit »Königliche Hoheiten« und niest schon wieder. Anschwellendes Stimmengewirr am Fuß der Treppe. Autogrammjäger und die Pressemeute drängeln sich hoch. Evi muss sich am Geländer festhalten, um nicht totgetrampelt zu werden.

Bloß raus aus diesem Irrenhaus!

Der Astrologe

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