Читать книгу Reise - Begleitung - Jürgen H. Ruhr - Страница 5
II.
ОглавлениеAm nächsten Morgen klingelte mich mein Wecker zeitig aus dem Schlaf. Abends hatte ich die Kamera noch mit in meine Wohnung genommen und mit einem Fön getrocknet. Leider zeigte sie trotzdem keine Funktion mehr. Vielleicht war ja auch die Batterie leer. Gleich am Montag würde Birgit sie zur Reparatur geben müssen, schließlich brauchte ich die Kamera für meine Überwachung. Heute müsste allerdings mein Smartphone reichen. Falls ich Holger Hewa endlich einmal mit einer seiner Freundinnen vor die Linse bekommen würde.
Auf meinem Handy befand sich eine Mitteilung von Bernd, eine SMS in der er mich bat, um zehn Uhr in seinem Büro zu sein. Das passte mir nun gar nicht, da in dieser Zeit ja dann keine Observierung stattfinden würde. Ich rief Bernd also direkt an.
„Jonathan. Dir auch einen guten Morgen. Weißt du eigentlich wie spät es ist?“
Natürlich wusste ich, wie spät es war. Ich saß ja schließlich im Schlafanzug auf der Bettkante und hatte meinen Wecker gerade abgestellt. Vielleicht wusste Bernd es nicht. „Ja, sicher, Bernd. Es ist jetzt exakt zwanzig Minuten vor sieben.“
„Achtzehn Minuten“, korrigierte mich mein Freund. Warum fragte er mich erst, wenn er es doch wusste? „Jonathan, was gibt es denn so Dringendes, dass du mich um diese Zeit am Sonntag wecken musst?“
„Du hast mir eine SMS geschickt“, erklärte ich. „Ich muss aber Holger Hewa observieren, da kann ich doch nicht einfach um zehn Uhr in dein Büro kommen.“
Ich hörte, wie Bernd am anderen Ende gequält aufstöhnte. „Jonathan, lass’ die Observierung sein und komm’ einfach in mein Büro. Zehn Uhr, ja? Und jetzt möchte ich noch ein wenig schlafen, also störe mich nicht länger.“ Schon legte er wieder auf.
Die Observierung abblasen? Hatte ich gestern durch meine Aktion im Schwimmbad vielleicht die entscheidenden Hinweise gefunden? Oder gab es am Ende doch noch einen wichtigeren Auftrag für mich? Einen knallharten Einsatz vom Oberstaatsanwalt? Ich ließ mich zurück auf mein Bett sinken und dachte über einen möglichen neuen Auftrag nach.
Ich erwachte um fünfzehn Minuten vor zehn Uhr. Während meiner Grübeleien musste ich wohl wieder eingeschlafen sein. Ärgerlich, dass ich vergessen hatte, meinen Wecker erneut zu stellen. Jetzt hechtete ich aus dem Bett, fuhr mir schlaftrunken über das Gesicht und versuchte zu überlegen, was ich als erstes tun sollte. Schuhe an, Autoschlüssel schnappen und los. Nein, erst lieber noch etwas anziehen, ich konnte ja schlecht im Schlafanzug durch die halbe Stadt fahren.
Der Einfachheit halber schnappte ich mir meine Sachen vom Vortag und verzichtete auf Waschen und Frühstück. Innerhalb weniger Minuten saß ich in meinem Wagen und fuhr mit quietschenden Reifen an.
Bernds Büro lag im Güdderather Industriegebiet. Er unterhielt dort ein Sportstudio, ‚Krav Maga’, wobei der Begriff ‚Sportstudio’ wirklich untertrieben war. In dem Gebäude befanden sich ein Schießstand, eine Bibliothek, ein kleines Schwimmbad, sowie diverse Trainingsräume. Und unter dem ganzen Komplex gab es eine Tiefgarage mit einer exklusiven Auswahl an Fahrzeugen. Im gleichen Gebiet, ein paar Straßen weiter, war auch das Gebäude unserer Detektei. Bernd hatte es günstig von einem in Konkurs gegangenen Unternehmen gekauft, das versucht hatte mit der Digitalisierung von Akten Geld zu verdienen.
Ich wohnte seit einiger Zeit im Ortsteil Wickrath. Christine, meine ehemalige Sekretärin und jetzige Kollegin, hatte die Räume unter mir gemietet. Sie war es auch gewesen, die mir meine Wohnung vermittelte. Von dort aus bis zu Bernds Büro musste ich gerade einmal zehn Minuten mit dem Auto fahren - wenn ich nicht trödelte. Was ich jetzt auch nicht tat. Die eine oder andere rote Ampel interessierte mich nicht und so schaffte ich es, um exakt zehn Minuten nach zehn Uhr mit quietschenden Reifen auf dem Parkplatz vor Bernds Krav Maga Studio zum Stehen zu kommen. Um zehn Uhr fünfzehn stand ich keuchend vor Bernds Schreibtisch.
„Guten Morgen, Jonathan“, Bernd sah demonstrativ auf seine Uhr. „Du bist exakt sechzehn Minuten zu spät!“
„Um zehn nach war ich auf dem Parkplatz, also eigentlich nur zehn Minuten ...“, erklärte ich kleinlaut. Bernd sah mich nur zweifelnd an.
„Setz’ dich, Jonathan. Du brauchst mir jetzt nichts zu erklären, das hat schon die Polizei erledigt.“ - „Die Polizei?“, echote ich fragend und war mir sicher, dass ich bei Bernd fleißig Pluspunkte sammelte. Die Beamten hatten ihn bestimmt darüber informiert, dass Holger Hewa mit seinen Freundinnen im Schwimmbad von offizieller Seite beobachtet wurde. Also so, wie ich es vermutet hatte!
„Ja, Jonathan. Die Polizei. Gestern Abend noch. Es ging um deinen Auftritt im Schwimmbad. Was denkst du dir eigentlich dabei, wenn du solchen Unsinn verzapfst?“
Ich schluckte. Dabei denken? Eigent...
Aber Bernd sprach weiter, seine Frage schien also rein rhetorischer Natur zu sein: „Holger Hewa hat keine Freundin. Die Ehefrau steigerte sich da in etwas hinein, weil ihr Mann in letzter Zeit häufig abwesend gewesen war. Aber für diese Abwesenheit gab es auch einen Grund: Holger Hewa wurde nämlich umgeschult. Der Mann war lange Zeit arbeitslos und das Arbeitsamt besorgte ihm schließlich eine Stelle als Bademeister. Dazu war es aber notwendig, dass er zunächst einige Schulungen absolvierte. Herr Hewa wollte das Ganze seiner Frau dann als Überraschung präsentieren, wenn alles ganz sicher, also endgültig in trockenen Tüchern war. Diese Informationen hättest du allerdings auch mit ein oder zwei Telefonanrufen bekommen können!“
„Wie das? HH war ja ständig unterwegs“, versuchte ich eine Rechtfertigung. Sicher, Holger war oft in die Stadt gegangen. Jetzt, da ich darüber nachdachte - ja, er war mehrere Male beim Arbeitsamt gewesen. Ja, er kaufte in einem Laden in der Sportabteilung ein. Aber wer kann denn ahnen, dass der Mann einen neuen Job antrat?
„Der Auftrag ist erledigt. Herr Hewa wollte heute alles mit seiner Frau besprechen und ich gehe davon aus, dass sie nun kaum eine weitere Beobachtung ihres Mannes wünschen wird. Und ob die Frau für deine zweifelhaften Bemühungen bezahlen wird, glaube ich auch nicht. Das war nicht gerade eine Glanzleistung, Jonathan.“ Bernd blickte wieder auf seine Uhr. „Ruhe dich heute noch ein wenig aus, geh’ ins Schwimmbad oder mach’ sonst irgendetwas. Morgen Punkt neun Uhr treffen wir uns drüben im Präsentationsraum. Und wenn ich sage, Punkt neun Uhr, dann meine ich auch Punkt neun Uhr!“
Ich nickte. Dann fiel mir noch etwas ein: „Bernd, in das Schwimmbad kann ich nicht, dort habe ich Hausverbot.“
Bernd grunzte etwas, was ich nicht verstand.
Gut, ein freier Sonntag. Und das bei dem herrlichen Wetter. Während ich zu meiner Wohnung zurückfuhr - schön gesittet und den Verkehrsregeln entsprechend - dachte ich darüber nach, ob ich nicht mit Christine etwas unternehmen sollte. Chrissi, wie ich sie auch nannte, würde bestimmt schon wach sein. Vielleicht konnte ich ja auch bei ihr frühstücken. Und anschließend würden wir gemeinsam den Sonntag genießen ...
Schon damals, als sie noch meine Sekretärin gewesen war - ich kam gerade aus Frankfurt nach Mönchengladbach zurück und meine Eltern nötigten mich als Privatdetektiv selbständig zu werden - machte sie mir unmissverständlich klar, dass ich nicht ihr Typ sei. Also gab ich meine Versuche, sie zu erobern auf und wir wurden gute Freunde. Also Freund und Freundin quasi. Guter Freund und gute Freundin. Nachdem meine Karriere als Privatdetektiv dank einer Bande von kriminellen Chinesen den Bach heruntergegangen war, beziehungsweise dem Brandanschlag dieser Verbrecher zum Opfer fiel, stellte Bernd uns beide als feste Mitarbeiter in seinem Krav Maga Sportstudio an. Das beinhaltete auch Dienstleistungen im Personenschutz. Und später eröffnete Bernd das Detektivbüro ‚Argus’, um Aufträge vom Oberstaatsanwalt offiziell annehmen zu können. Naja, halb offiziell - also gut, gar nicht offiziell - mehr so am Rande der Legalität. Chrissi und ich gehören zu der Mannschaft. Und Sam, der kleine kampferprobte Doktor der Naturwissenschaften mit asiatischen Wurzeln, sowie Monika, die verheiratet ist und noch als Übersetzerin arbeitet. Und noch einige mehr, die alle zusammen ein starkes Team bilden.
Ja, ja. Ich weiß: Und natürlich die Zicke, also mit richtigem Namen Birgit Zickler. Unsere Sekretärin in der Detektei. Bunt gefärbte Haare, flippige Kleidung und ein freches Mundwerk, das seinesgleichen sucht. Ich persönlich würde sie ja lieber gegen die Sekretärin vom Sportstudio tauschen: Jennifer Enssel, die blonde Schönheit. Jennifer ist ein wirklicher Engel: sie sorgt stets für frischen Kaffee, sowie kalte Getränke und sogar für belegte Brötchen. So ganz anders als die Zicke, die für mich nur schnippische Worte übrig hat.
Christine öffnete nicht. Zunächst versuchte ich es mit normalem Klingeln, dann mit intensiverem Schellen, danach rhythmisch. Nichts. Entweder schlief sie noch, wollte mir nicht öffnen oder ihr war etwas passiert. Ich klopfte mit dem Fingerknöchel gegen ihre Tür. Dann wechselte ich zum Klopfen mit der Faust. Dumpf wummerten die Schläge durch das Treppenhaus. Selbst wenn Chrissi schlief, so musste sie spätestens jetzt wach werden. Ich war mir sicher: ihr war etwas passiert. Vielleicht im Schlaf erstickt. Oder von der Bettkante gerutscht und jetzt lag sie hilflos da, streckte dem Klopfer an der Tür hilfesuchend ihre Arme oder nur einen, wenn der andere gebrochen war, entgegen.
Klingel und Klopfen wechselten sich jetzt ab. Dann hielt ich es nicht mehr aus: „Chrissi!“, schrie ich aus Leibeskräften, „mach die Tür auf. Ich bin es, Jonathan. Chrissi! Chrissi!“
Die Tür öffnete sich nicht, dafür ging aber die von gegenüber auf und die alte Nachbarin stand dort. Beide Fäuste in die Hüften gestemmt, blökte sie mich an: „Sind sie wahnsinnig? Was brüllen sie denn so im Hausflur herum?“
Ich drehte mich um. „Chris..., also Frau Weru öffnet nicht!“
Jetzt tippte sich die Nachbarin an die Stirn. „Natürlich nicht, sie ist ja auch nicht zu Hause. Sie ist doch zu irgendwelchen Bekannten oder Verwandten gefahren.“ Dann musterte sie mich von oben bis unten: „Sie sind doch der Mieter über ihr - ihr Freund. Wissen sie denn nichts davon?“
Ich schüttelte den Kopf und spürte, wie mein Gesicht rot wurde. Warum hatte mir Christine aber auch nichts davon erzählt? Ich klingelte noch einmal abschließend, dann ging ich achselzuckend zu meiner Wohnung. Die Nachbarin tippte sich erneut an die Stirn. Ob die sich nie Sorgen um jemanden machte? Dafür waren Freunde doch da.
Und was fing ich jetzt mit dem angebrochenen Tag an? Es war noch nicht einmal Mittagszeit. Eigentlich müsste ich jetzt Holger Hewa beschatten. Ob ich vielleicht doch zum Schwimmbad fahren sollte? Ich könnte mich ja mit einem Schal und einer Mütze tarnen und so in das Bad gelangen. Rein private Observation. Dann aber erinnerte ich mich daran, dass HH ja angeblich keine Freundin hatte. Obwohl - HH, also Hansestadt Hamburg und das Rotlichtviertel ...
Nach langem Hin und Her überlegte ich mir, einen Spaziergang zu machen. Bei dem herrlichen Wetter wollte ich hier nicht in der Wohnung herumhocken, das war einfach nicht meine Art. Ich erkor das Schloss Wickrath zu meinem Ziel aus. Dort könnte ich auch eine Kleinigkeit zu mir nehmen, vielleicht sogar frühstücken. Die Idee gefiel mir und so machte ich mich nur allzu bald auf den Weg. An Chrissis Tür schlich ich leise vorbei - um ja nicht wieder die Nachbarin auf mich aufmerksam zu machen - und verkniff mir, noch einmal zu klingeln.
Die Sonne brannte und schon nach wenigen Metern bereute ich, keine Mütze angezogen zu haben. Oder einen Hut. Dabei bin ich nicht wirklich der Huttyp. Obwohl mir natürlich als Privatdetektiv so ein Schlapphut bestimmt gut zu Gesicht stehen würde. Ich beschloss, mir in den nächsten Tagen einen zuzulegen. Wenn sich die Gelegenheit ergab. Befand sich in Rheydt eigentlich ein Hutgeschäft? Oder bekam man so etwas auch im Kaufhaus? Nun, ich würde es herausfinden. Nicht umsonst war ich ja der Privatdetektiv Jonathan Lärpers. Und Personenschützer und Bodyguard und Kampfschullehrer und ...
Die Plakate wiesen mir den Weg: ‚Knospen und Genussfest in Wickrath. Der Gewerbekreis lädt ein’ Dazu einige Fotos von glücklich grinsenden Menschen. Nun, das war doch etwas! Wo fand das statt? Ah ja, in der Innenstadt von Wickrath. Nicht mehr weit zu Fuß. Rasch änderte ich meine Pläne. Das Schloss lief mir nicht davon. Jetzt aber lockte das ‚Genussfest’ mehr. Allein schon der genüssliche Gedanke an ein ‚Genussfest’ weckte in mir den Wunsch auf Genuss. Ich durchquerte schnellen Schrittes den Schlosspark und landete kurze Zeit später auf dem Marktplatz. Die Menschen drängelten sich zwischen Ständen und Verkaufspavillons. An allen Ecken und Enden stand jemand und stopfte sich vor der vorbeiziehenden Menschenmenge Essen in den Mund. Ich lächelte. Hier kostete eine Mahlzeit im Stehen mehr als ein komplettes Essen in einem Restaurant. Wehmütig dachte ich an Curry - Erwin, der mir im Laufe der Jahre ein echter Freund geworden war. In seiner kleinen Frittenbude stimmten Preis und Leistung. Und natürlich der Service. Erwin hatte immer ein offenes Ohr und eine helfende Hand für mich.
Die Gedanken an Erwins Fritten- und Wurstangebote ließen meinen Magen knurren und als ich plötzlich etwas mit Wurst und Fritten erblickte, beschloss ich mir ein kleines Essen zu gönnen. Mitten in der Einkaufsstraße befand sich nämlich ein winziger mobiler Verkaufsstand mit Pommes und Wurst. ‚Echte Berliner Currywurst’ stand da. Entgegen kam mir, dass noch kein einziger Kunde davor stand. So brauchte ich wenigstens nicht lange zu warten.
„Einmal Currywurst, bitte“, orderte ich und suchte den Preis auf der kleinen Anschlagtafel. Auch der war in Ordnung. „Normal, scharf oder sehr scharf?“, fragte mich die Verkäuferin. Eine Frage, die sich bei einem Jonathan Lärpers doch eigentlich von selbst verbietet. Normal? Naja. Scharf? Hahaha. „Natürlich sehr scharf“, entschied ich und blickte die Verkäuferin lächelnd an. Eigentlich ganz nett, die Kleine.
„Haben sie denn schon einmal ‚sehr scharf’ gegessen? Die ist nämlich ‚sehr scharf’, wirklich!“
Machte sie sich jetzt Gedanken um mich? Natürlich hatte ich schon einmal sehr scharfe Currywurst gegessen. Curry - Erwin lachte dann immer, streute die doppelte bis dreifache Menge Currypulver über die Wurst und sagte regelmäßig: „Natürlich wieder sehr scharf, für den Spezialdetektiven Lärpers.“ Daran musste ich jetzt denken und lächelte in seliger Erinnerung.
„Warum grinsen sie so? Haben sie denn wirklich schon einmal unsere ‚sehr scharfe’ Wurst gegessen?
Ich winkte ab. Was sollte dieses Herumgerede; war ich der Kunde oder nicht? „Nun machen sie schon, bevor ich verhungere.“
Sie nickte: „Pommes oder Brot dazu?“ - „Nein, danke, nur die Wurst.“ - „Ich würde aber Brot empfehlen.“
Bald reichte es mir. Bekam ich nun endlich meine Wurst oder nicht? Aber die Verkäuferin schien nun verstanden zu haben und würzte. Ziemlich zurückhaltend, wie mir schien; Curry - Erwin war da großzügiger. Aber ich hielt mich mit Kritik zurück, sonst würde ich am Ende vielleicht nie meine Wurst bekommen. Endlich nahm ich die kleine Schale entgegen.
„Wirklich kein Brot?“
Ich hielt es nicht für notwendig, darauf zu antworten.
Die ersten zwei Wurststücke schlang ich heißhungrig hinunter, beim dritten Stück lief es siedend heiß durch meinen Körper. Mein Mund brannte, mein Hals brannte. Der Magen rebellierte und vor Tränen erkannte ich alles nur noch verschwommen. Was war mit mir geschehen? Brannte die Wurst vielleicht? Hatte man mir brennendes Öl in den Rachen geschüttet?
Lächelnd sah mich die Verkäuferin an: „Gut nicht? Und auch wirklich scharf. Aber das ist ja noch gar nichts. Wir verkaufen hier die Würste bis Schärfegrad vier, also so fünfzigtausend bis hunderttausend Scoville. In unserer Niederlassung in Berlin können sie Currywürste sogar mit bis über zwei Millionen Scoville kaufen.“ Sie lachte. „Aber die dürfen sie dann nur ab Achtzehn und auf eigene Gefahr essen.“ Sie blickte mich besorgt an. Es schien mir, als würden meine Augen aus dem Gesicht quellen.
„Ist ihnen nicht gut? Sie haben doch gesagt, dass sie scharfes Essen gewohnt sind.“
„Wasser“, krächzte ich, „Wasser.“
Sie kramte eine Flasche mit Drehverschluss hervor. „Kalt oder warm?“, fragte sie dann und hielt die Flasche in für mich unerreichbare Ferne.
„Egal, egal. Nur schnell“, meine Worte klangen wie ein einziges Hauchen. Die Schale mit der Wurst lag mittlerweile vor meinen Füßen am Boden. Beide Schuhe waren mit roter Currysoße bekleckert. Ich fächelte mir Luft zu und atmete hechelnd.
„Wasser bitte.“ - „Also ich würde ja an ihrer Stelle lieber etwas Brot essen. Das lindert den Schmerz besser!“
Ich schüttelte den Kopf: „Wasser, schnell.“
Die Verkäuferin nickte: „Gut, wie sie wollen. Macht vierfuffzig.“
Ich kramte einen fünf Euro Schein hervor und reichte ihn ihr. Dankbar nahm ich die Flasche entgegen. Ein Stück seitlich sah ich einen abgestellten Brunnen und ächzend ließ ich mich auf dessen Rand nieder. Meine Knie zitterten heftig. Dann setzte ich die Flasche an den Hals und trank in kleinen Schlucken. Das Wasser war kalt und durchfloss meine Kehle wie ein Strom von spitzen Nadeln. Ich verschluckte mich, hustete und übergab mich schließlich in den trockenen Brunnen.
Ein älteres Ehepaar ging kopfschüttelnd an mir vorbei. Ich hörte nur wie sie zu ihm sagte: „Dass diese Penner schon mittags betrunken in der Stadt herumlungern.“ Worauf er antwortete: „Dat is dat Genussfest, Luise, dat Genussfest!“
Das Wasser brachte nicht wirklich Linderung und ich brauchte noch eine geraume Weile, bis ich wieder einigermaßen normal atmen konnte. Nie und nimmer ging es bei dieser Currywurst mit rechten Dingen zu! Ich beschloss, um den kleinen Verkaufswagen einen großen Bogen zu schlagen. Sobald ich wieder gehen konnte.
Als es mir endlich wieder etwas besser ging, wankte ich - im Bogen um den Currywurstwagen herum - zu einem Bierstand. Der Wirt in dem Stand blickte mir misstrauisch entgegen und schüttelte den Kopf, als ich mich schwer atmend auf den Tresen stützte.
„Nee, nee Männchen. Hier krisse kein Bier!“ - „Wasser“, bat ich, „bitte ein Wasser.“ Er sah mich an: „Naja, Wasser geht. Drei Euro aber im Voraus.“
Ich zählte das Geld ab und stürzte das lauwarme Getränk herunter. Nie war mir klares Wasser leckerer vorgekommen. Auch wenn dieses kaum noch über Kohlensäure verfügte und lauwarm war. „Noch eins.“ Wieder legte ich das passende Geld auf den Tresen. Dieser Tag kostete mich ein Vermögen. Nach dem vierten Glas ging es mir einigermaßen besser, einmal abgesehen von dem Wasserbauch und der damit verbundenen Übelkeit. Als ich an die Wurst von eben dachte, musste ich ein wenig würgen.
„Datte mir hier nich hinkotzt“, herrschte der Mann mich an und wischte demonstrativ mit einem feuchten Lappen über die Theke. „Sie’ ma zu, datte weiterkomms.“
Ich hatte ohnehin genug getrunken und meine Beine trugen mich wieder tadellos. Guten Mutes setzte ich meinen Weg durch die Stadt der Knospen und des Genusses fort. Schnurstracks auf einen Stand zu, der verschiedenste Accessoires feilbot. Mützen, Schals, Handschuhe und auch Hüte. Ich schaute mir die Auslagen an und musste schmunzeln. Jonathan Lärpers der Privatdetektiv mit Schlapphut. Das könnte mein Markenzeichen werden!
„Wat grinste denn so dämlich oder willste wat kaufen?“ Die Dame auf der anderen Seite des Verkaufstisches schien entschieden zu haben, dass ich weniger ein Kunde wäre. Sonst hätte sie sich doch wohl kaum so rüde geäußert.
Ich ließ meinen ganzen Charme spielen: „In der Tat gute Frau, ich habe vor eines ihrer Exponate zu erwerben.“ - „Wat willste? Wat kaufen - wat denn?“
„Was soll denn dieser Hut dort kosten?“, erkundigte ich mich zeigte auf einen mittelbraunen Schlapphut.
„Dat iss en Damenhut. Wollste den selbst tragen?“ - „Der Hut sieht mir aber mehr nach unisex aus“, entgegnete ich und griff nach dem guten Stück. Nach einigem Suchen fand ich einen Spiegel. Perfekt. Die Kopfbedeckung stand mir wirklich gut. Sie betonte richtig das Detektivische in mir.
„Neunundsechzich neunzich. Un dat is nen Damenhut!“
Nun, das war ein stolzer Preis aber schließlich wollte ich mich nicht lumpen lassen. Ich blätterte siebzig Euro in die ausgestreckte Hand der Frau. „Stimmt so“, beschied ich großzügig. „Für ihre freundliche Bedienung.“
„Na, dat is ja wirklich großzügich. Zehn Cent! Willste noch wat kaufen?“
Ich winkte dankend ab. Mein Barvermögen näherte sich drastisch dem Nullpunkt. Mehr konnte und wollte ich mir jetzt nicht leisten.
Den Hut ließ ich gleich auf und machte mich mit meiner Errungenschaft auf den Heimweg. Wohlweislich wählte ich einen Weg, der mich in einem weiten Bogen um den Currywurststand herumführte. Auch den trockenen Brunnen mied ich.
Auf dem Weg in meine Wohnung klingelte ich noch einmal probeweise bei Chrissi. Vielleicht war sie ja jetzt zu Hause. Aber niemand öffnete und bevor wieder die misstrauische Nachbarin auftauchte, stieg ich die Treppe zu meiner Wohnung hinauf. Nun, vielleicht sollte ich den Schlapphut ja morgen ins Büro anziehen. Ich hielt das für eine prima Idee.