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VI.
ОглавлениеDie nächsten Tage vergingen wie im Flug - und ohne, dass ich wirklich einen Schritt bei meiner Suche nach den Dieben weiterkam. Birgit hielt sich ungewöhnlicher Weise zurück. Kein ‚Johni’ mehr und keine dummen Bemerkungen. Dafür stellte ich fest, dass sie ihre Augen und Ohren offen hielt und alles in unserer Umgebung genauestens beobachtete.
Sanurski, unser Abteilungsleiter, zeigte sich mit unseren Ergebnissen der Inventur einigermaßen zufrieden. Auch wenn er immer wieder betonte, dass wir mehr leisten könnten. Leider kam ich nicht mehr dazu, einen Abstecher in die Elektroabteilung zu machen und musste mich auf die Befragung der Kollegen in unseren Pausen beschränken. Allerdings stellte sich das Elektromännchen dabei so geschickt an, dass ich nichts Wichtiges aus ihm herausbrachte. Entweder war der Mann extrem dumm oder es handelte sich wirklich um den gewieften Verbrecher, den ich in ihm vermutete.
Nach dem Feiertagswochenende trat Sanurski eines Morgens zu uns. „Guten Morgen, Frau Zickler, Herr Lärpers. Ich möchte sie darauf hinweisen, dass heute einige Mitarbeiter der Firma Pleckla in unserer Abteilung sein werden, die die Regale dort drüben mit Waren auffüllen sollen. Dadurch kann es ein wenig hektisch und eng werden. Stören sie sich einfach nicht an den Kollegen. Übrigens brauchen sie die Waren, die neu in die Regale kommen, nicht zu erfassen. Das wurde vorab schon ins System gegeben. Sie arbeiten weiter wie gehabt.“
Mit einem kurzen Nicken zog Sanurski wieder von dannen. „Na, das kann ja heiter werden“, meinte Birgit nur, ließ aber offen was sie damit meinte. Wir widmeten uns wieder unserer öden Zählerei.
Während ich Packungen und Rollen von Toilettenpapier zählte - eigentlich müsste man alle auspacken und die einzelnen Blätter zählen, um auf eine wirklich genaue Inventurzahl zu kommen - ging mir nicht aus dem Kopf, wie ich es schaffen könnte, in die Elektroabteilung zu gelangen. Vielleicht ergab sich eine Gelegenheit, wenn die Kollegen an den Regalen arbeiteten. Ich nahm mir vor, meinen Hauptverdächtigen noch heute zu beschatten und womöglich das Geheimnis der Kaufhausdiebe zu lösen.
Die Mitarbeiter der Firma Pleckla trudelten gegen elf Uhr ein. Laut schwatzend und lachend traten nacheinander zwei Männer und zwei Frauen in unseren Gang. Alle trugen gleiche grüne Arbeitskittel und ich konnte mir nur mit Mühe die Bemerkung ‚wie Chirurgen’ verkneifen. Perplex blieben die vier stehen und betrachteten meine Kollegin und mich eingehend. Ich starrte zurück. Dann nickte einer der Männer uns kurz zu: „Hallo, wir sind von der Firma Pleckla. Lassen sie sich von uns nicht stören ...“
Birgit und ich murmelten ein ‚Guten Morgen’ und zählten weiter. Unauffällig beobachtete ich die Leute, die jetzt an uns vorbei zum Ende des Regals vordrangen. Der Mann, der zuvor mit uns gesprochen hatte, schien der Chef der kleinen Gruppe zu sein. Leise teilte er seine Leute zum Arbeiten ein. Ich schüttelte den Kopf. An diesen Menschen war nichts Ungewöhnliches. Ich musste mich wieder mehr auf meine Aufgabe, in die Elektroabteilung zu gelangen, konzentrieren.
Und endlich ergab sich auch eine Gelegenheit. Birgit kam gerade von einem ihrer zahlreichen Toilettengänge zurück und wollte an mir vorbei gehen, da nahm ich sie zur Seite: „Ich muss auch mal eben zur Toilette“, teilte ich ihr mit. „Halte du hier solange die Stellung.“
Meine Kollegin nickte.
Ich drehte mich um und wollte gerade den Gang entlanglaufen, als sie mich zurückrief: „Jon - athan, zur Toilette geht es aber da lang.“ Sie zeigte mit ausgestrecktem Arm in die Richtung, aus der sie eben gekommen war.
„Ja klar - aber viele Wege führen nach Rom“, konterte ich und grinste.
„Sicher, und viele Wege führen auch in die Elektroabteilung. Dass du dir diese unsinnige Idee immer noch nicht aus dem Kopf geschlagen hast. Du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass der Mann nichts mit den Diebstählen zu tun hat.“
Ich lachte. Birgit, die kleine, unerfahrene Detektivanwärterin schien ja mehr zu wissen, als ich. Was dachte sie eigentlich, wer sie wäre? Sherlock Holmes? Als ihr Chef und Ausbilder musste ich sie natürlich zurechtweisen: „Birgit, Birgit. Wie kommst du darauf, dass dieses Männlein nichts mit der Sache zu tun haben könnte? Denkst du vielleicht, du wärst Sherlock Holmes?“
Das würde ihr zu denken geben.
Aber die Zicke sah mich nur grinsend an: „Joh - nathan, Sherlock Holmes war ein Mann. Du könntest mich dann eher mit Casey Jones vergleichen. Obwohl ich von der Figur her doch ein wenig schlanker bin.“
„Casey wer?“, fragte ich. Mit was für einem Halbwissen wollte meine Kollegin denn jetzt wieder auftrumpfen? Außerdem könnte man doch vielleicht sagen: der weibliche Sherlo...
„Casey Jones. Eine Privatdetektivin in den Romanen von Katy Munger. Aber vielleicht kennst du ja Miss Marple?“
Ich blickte Birgit nur fragend an. Klar, von einer Miss Marp... hatte ich schon einmal gehört. War das ni...
„Jane Marple, die Amateurdetektivin in den Romanen von Agatha Christie. Jetzt sag’ nicht, dass du die auch nicht kennst.“
Ich nickte. Klar kannte ich die. Aber wen interessierten denn schon Romandetektive? Hier und jetzt spielte das wahre Leben und da galt es, dass der Privatdetektiv Jonathan Lärpers den Kaufhausdieb Elektromännchen dingfest machte. Nicht das tote Bücherwissen zählte. Ich hob die Hand, drehte mich um und stolperte fast über einen der Regaleinräumer. Mich entschuldigend hastete ich weiter. Das waren redliche, fleißige Arbeiter. Alle vier knieten vor dem Regal und holten auch noch aus der hintersten Ecke irgendwelche Kartons mit Waschmitteln, die sie ordentlich auf eine leere Palette stapelten. So war es recht, Platz für Neues schaffen.
Jetzt konnte mich aber niemand mehr aufhalten! Den Weg zur Elektroabteilung kannte ich ja noch und als ich durch die Buchabteilung ging, dachte ich kurz darüber nach, mir ein Buch von dieser Miss Kathy Mumper zu kaufen. Aber die Zeit drängte, bald würde die Mittagspause beginnen und das Männchen wäre nur noch im Aufenthaltsraum anzutreffen. Also musste der Buchkauf warten.
In der Elektroabteilung sah ich sofort meinen Verdächtigen. Der Mann sprach gerade mit einem ganz in schwarz gekleideten jungen Mann. Schwarze Hose, schwarzes Hemd und darüber ein weiter, schwarzer Mantel. Ich rieb mir die Hände. Dem Kameraden war doch seine schwarze Gesinnung schon an der Kleidung anzusehen! Jetzt hatte ich meinen Kaufhausdieb. Und auch noch in flagranti. Bei der in unauffälligem schwarz gekleideten Person konnte es sich ja nur um den Komplizen meines Diebes handeln. So stellten die das also an! Die Waren wurden unter dem weiten Mantel aus dem Kaufhaus getragen. Schlau, schlau. Ich beobachtete die beiden und ärgerte mich, keinen Fotoapparat zur Beweissicherung dabei zu haben. Jetzt hielt das Männchen dem Schwarzgekleideten eine Packung hin. Es war ziemlich sicher, dass die gleich unter dem Mantel verschwinden würde. Ich machte mich sprungbereit, um eingreifen zu können.
Aber die Packung verschwand nicht unter dem Mantel, vielmehr bewegten die beiden sich jetzt zur nächstgelegenen Kasse. Die Aktion wurde immer subtiler! Hatte der Schmächtige mich entdeckt? Das konnte aber eigentlich nicht sein, niemand sah zu mir herüber oder blickte sich verstohlen um. Jetzt griff der andere in seine Manteltasche. War dies der Augenblick? Aber er brachte lediglich seine Geldbörse zum Vorschein. Schließlich klopfte er dem schmächtigen Elektromännchen auf die Schulter, grinste breit und schüttelte ihm anschließend die Hand. Die Frau an der Kasse stand wartend daneben. War auch sie eingeweiht, deckte sie zu guter Letzt den Diebstahl?
Ich musste näher heran. Was wurde dort gesprochen? Vorsichtig umschlich ich ein Regal mit Computerspielen, ließ dabei aber die beiden nicht aus den Augen.
Und stolperte prompt über einen halbhohen CD - Ständer, der krachend zusammenbrach. Drei Augenpaare blickten mich fragend an, dann kam das Elektromännchen auf mich zu. Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, wie der Schwarzgekleidete an der Kasse zahlte.
„Jonathan. Du wieder hier? Suchst du wieder ein Buch oder kann ich dir diesmal helfen?“ Das Männchen deutete auf den Kunden an der Kasse: „Ein schwieriger Fall, der Mann suchte ein bestimmtes Computerspiel. Zum Glück wusste ich, dass wir genauso eines noch am Lager hatten. Und: voilà - wieder ein zufriedener Kunde. Wie kann ich dir helfen?“
Ich musste zugeben, das Männchen war mit allen Wassern gewaschen. Nicht nur, dass er mich beim Namen kannte, sondern auch die Tatsache, dass er dermaßen schnell eine Ausrede parat hatte, verblüffte mich. Eine Ausrede, die mir jetzt leider fehlte. Ich konnte ja schlecht wieder erzählen, dass ich mich beim Suchen der Buchabteilung verlaufen hatte. Blitzschnell griff ich mir eine CD aus dem am Boden liegenden Haufen.
„Diese CD hier möchte ich kaufen.“
Der Mann nahm sie mir aus der Hand, betrachtete das Cover und meinte schließlich: „Eine gute Wahl. Hochmodern, diese Musik. Die CDs von diesem Wim Schlensbow gehen aber auch weg wie geröstete Semmeln!“ Er zog mich zur Kasse, blickte dann auf seine Armbanduhr und fügte an: „Zahle doch einfach bei der Kollegin. Ich habe jetzt Mittagspause und ich denke, wir sehen uns gleich im Pausenraum. Viel Spaß mit der Musik.“
Birgit blickte auf die CD in meiner Hand. Dann grinste sie breit: „Diesmal kein Buch, Jon - athan? Was hast du dir denn diesmal Schönes gekauft?“ Resigniert hielt ich ihr die CD hin, doch Birgit schob sie nur zur Seite.
„Ich habe etwas beobachtet“, eröffnete sie mir stattdessen und sprach verschwörerisch leise. Dann zog mich meine Kollegin weiter von den Mitarbeitern der Firma Pleckla fort.
„Wir haben jetzt Mittagspause“, beschied ich ihr. Mein Magen knurrte und der Misserfolg in der Elektroabteilung ließ meine Laune auf den Nullpunkt sinken. Was die Zicke jetzt wieder zu berichten hatte, würde bis nach der Pause warten können.
Aber Birgit ließ nicht locker: „Das ist wichtig, Jon - athan. Hör mir wenigstens zu, danach kannst du ja in Pause gehen.“
„Du aber auch. Wir müssen schließlich zusammen Mittagspause machen.“
Birgit nickte ungeduldig. „Ja, ja. Also - ich habe vorhin die Vier von Pleckla beobachtet und dabei festgestellt, dass sie hochwertige Waren aus den Regalen auf die Paletten laden und anschließend lediglich die vorderen Reihen mit minderwertigem Ersatz auffüllen. Die Paletten bringen sie dann - sobald eine voll ist - fort.“
Ich musste schmunzeln. Meine Miss Marple! Was Birgit sich aber auch für Gedanken machte. Natürlich mussten die vollen Paletten ja fortgeräumt werden. Sonst würde hier ja alles die Gänge verstopfen. Machte die kleine Möchtegern - Detektivin sich denn darüber keine Gedanken? Einfachste Logik. Schließlich mussten die Gänge begehbar bleiben.
„Birgit, also“, holte ich zu einer umfangreichen Erklärung aus, „natürlich können die Waren nicht im Gang auf den Paletten bleiben. Da kommt doch kein Kunde mehr durch. Also müssen sie fortgeschafft werden. Das erklärt sich doch von selbst. Und jetzt lass’ uns endlich Pause machen, ich habe noch nichts gegessen.“ Schließlich warteten meine Brote auf mich. Vollkornbrote, denn die sättigten ganz ordentlich. In dieser Hinsicht - das musste ich zugeben - befolgte ich den Rat des Elektromännchens.
Ich lächelte die Zicke an. Aber Fräulein Zickler schien mir ihre weiteren Überlegungen und Beobachtungen mitteilen zu müssen. „Also, Jon - athan. Das stinkt mir gewaltig. Die räum...“
Ich unterbrach den Redeschwall: „Birgit! Hat das nicht Zeit bis nach der Pause? Mir knurrt der Magen und die Vier dort werden uns nicht weglaufen. Sieh’ nur, wie es scheint, arbeiten die sogar die Mittagspause durch. Das sind fleißige und ordentliche Mitarbeiter.“
Birgit zuckte mit den Schultern: „Wie du willst, Jon - athan. Aber sage später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“ Sie drehte sich um und schlurfte vor mir Richtung Pausenraum. Was war jetzt wichtiger als ein Pausenbrot!
Diesmal gab es genügend freie Stühle. Lediglich zwei Frauen und natürlich das Männchen aus der Elektroabteilung saßen an den Tischen. Wir gesellten uns dazu.
„Ah, da ist ja unser Musikliebhaber“, krakeelte der Mann direkt als er mich sah. „Hat mit sicherer Hand die neueste Wim Schlensbow CD herausgesucht. Allerdings nachdem er den ganzen CD Ständer umgerannt hatte ...“
Die beiden Frauen lachten. Auch Birgit konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Dann sah sie mich an: „Du hörst Wim Schlensbow? Soviel Musikgeschmack hätte ich dir gar nicht zugetraut.“
Ich nickte grinsend: „Du weißt so vieles nicht, Birgit. Ich war sogar Schlensbows Bodyguard bei einem Konzert hier in Gladbach. Da staunst du, was?“
Birgit schien das nicht sonderlich zu beeindrucken, aber die beiden Frauen - obwohl schon älteres Semester - blickten mich bewundernd an. „Das müssen sie uns erzählen. Sie waren der Bodyguard von Wim Schlensbow? Bei einem Konzert hier in Gladbach? Wann war das denn? Wir gehen zu all seinen Konzerten.“
Die Frauen löcherten mich mit Fragen. Ich warf mich in die Brust. Jetzt war es an der Zeit, von Jonathan Lärpers Heldentaten zu berichten. Ich biss rasch von meinem Brot ab und überlegte mir dabei, wie ich beginnen würde.
Dann traf mich der Tritt Birgits unter dem Tisch an das Schienbein und ihr böser Blick brachte mich zum Schweigen, bevor ich überhaupt geredet hatte. Urplötzlich verstand ich, was sie mir sagen wollte. Verdammt, das wäre beinahe schief gegangen. Da saß ich neben dem vermeintlichen Kaufhausdieb und fing an von unserer Detektei zu plaudern. Damit hätte ich unsere gesamte Aktion verraten können.
Birgit rettete die Situation: „Herr Lärpers hat wohl einmal kurz als Aushilfe bei einem Konzert geholfen - so wie er mir erzählte. Danach wurde er arbeitslos.“
Ich nickte. „Ja, das stimmt. Aber über Wim Schlensbow kann ich ihne...“
„Schade, unsere Pause ist um“, unterbrach mich Birgit. „Wir müssen wieder an die Arbeit. Vielleicht kann Herr Lärpers später mehr erzählen.“
Die beiden Frauen nickten.
„Jon - athan, Jon - athan. Das war verdammt knapp. Was ist nur in dich gefahren? Hast du unseren Auftrag vergessen?“
Ich schüttelte kleinlaut den Kopf. Wie konnte mir das nur passieren? Dann hatte ich eine Idee, wie ich Birgit von dem Thema ablenken konnte: „Was ist nun mit den Leuten von dieser Firma Pleckla? Was wolltest du mir vor der Pause erzählen?“
„Du willst ja nur von dem Thema ablenken ... Aber gut, Jon - athan. Dies ist schließlich wichtig. Ich habe beobachtet, wie die Vier die Regale leerräumten, also alles auf die Paletten luden und anschließend nur die vorderen Reihen wieder auffüllten.“
„Ja, vielleicht muss das aber so sein. Alte Ware raus, neue Ware rein.“
„Bestimmt, Jon - athan, das wäre ja auch in Ordnung, wenn sie neue Waren hereinbringen würden. Die Herrschaften nehmen aber Sachen aus anderen Regalen und füllen damit die leeren Reihen auf.“
„Aus anderen Regalen?“ Das konnte ich mir nun wirklich nicht vorstellen. Warum sollten sie das machen? „Das ergibt doch keinen Sinn, Birgit. Welchen Grund hätten die Mitarbeiter der Firma Pleckla, Waren auf eine Palette zu räumen, diese rauszubringen und nichts Neues einzuräumen? Deren Aufgabe ist es doch, neue Produkte in die Regale zu stellen.“
„Denk’ doch mal nach, Jon - athan. Stell dir einfach nur vor, dass die Vier die Waren aus dem Kaufhaus bringen und dann damit verschwinden.“
Das war schwer vorstellbar. Zumindest für mich. Meine kleine Miss Marple schien da eine lebhaftere Fantasie zu haben. Angestellte einer renommierten Firma, die Waren auf Paletten verluden und aus dem Kaufhaus schafften? „Liebe Miss Marple, das sind doch Hirngespinste.“ Ich lachte. Allein der Gedanke, dass diese vier fleißigen Arbeiter so etwas tun würden, war aber auch zu lustig.
„Und falls doch?“, fragte sie mich und blickte verschwörerisch am Regal entlang. Dann überlegte Birgit einen Moment, legte ihre Hand auf meinen Arm und sah mir direkt ins Gesicht: „Und wenn nun der Mann aus der Elektroabteilung hinter allem steckt? Er plant das Verbrechen von der Ferne und seine Ganovenkollegen räumen hier die Regale leer. Der Kopf der Bande sitzt in sicherer Entfernung. Ihn kann niemand belangen. Oder hast du bei deinen letzten Exkursionen in die Elektroabteilung etwas herausfinden können?“
Mittlerweile standen wir wieder an unserem Arbeitsplatz vor den Regalen. Die vier Leute waren nicht mehr zu sehen, aus einem der nächsten Gänge drang aber Gelächter herüber. Nun, hier schienen sie mit ihrer Arbeit offensichtlich fertig zu sein. Ich betrachtete die Reihen von Waschmitteln, Putzmittelflaschen und Toilettenpapierrollen.
Birgit stupste mich an: „Nun, was denkst du?“
Ja, was dachte ich? Ein schier unvorstellbarer Gedanke. Aber vielleicht doch nicht wirklich so abwegig. Das Elektromännchen war eindeutig der Hauptverdächtige. Was aber, wenn er seine Helfershelfer hier unauffällig arbeiten und klauen ließ? Das Ganze nahm ja ungeahnte Ausmaße an. Nur einm...
„Jon - athan? Schläfst du?“
„Natürlich nicht, ich denke nach. Aber da könnte eventuell etwas dran sein. Also, dass die Vier für unseren Kaufhausdieb arbeiten.“
„Deinen.“ - „Meinen?“ - „Ja, deinen Kaufhausdieb. Du verdächtigst ihn ja schließlich, nicht ich.“
Soviel Haarspalterei sah meiner kleinen Miss Marple natürlich ähnlich. Mein Kaufhausdieb - dein Kaufhausdieb. Naja. „Wir müssen herausfinden, ob an deiner Theorie wirklich etwas dran ist“, verkündete ich schließlich die Quintessenz meiner Überlegungen. „Bestimmt hat die angehende Superdetektivin da auch schon eine Idee?“
Birgit überhörte meine Spitze und nickte ernst: „Natürlich. Zunächst stellen wir fest, wie viel und was für Ware hier in dem Regal ist. Das geht schnell und einfach. Der erste Schritt quasi.“
Ich nickte. „Das deckt sich mit meinen Überlegungen. Und dann nehme ich mir noch einmal das Elektromännchen vor.“
Erneut legte meine Kollegin mir eine Hand auf den Arm. „Genau, Jon - athan. Aber das kommt ja später. Sollte an meiner Theorie etwas dran sein, dann müssen wir die Leute der Firma Pleckla observieren, sobald sie eine Palette aus dem Kaufhaus bringen. Damit erfahren wir dann, wohin sie die Sachen bringen.“
„Ja“, nickte ich, „und erwischen den Mann aus der Elektroabteilung dabei, wie er die Waren zur Seite schafft.“
Birgit stöhnte leise auf. „Ja, Jon - athan. Bestimmt.“
Wir überprüften die eingeräumten Waren. Birgit kniete vor dem Regal und nahm einige Pappkartons mit Waschpulver heraus. „Siehst du, Jon - athan, alles nur das billige Noname - Zeug. Und hier - bitte - keine zweite Reihe.“
Ich knurrte. Vielleicht sollte ja das billige Zeug in die Regale eingeräumt werden. Der Kunde musste ja nicht unbedingt immer den Markenquatsch kaufen. Obwohl: ‚Wat nix kost - dat is auch nix’. Eine durchaus wahre Regel für den Alltag.
„Gut, das muss aber nicht unbedingt etwas zu sagen haben. Wir sollten den Abteilungsleiter fragen, der müsste ja schließlich wissen, ob die Regale mit dieser Ware eingeräumt werden sollten.“
„Und was ist mit dem leeren Raum dahinter? Das ist auch nicht normal.“
Ich überlegte. War das wirklich nicht normal? Sicher, beim Zählen zuvor waren die Reihen voll gewesen. Nicht ein Millimeter Lücke. Aber konnte dies nicht ein neues Konzept des Kaufhauses sein? „Vielleicht ist das richtig so“, meinte ich dann auch logisch knallhart schlussfolgernd. „Weniger ist mehr.“
Birgit tippte sich an die Stirn. „Natürlich - und nichts ist viel.“
Diesen Spruch hatte ich zwar noch nicht gehört, er klang aber gut. Ich nahm mir vor, ihn mir zu merken. Derweil bugsierte mich Birgit um das Regal herum. Hier befanden sich weitere Reinigungs- und Pflegemittel. Ohne langes Federlesen zog sie mehrere Flaschen mit Mundspülung hervor. „Und bitte, was siehst du hier? Die Regale sind voll. Randvoll. Nicht nur die erste Reihe.“
„Das kann Zufall sein“, meinte ich leichthin und betrachtete eine der Flaschen. Mundspülung. Hmm. Das gab frischen Atem für den Tag - oder die Nacht. Je nachdem. Ich beschloss, ein paar dieser Flaschen zu kaufen. Später.
„Jon - athan? Wovon träumst du?“ - „Ich? Nichts, nichts. Ich dachte nur gerade, dass wir der Sache genau auf den Grund gehen müssen.“
Die hatten sogar zwei Sorten hier: Pfefferminz und Zahnfleischschutz. Brauchte ich Zahnfleischschutz? Eigentlich nicht. Die preisgünstigere Variante mit Pfefferminzgeschmack wäre für mich vollkommen ausreichend.
„Jon - athan? Was für wichtige Gedanken beschäftigen dich jetzt wieder? Du siehst so weggetreten aus ...“
Dass die Kleine nicht einmal den Mund halten konnte. „Wir müssen jetzt weitere Schritte einleiten.“ Pfefferminz, meine Entscheidung stand fest. Schließlich ging es meinem Zahnfleisch ausgezeichnet. Ich prüfte vorsichtig mit der Zunge. Nein, alles in Ordnung.
„Also, Jon - athan, was machen wir jetzt? Sollen wir die Leute observieren, sobald sie mit der Palette abhauen?“
„Genau, Birgit. Das habe ich auch gerade gedacht. Ich werde sie beobachten. Unauffällig, schließlich bin ich Profi. Sobald wir wissen, woran wir sind, können wir unser weiteres Vorgehen planen.“ Ich bedeutete Birgit mit der Zählerei fortzufahren. Dann schlich ich vorsichtig um die Regalreihe, bis ich die vier Einräumer fand. Lachend standen sie vor einer halbvollen Palette und schienen sich über irgendetwas zu amüsieren. Verstehen konnte ich leider nichts. Aber das musste ich ja auch nicht. Möglichst unauffällig verharrte ich hinter einem Stapel Kisten mit Gebissreiniger.
Bis sich eine Hand in mir wohlbekannter Art und Weise auf die Schulter legte. Langsam drehte ich mich um und blickte in das rote Gesicht Sanurskis.
„Was um alles in der Welt machen sie hier, Lärpers?“, schrie er und bekam auch sofort die Aufmerksamkeit der Vier. Die waren jetzt verstummt und schauten neugierig zu uns herüber.
„Sie sollen doch verdammt nochmal die Bestände zählen. Und das nicht hier, sondern dort hinten!“ Er zeigte mit dem Daumen in die Richtung, in der sich unsere Regale befanden.
Wieder einmal musste ich improvisieren und das tat ich - zugegebenermaßen - perfekt: „Ich wollte mir nur schnell“, schrie ich in der gleichen Lautstärke wie Sanurski, damit mich die zwei Frauen und Männer auch verstehen konnten, „eine Packung hiervon holen.“ Rasch zog ich eine Packung des Gebissreinigers aus dem Stapel und hielt sie Sanurski hin. Während hinter mir der Stapel polternd zusammenbrach, schrie ich erneut: „Nur eine Packung von ihrem schönen Sonderangebot hier. Ich wollte sie auch direkt bezahlen.“
„Lärpers, Lärpers! So geht das nicht. Sie sind hier um zu arbeiten und nicht, um durch die Abteilungen zu schleichen. Dafür werden sie nicht bezahlt. Einkaufen können sie nach ihrer Schicht oder in der Pause. Aber nicht mittendrin. Haben sie das verstanden?“
Bei der Lautstärke wäre es schwierig gewesen, die Worte nicht zu verstehen und so nickte ich nur ergeben.
„Dann räumen sie den Mist hier jetzt auf und kehren umgehend an ihre Arbeit zurück. Entweder sie machen heute länger und holen die verlorene Zeit nach oder ich ziehe ihnen die Stunde vom Arbeitslohn ab. Und jetzt sehen sie zu, dass sie unser Sonderangebot wieder genauso schön auftürmen, wie es vor ihrer Zerstörung war.“ Wutschnaubend drehte Sanurski sich um und ließ mich allein.
Ich warf einen Blick auf die Leute der Firma Pleckla, musste aber feststellen, dass die mittlerweile mit ihrer Palette verschwunden waren. Ein Ärgernis nach dem anderen!
Natürlich würde ich die Stunde nicht länger arbeiten, sollte Sanurski mir doch so viel Geld abziehen, wie er wollte. Hätte ich die Kaufhausdiebe erst einmal überführt, so würde er mir seine Dankbarkeit schon ganz von alleine zeigen.
Dafür sprudelte Birgit direkt mit Neuigkeiten heraus, kaum dass ich wieder vor meinem Regal stand: „Vorhin war Sanurski hier und hat dich gesucht.“
Na gut, das war keine Neuigkeit für mich. „Weiß ich, er hat mich ja auch gefunden. Wieso kommt der Kerl eigentlich immer dann, wenn man ihn nicht gebrauchen kann? Ich war so nahe daran die Diebe zu überführen.“ Ich hielt Daumen und Zeigefinger wenige Zentimeter auseinander, um Birgit begreiflich zu machen, wie nahe ich an der Bande heran gewesen war.
„Ich habe mit Sanurski gesprochen und er ...“ - „Ich auch“, unterbrach ich meine Kollegin. Die sah mich jetzt irritiert an, zuckte mit den Schultern und meinte: „Die Leute der Firma Pleckla arbeiten morgen in der Elektroabteilung.“
„Ha“, jubelte ich, „jetzt schnappe ich sie alle zusammen. Das Elektromännchen und seine Diebesbande.“ Voller Vorfreude rieb ich mir die Hände. Der morgige Tag war meiner.
„Ja, aber Jökelmöller wird in der Schuhabteilung eingesetzt.“
Was wollte die Zicke denn jetzt wieder von mir? „Und wer ist Jökelmöller? Sollte ich den kennen, liebe Birgit?“
Die Zicke nickte: „Jökelmöller ist dein schmächtiger Freund aus der Elektroabteilung. Dein Hauptverdächtiger.“
Aha. Ich kombinierte. Die gemeine Diebesbande ging in die Elektroabteilung, während der Hauptverdächtige und Organisator sicher bei den Schuhen saß! Wie raffiniert der Mann doch war.
„Sanurski hat mir das unter dem Siegel der Verschwiegenheit berichtet“, fuhr Birgit fort. „Jökelmöller, also dein Elektromännchen, weiß nämlich noch nichts davon, dass er morgen in der Schuhabteilung aushelfen muss. Das erzählt ihm unser Abteilungsleiter erst morgen früh.“
Ich schüttelte den Kopf. So viele Informationen auf einmal. Das Männchen aus der Elektroabteilung hieß Jökelmöller. Gut und schön, dafür konnte der Mann ja schließlich nichts. Aber jetzt sollte er nichts davon wissen, dass Sanurski ihn zu den Schuhen versetzte? Am gleichen Tag, an dem die Mitarbeiter der Firma Pleckla Elektro unsicher machen würden? Mir schwirrte der Kopf. Wie passte das jetzt alles zusammen? Steckte am Ende Sanurski da auch noch mit drin? Aber Birgit unterbrach abrupt meine wilden Gedankengänge.
„Außerdem trennt Sanurski uns beide. Er ist der Meinung, dass du mich alleine arbeiten lässt und zu viel deinen eigenen Interessen nachgehst. Ich konnte ihm ja schlecht erklären, dass wir hinter den Kaufhausdieben hinterher sind.“
„Was heißt das denn jetzt schon wieder?“, stöhnte ich und sah Schlimmes auf mich zukommen. Wieso Birgit und mich trennen?
„Sanurski setzt mich in der Elektroabteilung ein. Du sollst hier weiter Inventur durchführen. Aber das wird er dir morgen früh noch selber sagen.“
Erneut musste ich aufstöhnen. „Wie kommt dieser Idiot denn auf so eine hirnrissige Idee?“, wollte ich wissen, obwohl Birgit mir wohl kaum die Lösung würde sagen können.
„Das war meine Idee“, grinste sie mich an und lachte leise, als mein Unterkiefer hörbar nach unten klappte. „Sanurski sprach davon, uns zu trennen. Und er erwähnte, dass die Einräumer morgen in der Elektroabteilung tätig wären. Was lag da näher, als ihm nahezulegen mich in die Elektroabteilung zu versetzen.“
Ich schüttelte den Kopf: „Ich muss in die Elektroabteilung! Nur so kann ich die Diebesbande überführen. Es kann doch nicht sein, dass ich hier die Kartons zählen soll, während sich das ganze Geschehen drüben abspielt.“ Ich musste unbedingt mit Sanurski reden. Das war doch ein Ding der Unmöglichkeit, dass meine gesamte Observation den Bach herunterging.
Meine vorsichtig vorgebrachte Argumentation am nächsten Morgen, warum ausgerechnet ich jetzt weiter Waren zählen und nicht in der Elektroabteilung arbeiten sollte, schob Sanurski mit dem Wedeln seiner rechten Hand beiseite. „Lärpers“, meinte er, „sie kennen doch Fräulein Zickler kaum. Ich denke sie beide wurden vom Arbeitsamt hergeschickt und kannten sich vorher noch nicht. Oder habe ich da etwas verpasst? Stehen sie in irgendeinem Verhältnis zu der jungen Frau?“
Ich schüttelte den Kopf. Wie sollte ich argumentieren? Dass ich der ausgebildete Detektiv auf der Suche nach den Kaufhausdieben war? Keine gute Idee, insbesondere dann, wenn unser Herr Abteilungsleiter selber in die Sache involviert war. Schließlich musste ich mich resigniert geschlagen geben.
„Aber ich bin ein Mann und wir Männer kennen uns doch wesentlich besser mit der Technik aus, als die Frauen“, brachte ich ein letztes, für meine Begriffe wirklich logisches, Argument vor. Doch Sanurski winkte ab: „Dann beantworten sie mir doch bitte folgende Frage - die Fräulein Zickler übrigens mit großer Sachkenntnis erklären konnte: Worin besteht der gravierendste Unterschied zwischen einer DVD und einer BD?“
Ich musste lächeln. Natürlich würde ich den Unterschied besser erklären können als Birgit. Das lag einfach in der Natur der Sache; schließlich war ich der Mann. Nur - was zum Teufel war eine BD? Ich sah Sanurski fragend an: „Nun, der Unterschied ist ganz einfach. Aber zunächst: können sie BD ein wenig spezifizieren?“
Sanurski sah mich an, als wäre ich der größte Idiot unter der Sonne. „Lärpers, ich glaube sie sind dort, wo sie gerade arbeiten, bestens aufgehoben. BD steht für Blu-ray Disk. Schon mal gehört? So und jetzt an die Arbeit. Sie vertrödeln hier meine Zeit und es gibt noch jede Menge Artikel zu zählen. Also los.“
Mittags traf ich Birgit wieder im Pausenraum. Das zum Schuhmännchen mutierte Elektromännchen war diesmal nicht da, dafür mehrere der Frauen. Ich versuchte ein paar diskrete Worte an meine Kollegin zu richten: „Und wie läuft’s? Was ist mit unseren Freunden von Pleckla?“
Birgit beugte sich verschwörerisch vor. Sie flüsterte ebenso leise wie ich: „Die Vier sammeln fleißig Blu-ray Player und Fernseher. Ich schätze, dass die erste Palette nach dem Mittag fertig sein wird. Deswegen muss ich meine Pause auch frühzeitig beenden und zusehen, dass ich den Abtransport mitbekomme.“
Ich nickte. Das war die Gelegenheit - ich würde später einfach mit ihr in die Elektroabteilung gehen. Die Pause ein wenig früher beenden. Ein Plan entstand in meinem Kopf. „Ich komme mit dir in die Elektroabteilung“, eröffnete ich Birgit meine Gedanken. „Wir gehen etwas früher aus der Pause zurück und observieren die Leute. Also ich jedenfalls. Du hältst die Stellung in der Elektroabteilung, während ich unauffällig der Spur der Palette folge!“
Birgit schüttelte den Kopf. „Das fällt auf, Jon - athan. Dann schöpfen die doch direkt Verdacht. Vielmehr“, sie sah mich an und ein verschmitztes Lächeln glitt über ihr Gesicht, „wäre es doch sinnvoller wenn wir uns aufteilen und du die Bande vom Kopf her erwischst.“
Verdutzt blickte ich meine kleine Miss Marple an. Was meinte sie nun wieder damit? Die Bande vom Kopf her erwischen? Ich würde sowohl Kopf und Körper dingfest machen. „Was meinst du? Von was für einem Kopf?“
„Ganz einfach, Jon - athan. Der Kopf der Bande ist doch Jökelmöller. Und der sitzt momentan in der Schuhabteilung. Du begi...“
„Eine großartige Idee, Birgit. Ich weiß, was du meinst: Ich observiere das Schuhmännchen und wir nehmen alle zeitgleich beim Diebstahl der Waren fest.“ Ich schlug mir spielerisch gegen den Kopf. „Da hätte ich aber auch selber drauf kommen können. Jökelmöller ist schließlich der Kopf der Bande. Sehr gut, Frau Miss Marple“, lobte ich dann meine Kollegin großzügig. So ein Lob hin und wieder hebt die Moral. „Jetzt aber los, sonst ist die Pause gleich um.“
Geduckt schlich ich in der Schuhabteilung hinter einigen Regalen herum, während ich mir zur Tarnung einen großen Karton mit irgendwelchen Freizeitschuhen vors Gesicht hielt. Diesmal würde das Elektro - Schuhmännchen mich nicht erwischen. Ich sah mich sorgfältig um. Weit und breit niemand, der mir gefährlich werden konnte. Weit und breit kein Jökelmöller oder Abteilungsleiter Sanurski.
Dafür sprach mich plötzlich eine Stimme von hinten an: „Hallo, junger Mann. Kann ich ihnen helfen? Wollen sie die Schuhe da anprobieren?“
Langsam drehte ich mich um. Eine der korpulenteren Frauen aus dem Pausenraum stand vor mir. „Ach, sie sind es, Herr Lärpers, richtig?“ Ich nickte. Dann hielt ich einen Finger vor den Mund: „Leise, ich suche Herrn Jökelmöller.“ - „Leise? Wieso leise. Schleichen sie deswegen hier so herum? Weil sie den guten Jökel suchen?“
Jökel, aha. „Ja, ich suche Herrn Jökelmöller.“ - „Der ist nicht hier. Jökel hat sich doch heute krank gemeldet. Wussten sie das denn nicht? Der arbeitet doch in der Elektroabteilung.“
„Nein“, erklärte ich ruhig und gleichzeitig schlugen die Gedanken in meinem Hirn Purzelbäume. „Herr Jökelmöller sollte doch heute hier in der Schuhabteilung eingesetzt sein.“
Die Dame sah mich kopfschüttelnd an: „Sollte er das? Davon weiß ich nichts. Aber die Kollegen erzählten sich während der Pause, dass Jökel heute krank ist. Kommt doch auch schon mal vor, oder?“
Ich nickte. Ja kam doch auch schon mal vor.
„Wollen sie die Schuhe nun anprobieren oder nicht?“ - „Ich kaufe sie. Wo ist denn die Kasse?“
Die Frau sah mich skeptisch an: „Ohne Anprobe?“ - „Ja, die werden schon passen.“
Sie nahm mir den Karton ohne ein weiteres Wort zu verlieren ab und ging Richtung Kasse. Ich atmete auf. Noch einmal gut gegangen! Ja, ein Jonathan Lärpers hatte schließlich eine Menge Tricks auf Lager.
„Zweiundneunzig Euro und fünfzig. Sie wissen aber wohl, dass das Damenschuhe sind?“
Damenschuhe? Ich blickte auf den Karton. Richtig, da stand groß und breit ‚Damenschuhe’.
„Sind für eine Freundin“, murmelte ich und schob ihr zwei fünfzig Euro Scheine hin.
„Wollen sie auch eine Tüte? Die kostet nämlich extra zwanzig Cent.“
Bevor ich noch antworten konnte, erklang eine wohlbekannte Stimme hinter mir: „Nein, der Herr möchte keine Tüte für die an seinem letzten Arbeitstag gekauften Schuhe!“
Ohne dass ich mich umdrehen musste, wusste ich, wer da wieder hinter mir stand: Sanurski - mein Abteilungsleiter.
„Mensch, Lärpers. Warum sind sie nicht an ihrem Arbeitsplatz? Ich habe sie doch gewarnt. Einkaufen dürfen sie nur in der Pause oder nach Arbeitsschluss. Und jetzt erwische ich sie hier, exakt zwanzig Minuten nachdem sie eigentlich wieder an ihrem Platz die Kartons zählen sollten. Zahlen sie die Schuhe jetzt und dann kommen sie in mein Büro. Und beim Arbeitsamt bestellen sie einen schönen Gruß von mir, dass wir solche Pfeifen wie sie nicht gebrauchen können!“
Während ich mein Wechselgeld entgegennahm, stob Sanurski mit hochrotem Kopf davon.
Die Verkäuferin sah mich bedauernd an und es tat richtig gut, dass meine Entlassung doch einem Menschen so nahe ging. „Schade, sie haben uns ja noch gar nichts von Wim Schlensbow erzählt“, seufzte sie. „Sie müssen wissen, wir sind richtige Fans von ihm. Der Mann kann aber auch so gut singen ...“
Mit meinem Schuhkarton unter dem Arm betrat ich die Elektroabteilung. Sanurski würde warten müssen, mehr als rausschmeißen konnte der Mann mich ja schließlich nicht. Suchend blickte ich mich um. Wo war Birgit, wo die vier Arbeiter von Pleckla? Gut getarnt als Kunde mit getätigtem Warenkauf, lief ich suchend durch die Gänge. CDs, DVDs, Computerspielgeräte, Fernseher, CD Player. Aber keine Birgit. ‚Vermutlich sind die schon mit der Palette unterwegs’, folgerte ich messerscharf und überlegte, wohin sie die Waren wohl bringen würden. Vielleicht ins Lager. Richtig. Irgendwo musste es ein Lager geben, in dem all die Sachen lagerten. Wie der Name sagte: Lager.
Hatte nicht Jökelmöller auch von einem Lager gesprochen? Dort, wo er noch ein letztes Videospiel für den merkwürdigen Kunden fand? Ich sah mich um. Türen zum Lager waren im Allgemeinen etwas größer. Größer jedenfalls als die Tür, auf der ‚Personal’ stand. Dann endlich fand ich sie. Ziemlich unauffällig und ein wenig hinter einer Regalwand versteckt. Es handelte sich um eine Doppeltüre, die auch groß genug war, um einen Hubwagen mit Paletten durchzulassen.
Vorsichtig drückte ich die Klinke nieder. Geräuschlos schwang die Tür auf. Ein kurzer Rundumblick zeigte mir, dass niemand in der Nähe war. Es würde mir jetzt noch fehlen, wenn Sanurski wieder hinter mir stünde. Aber niemand da. Prima. Leise schlich ich durch den schmalen Spalt der geöffneten Tür, dann schloss ich sie vorsichtig und ohne ein Geräusch zu verursachen. Ein kurzer, dämmeriger Gang empfing mich, der lediglich schwach von einigen Lampen erhellt wurde. Das konnte nur der Weg zum Lager sein. Hinter einer weiteren Doppeltüre befand sich wirklich ein großer Lagerraum. Lautlos schloss ich auch diese Tür hinter mir. Hier war die Beleuchtung etwas besser, an der Decke befanden sich in regelmäßigen Abständen Leuchtstofflampen. Sofort suchte ich mir eine passende Deckung. Dann schaute ich mich in dem Raum um. Hohe Regale säumten die Wände und einzelne Kisten und Paletten standen in Gruppen davor. Ein schmaler Gang - gerade breit genug für einen Hubwagen mit Palette - blieb in der Mitte frei.
Das Lager. Ort der Waren. Hort verkäuflichen Gutes. Hier nahm alles seinen Anfang. Doch ich durfte mich jetzt von meinen Gedanken nicht ablenken lassen. Wo befand sich Birgit? Ich konnte sie nicht sehen. Auch nicht die Palette oder die Leute der Firma Pleckla. Wo steckten die alle? War ich im Endeffekt doch auf der falschen Fährte?
Ich beschloss, mein Versteck zu verlassen und weiter in den Raum vorzudringen. Vorsichtig schlich ich an einigen Paletten vorbei. Immer bereit, mich dahinter Schutz suchend zu ducken. Zwischendurch lauschte ich auf irgendwelche Geräusche oder Stimmen, vernahm aber nicht den geringsten Ton.
Ob dieses Kaufhaus am Ende über vielleicht mehrere Lager verfügte und ich mich im falschen befand? Eine weitere Doppeltüre erregte meine Aufmerksamkeit. Mittlerweile war ich mir sicher, dass sich niemand außer mir in diesem Raum befand. Trotzdem schlich ich so leise wie möglich zu der Türe. Auch sie schien nicht verschlossen, denn nachdem ich die Klinke heruntergedrückt hatte, öffnete sich ein Flügel quietschend. Erschrocken hielt ich inne. Tageslicht drang durch den Spalt. Aha, dies war eine Außentür. Trotz anhaltenden Quietschens zog ich den Flügel weiter auf.
Und blickte zunächst auf das Heck eines Transporters. Eine der hinteren Türen stand offen und im Inneren erkannte ich mehrere Paletten. Dann blickte ich in die Mündung einer Pistole. Anders als beim Wagen, erkannte ich den Typ direkt: Eine Ruger SR9.
Jetzt ist der Blick in die Mündung einer Waffe nicht besonders angenehm. Besonders dann, wenn der Besitzer einen böse angrinst. „Du hast uns gerade noch gefehlt! Deine kleine Freundin haben wir schon kassiert, da kommst du gerade recht. Glaubt ihr denn, wir hätten nicht bemerkt, wie ihr uns beobachtet habt? Und als die Kleine vorhin auch noch hinter uns her schlich, da war der Ofen voll.“
„Ofen aus oder Maß voll“, korrigierte ich, erntete aber lediglich ein Achselzucken.
„Klugscheißer biste wohl auch noch? Jedenfalls lassen wir uns nicht von irgendwelchen Aushilfsarbeitern an die Karre pissen.“
Der Mann redete und redete. Dabei fuchtelte er mit seiner Pistole herum. Hätte ich es nicht besser gewusst, dann wäre meine Angst vor einem unabsichtlichen Schuss recht groß geworden. Nun hat die Ruger SR9 aber eine Eigenschaft, die die Waffe und die Bedrohung berechenbar macht: Befindet sich nämlich eine Patrone in der Kammer, dann schnellt eine Anzeige auf dem Schlitten heraus, die an beiden Seiten rot gekennzeichnet ist. Eine nette Sicherheitsmaßnahme der Firma Sturm & Ruger Inc., die diese Waffe seit dem Jahr Zweitausend herstellt.
Und solch eine Anzeige konnte ich beim besten Willen nicht ausmachen. Also befand sich auch keine Patrone in der Kammer. Ich lächelte. Es dürfte nur noch Sekunden dauern, bis dieser Knabe vor mir im Staub liegen würde. Unauffällig sah ich mich nach seinen Kollegen um, konnte aber niemanden entdecken. Die befanden sich wohl schon im Transporter. Ich setzte schon zum oft geübten Krav Maga Schlag an, als die Worte des Gangsters meine noch nicht begonnene Bewegung auch schon im Keim ersticken ließen.
„Der Chef wird sich freuen, euch Früchtchen begrüßen zu dürfen.“ Wieder wedelte er mit der Waffe herum. „Los, rein in den Transporter. Und gib ja keinen Mucks von dir, sonst knall ich dich schneller ab, als dir lieb ist!“
Ich nickte ernst. ‚Der Chef wird sich freuen’, nun ja. Ich beschloss, das Spiel mitzuspielen und den Chef dieser Bande kennenzulernen. Zwar könnte ich die Typen jetzt und hier dingfest machen, aber meine Neugier siegte. Mit gesenktem Kopf ließ ich mich an die Seite des Transporters zu einer Schiebetür führen. Im Fahrerhaus erkannte ich seine drei Komplizen, die uns jetzt neugierig anblickten. „Noch einer“, grinste mein Bewacher und öffnete die Tür. Verzweifelt blickte mir Birgit entgegen. Die Ganoven hatten ihr die Hände und den Mund mit Klebeband gefesselt. Unauffällig nickte ich ihr beruhigend zu.
„Los, die Hände nach hinten!“ Klebriges Gewebeband wurde um meine Handgelenke geschlungen. Dann bekam ich einen Stoß in den Rücken und stolperte mit Mühe in den Transporter. Unangenehmerweise schlug ich mir dabei das Knie an. Ich beschloss dies dem Gauner später heimzuzahlen.
„Kein Wort, sonst knall ich dich ab!“ Krachend schlug die Tür zu. Dann hörte ich, wie die hintere Türe ebenfalls geschlossen wurde. Im Innern des Transporters wurde es dunkel, zumal es weder Fenster, noch eine Verbindung zur Fahrgastzelle gab. Birgit stöhnte gequält auf.
„Keine Sorge, Birgit“, beruhigte ich sie. „Ich habe alles im Griff.“
Sie murmelte etwas, das ich aber nicht verstehen konnte. Wenige Sekunden später setzte der Wagen sich in Bewegung. Mit quietschenden Reifen und aufbrüllendem Motor schoss das Fahrzeug vorwärts. Um wirkliche Profis konnte es sich hier nicht handeln, die wären unauffälliger vom Hof gefahren.
Wir wurden in dem Transporter arg durchgeschüttelt und mehr als einmal befürchtete ich, dass die Paletten neben uns umkippen oder ins Rutschen kommen könnten. Birgit blickte mich ängstlich an und ich sprach beruhigend auf sie ein. Dann endlich stoppte der Wagen mit quietschenden Reifen. Türen schlugen und krachend öffnete sich unsere Schiebetür. Erneut blickten wir in die Mündung der Ruger.
„Los raus! Alle beide.“
Das grelle Sonnenlicht blendete mich und ich blinzelte in die Helligkeit, bevor ich von der niedrigen Ladekante sprang. Beinahe wäre ich ins Straucheln gekommen, was ich im letzten Moment aber verhindern konnte. Mit den Händen auf dem Rücken hätte ich mich bei einem Sturz unweigerlich verletzt.
Wir standen vor einer Lagerhalle in so einer Art Industriegebiet. Ein langgestreckter Bau, der sich in nichts von den üblichen Lagerhallen unterschied. Die beiden Frauen verschwanden gerade durch eine kleine Türe, die rechts von einem Tor angebracht war. Der zweite Mann dieses Diebes - Kleeblatts machte sich an den Hecktüren des Transporters zu schaffen. Kurze Zeit später öffnete sich das Rolltor rasselnd und eine der Frauen erschien mit einem Hubwagen. Die Gauner waren gut organisiert, stellte ich fest. Jetzt galt es nur noch herauszufinden, wie schwer bewaffnet die Truppe war. Verfügte jeder der Gangster über eine Pistole, oder war die Ruger die einzige Waffe? Und die Hände musste ich freibekommen. Leider erwies sich das Klebeband als äußerst widerstandsfähig. Ohne Birgits Hilfe würde ich kaum freikommen.
„Los, ab in die Halle“, befahl unsere Wache jetzt und stupste mich mit der Pistole an. Wirklich prima, dass keine Patrone in der Kammer war. Birgit sah mich hilfesuchend an und ich nickte ihr zu.
Die Halle stand voll mit Paletten, auf denen Waren aller Art gestapelt waren. Ich stellte fest, dass das Kaufhaus Kaufstatt offensichtlich nicht alleine von den Dieben heimgesucht wurde. „Da rüber, in das Büro!“ Wieder ein unsanfter Knuff mit der Pistole. Der Mann schien Gefallen daran zu finden, mir seine Waffe in den Rücken zu piksen. Ich würde ihm später - nur so zum Spaß - auch ein paar blaue Flecken verpassen.
Wir stolperten in das kleine Büro, das mit Aktenschränken vollgestopft war. In der Mitte des Raumes stand ein schmuddeliger Schreibtisch hinter dem ein fetter Mann mit einer Zigarre im Mund saß.
„Sind das die beiden?“, fragte der Zigarrenraucher und offenbarte damit das ganze Ausmaß seiner Intelligenz. Wer sonst, außer ‚den beiden’ sollten wir denn sein? So gefesselt wie wir vor ihm standen.
„Das sind sie Boss. Die haben uns hinterher geschnüffelt. Da die Frau und der Mann.“ Der Pistolenträger zeigte mit seiner Waffe erst auf Birgit, dann auf mich. Musste er seinem Chef jetzt erklären, wer von uns beiden Mann und wer Frau war?
Der Fette lehnte sich in seinem Sessel zurück, der ein bedenkliches Knarren von sich gab. Ich musste grinsen, als ich mir vorstellte, wie der Mann mit seinem Sessel nach hinten umkippte.
„Was gibt es denn da zu grinsen?“, grollte er mich mit der Zigarre im Mundwinkel an und stieß eine Rauchwolke aus. „Du scheinst das ja noch ganz lustig zu finden. Aber das Lachen wird euch schon noch vergehen. Was schleicht ihr auch meinen Leuten hinterher?“
„Wir sind niemandem hinterhergeschlichen“, erwiderte ich und machte dabei ein ängstliches Gesicht. „Ich habe meine Kollegin hier gesucht und bin dabei zufällig auf ihre Leute gestoßen. Wir sind doch nur einfache Angestellte, die vom Arbeitsamt vermittelt wurden.“ Dabei schaffte ich es meine Stimme ein wenig weinerlich klingen zu lassen. „Bitte lassen sie uns gehen, wir haben doch gar nichts getan.“
„Das könnte euch so passen. Und uns dann an die Polizei verpfeifen.“ Der Fette paffte aufgeregt an seiner Zigarre, dann sah er den Mann mit der Waffe an: „Ist dieser Sanurski auf dem Weg?“ - „Ja Chef, der müsste jeden Augenblick eintreffen.“ - „Gut, gut. Er soll sofort zu mir kommen. Wir mü...“
Der ‚Chef’ wurde durch einen Tumult in der Lagerhalle unterbrochen. Erst erklang ein Aufschrei, dann zerbarst klirrend Glas. „Verdammt, was ist denn da los?“ Mühsam erhob er sich aus seinem Sessel und stapfte Richtung Tür. „Du passt auf die beiden auf, ich bin gleich wieder zurück.“
Der mit der Pistole nickte, richtete die Waffe bedrohlich auf uns und blickte seinem Chef hinterher. Man sah seinem Gesicht an, dass er sich mehr Gedanken um das Geschehen in der Halle, denn um uns beide machte.
Ich nickte Birgit zu und wies mit dem Kopf auf den Mann. Jetzt war die Gelegenheit gekommen zu handeln. Während Birgit ihn ein wenig ablenkte, könnte ich ihn außer Gefecht setzen. Trotz meiner gefesselten Hände, soviel traute ich mir zu.
Birgit sah mich aus fragenden Augen an. Wieder nickte ich zu dem Gangster hin. „Hmm?“, war die einzige Reaktion meiner Kollegin. Noch ein Nicken, dann platzte mir der Kragen: „Birgit, du sollst ihn ablenken, das wollte ich dir damit sagen!“, schrie ich die Kleine an. „Aber es geht auch so, danke.“
Der Mann sah mich fragend an und richtete seine Waffe auf mich. Wie ich unschwer erkennen konnte, befand sich weiterhin keine Patrone in der Kammer, der Knabe hatte die Ruger immer noch nicht durchgeladen. Jetzt galt es zu handeln. Ich verlagerte mein Gewicht auf den linken Fuß, so dass ich einen sicheren Stand hatte.
Dann lud der Ganove durch.
Wie in Zeitlupe sah ich seine Hand den Schlitten der Waffe zurückziehen und konnte förmlich spüren, wie eine 9 mm Patrone die Kammer füllte. Das höhnische Grinsen wurde nur von dem mordlüsternen Blick in seinen Augen übertroffen.
Aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass Birgit zu Boden fiel. Hatte der Typ schon geschossen? Nein, meine Kollegin schien sich lediglich hingeworfen zu haben. Mein rechter Fuß beschrieb jetzt - ebenfalls in Zeitlupe - einen Halbkreis und traf den Gauner mit geübter Präzision am Kinn. Knock - out konstatierte ich und spürte im selben Moment, wie eine Kugel an mir vorüberzischte. Knapp vorüber. Ein ohrenbetäubender Knall folgte.
„Los, Birgit, die Waffe.“ Diesmal verstand mich die Kleine und sie reagierte überraschend schnell. Die Ruger lag neben dem Ohnmächtigen und Birgit kroch darauf zu. In diesem Moment öffnete sich die Tür und der Fette stand im Türrahmen. Mit einem Blick erfasste er die Situation und trat die Waffe zur Seite. Dann fummelte er einen kurzläufigen Revolver hervor und zielte damit auf mich. „Hände hoch“, befahl er.
„Geht nicht, die sind doch hinter meinem Rücken gefesselt.“ Ich drehte mich ein wenig zur Seite. Nicht um ihm meine Fesseln zu zeigen, sondern um eine bessere Position für einen weiteren Kampftritt zu bekommen. Doch der Fette trat einen Schritt zurück. Entweder ahnte er was ich vorhatte, oder er war einfach nur vorsichtig. Inzwischen trat auch der andere Mann in den Raum und sah fragend seinen Chef an. Dann beugte er sich zu dem Ohnmächtigen herab.
„Den hat’s voll erwischt, Chef“, stellte er dann fest.
Birgit war inzwischen zu mir zurückgekrochen und kauerte leise schluchzend am Boden. Bis zur hartgesottenen Privatdetektivin fehlte aber noch Einiges! Vor allem musste sie dringend Kampfsport lernen. Ich nahm mir vor, mit Bernd zu reden - falls wir aus dieser Sache unbeschadet herauskommen würden.
„Nimm die Pistole und halte die beiden in Schach“, befahl der Fette jetzt. „Und sei vorsichtig, der Knabe scheint so eine Art Nahkampf zu können.“
„Was machen wir mit den beiden?“, fragte sein Gehilfe, der jetzt die Ruger in der Hand hielt. Daran wie er die Pistole handhabte, erkannte ich, dass er wenig Übung im Umgang mit Waffen hatte. Jetzt machte ich mir wirklich Sorgen.
„Ihr erledigt sie sobald es dunkel ist. Vorausgesetzt Paul ist bis dahin wieder auf den Beinen. Sonst musst du die Sache alleine übernehmen.“
Der Gauner sah seinen Chef entsetzt an: „Ich? Also, Chef ich habe noch nie ... Das, das ka...“ - „Einmal ist immer das erste Mal“, unterbrach ihn der Fette, der mittlerweile wieder in seinem Sessel saß und seine Zigarre paffte. „Dann sieh’ zu, dass Paul wieder einsatzfähig ist. Ihr nehmt den Transporter und bringt die beiden raus aufs Land. Irgendwo in den Wald oder so. Und verbuddelt die Leichen ordentlich, damit sie nicht gefunden werden. Und jetzt sperr’ beide schon einmal in den Transporter und kleb dem Typen den Mund zu, damit er nicht herumbrüllt und auf sich aufmerksam macht!“
Birgit und ich wurden in den inzwischen leeren Transporter verfrachtet. Leider ergab sich keine Gelegenheit, unseren Bewacher auszuschalten. Er rief sogar eine der Frauen zu Hilfe, die mir den Mund mit dem scheußlichen Klebeband zukleisterte. Die Schiebetür knallte zu und plötzlich umgab uns Dunkelheit. Ich musste zugeben, dass sich unsere Situation nicht gerade gebessert hatte.
Auch nachdem sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnten, war kaum etwas zu erkennen. Ich versuchte mit Birgit zu kommunizieren, was sich aber dank des Klebebandes als äußerst schwierig erwies.
„Brgggt?“ Das Mädchen reagierte nicht. Ich versuchte es erneut mit einem längeren Grunzen, dann gab ich der Kleinen einen leichten Tritt.
„Hmmmg?“ - „Grrllbmm.“ - „Hrääg?“ - „Krrdssss.“
Ich rückte näher an Birgit heran, was ich mehr fühlte als sah. „Jrrrrlll!“, schrie sie entsetzt auf.
„Pssscht“, antwortete ich und näherte mein Gesicht dem ihren. „Krlllbdr blubbbb.“ Sanft stupste ich sie mit meinem Kopf an. „Jrrrrlll!“, schrie sie wieder - so gut es dank des Klebebandes ging.
„Hrrrtag kriiii“, versuchte ich es erneut, dann ließ ich meinen Kopf auf ihre Hände, die sie in den Schoß gelegt hatte, sinken.
„Jrrrrlll!“ Ein unsanfter Stoß ins Gesicht warf mich etwas zurück. Dann schien das Mädchen zu verstehen, was ich von ihr wollte. Vorsichtig tasteten einige Finger in meinem Gesicht herum. Als ein Finger in meine Nase glitt, hörte ich sie „jjjiiiklklkl“ kichern.
Dann endlich fand sie den Anfang des Klebebandes und riss es langsam und genüsslich ab. Ich spürte, wie einige Haare daran kleben blieben. So musste sich das Enthaaren mittels Klebeband anfühlen. Keine schöne Sache.
„Danke Birgit. Schön, dass du doch noch verstanden hast, was ich meinte“, bedankte ich mich und ging mit meiner Zunge über die aufgerissene Lippe. Ich schmeckte Blut.
„Grrrssslll hubbb.“
„Ja, ich weiß, was du meinst“, erwiderte ich beruhigend. „Du musst jetzt Folgendes versuchen: du musst mit beiden Händen einen Riss in mein Klebeband machen. Warte, ich drehe mich um. Sobald das Band eingerissen ist, kann ich es komplett zerreißen.“ Soweit die Theorie. Ich hoffte nur, dass Birgit es schaffen würde, das Band einzureißen.
„Hrrrlllb gasdagrrr.“
Was immer sie meinte, musste warten, bis ich ihren Knebel entfernt hatte. Mühsam drehte ich mich herum und schließlich kamen wir so zu liegen, dass sie meine Fessel mit ihren Händen erreichen konnte. Ich spürte, wie sie vorsichtig an meinen Handgelenken herumtastete.
Es dauerte eine ganze Weile, dann vernahm ich ein reißendes Geräusch und Sekunden später waren meine Hände wieder frei. Wie ich spürte, hatte Birgit das Klebeband nicht einfach eingerissen, sondern komplett entfernt. Cleveres Mädchen!
Ich drehte mich vorsichtig um, tastete jetzt meinerseits in ihrem Gesicht herum und entfernte mit einem Ruck ihren Knebel. Ein tiefes Luftholen, gefolgt von einem „Danke Jonathan“ belohnte mich. Wenig später waren auch ihre Hände frei.
„Ekelhaft, dieses Klebeband“, meinte Birgit und ich hörte die Erleichterung aus ihren Worten heraus. „Und wie geht es jetzt weiter?“
Mein Plan stand schon fest und leise erklärte ich ihr: „Wenn wir hier raus sind, läufst du zur nächsten Straße und siehst zu, dass du irgendwie an ein Telefon kommst. Entweder du findest jemanden mit einem Handy oder du musst in einen Laden oder etwas Ähnliches gehen. Oder klingele an einer Wohnung. Hauptsache du kannst telefonieren. Stelle auch fest, wo wir uns befinden. Dann verständigst du umgehend Bernd und berichtest ihm oder Jennifer was hier los ist. Die wissen dann schon, was zu tun ist. Du bleibst auf jeden Fall in Sicherheit. Komm nicht hierhin zurück, außer die Polizei oder einer von uns ist dabei. Hast du das verstanden? Es ist enorm wichtig, dass du einmal tust, was ich dir sage.“
„Ja, Jonathan. Das habe ich verstanden und ich werde es genauso machen, wie du sagst. Aber was ist mit dir?“
Machte sie sich jetzt Sorgen um mich, oder war es einfach nur Neugierde? Ich beschloss, dass es die Sorge war, die sie zu dieser Frage bewog. „Ich bleibe hier und beobachte. Da wir unbewaffnet sind, macht es natürlich keinen Sinn, die Bande anzugreifen. Also halte ich mich bis zum Eintreffen der Polizei versteckt. Aber jetzt los, ich habe keine Ahnung wie spät es ist und die Typen können jederzeit zurückkommen.“
Tastend arbeitete ich mich zur Schiebetür vor. Ich hoffte nur, dass der Ganove sie nicht abgeschlossen hatte. Jedenfalls war vorhin nichts davon zu hören gewesen. Mit einiger Mühe fand ich den Griff zum Öffnen. Gespannt hielt ich die Luft an. Dann drückte ich den Griff. Die Tür ließ sich öffnen. Leise schob ich sie weiter zurück. Tageslicht fiel in den Wagen und erleichtert atmete ich aus. Diese Hürde war überwunden.
Nachdem meine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, warf ich einen prüfenden Blick hinaus. Der Wagen stand immer noch mit der Front zum Tor, aber niemand schien in der Nähe zu sein. Wofür auch eine Wache aufstellen, wenn man uns ja ohnehin sicher gefesselt im Wagen glaubte? Trotzdem bedeutete ich Birgit noch zu warten und schlich zur Sicherheit erst einmal komplett um das Fahrzeug herum. Niemand zu sehen. Prima. Birgit müsste jetzt lediglich herausfinden, wo wir uns befanden und telefonieren. Aber das durfte ja nicht allzu schwer sein, denn in der Einöde waren wir hier mit Sicherheit nicht. Vorsichtig half ich der Kleinen aus dem Wagen, dann schloss ich die Tür so leise es ging.
„Du gehst in dieser Richtung“, flüsterte ich und zeigte von der Lagerhalle fort. „Da hinten ist eine Straße. Also, alles wie besprochen: Du hältst ein Auto an, einen Passanten oder findest sonst eine Gelegenheit zum Telefonieren. Und vergiss nicht, festzustellen, wo wir uns befinden.“
„Ich bin doch nicht blöd, Jonathan“, erwiderte sie und rannte mit langen Schritten Richtung Straße. Ich blickte mich noch einmal um und schlich dann zu der Tür in der Halle. Bisher hatte ich mir noch keine Gedanken über mein weiteres Vorgehen gemacht. Angreifen konnte ich die Bande nicht, das musste ich der Polizei überlassen. Aber ich könnte beobachten und vielleicht verhindern, dass die Herrschaften flohen. Leise schlich ich zu dem Transporter zurück.
Die Fahrertür war nicht verschlossen und rasch fand ich den Griff zum Entriegeln der Motorhaube. Leise und mich immer wieder umblickend, riss ich mehrere Schläuche am Motor ab. Das würde eine Flucht hoffentlich vereiteln oder wenigstens verzögern. Sicherheitshalber riss ich einen kleinen Schlauch komplett heraus und warf ihn mit Schwung über die kleine Mauer, die das Grundstück begrenzte. Dann schlich ich wieder zur Tür und lauschte, konnte aber von drinnen nichts vernehmen. Ich nahm mir vor, das Grundstück etwas genauer zu erkunden.
An der Seite der Lagerhalle befanden sich mehrere Parkplätze, von denen drei besetzt waren. Die Wagen waren alle fest verschlossen und ich blickte mich suchend um, bis ich endlich ein kleines Stöckchen entdeckte. Nacheinander ließ ich die Luft aus dem jeweils rechten vorderen Reifen der Fahrzeuge. Das würde eine Flucht ebenfalls erschweren, wenn nicht sogar verhindern.
Nach kurzer Zeit nahm ich meine Erkundigung wieder auf. Die Halle verfügte über keine Fenster oder weitere Türen. Zur Be- und Entlüftung diente eine Reihe von Oberlichtern, die auch jetzt teilweise geöffnet waren. Schließlich gelangte ich wieder zu der Tür.
Ich überlegte, ob es einen Sinn machen würde, wieder in das Lager einzudringen. Unbewaffnet wie ich war, ein riskantes Unterfangen. Aber was war das Leben schon ohne Risiko? Schließlich besaß ich ja noch meine beide Fäuste und meine Krav Maga Ausbildung. Leise und mit angehaltenem Atem drückte ich die Klinke der Tür herunter. Vorsichtig öffnete ich sie einen Spalt und lugte in das Gebäude. Im ersten Moment konnte ich niemanden erblicken. Ob dieser Paul immer noch ohnmächtig war? Ob mein Tritt ihm eventuell größeren Schaden zugefügt hatte? Jetzt schlüpfte ich durch den schmalen Spalt und schloss die Tür sofort wieder. Sekunden später duckte ich mich hinter einem Stapel leerer Paletten. Aus dem Büro drangen leise Stimmen. Geduckt schlich ich näher. Vielleicht würde ich hören können, was da besprochen wurde.
Eine der Stimmen identifizierte ich als Sanurskis. Ich versuchte noch etwas näher an das Büro heranzukommen, immer darauf bedacht auch ja in Deckung zu bleiben.
„Und wer sind die beiden?“, hörte ich gerade den Fetten fragen. Ich nahm an, dass diese Frage Sanurski galt.
„Keine Ahnung. Angeblich kommen die vom Arbeitsamt. Ich habe meine Informationen aber auch nur aus der Chefetage bekommen. Ein wenig merkwürdig schon, denn ich hatte keine zusätzlichen Leute angefordert.“
Die Stimmen schwiegen einen Moment, dann hörte ich eine der Frauen: „Ob die eventuell etwas von unseren Aktivitäten spitzgekriegt haben? Vielleicht sind die zwei von der Polizei - so verdeckte Ermittler oder so.“ - „Lärpers und diese Zickler?“ Sanurski Stimme klang abfällig. „Das glaube ich nicht. Die sind strohdoof. Beide.“
Na danke. Allmählich bekam ich eine richtige Wut auf diesen Abteilungsleiter. Er kannte uns doch gar nicht, wie wagte der Mann es dann uns zu beurteilen? Noch dazu so negativ?
„Na ja, die Frau ist ja nicht ganz so dumm. Aber dieser Lärpers. Wo das Arbeitsamt den ausgegraben hat, möchte ich einmal wissen. Ich hätte dem Mann aber sowieso heute gekündigt - also eigentlich habe ich ihm ja gekündigt, er hat sich nur nicht mehr blicken lassen, um seine Papiere abzuholen.
„Die braucht er jetzt ja auch nicht mehr“, verkündete der fette Chef genüsslich und ich hörte, wie er geräuschvoll an seiner Zigarre sog. „Wir stellen unsere Aktivitäten bei Kaufstatt zunächst ein. Bis Gras über die Sache gewachsen ist. Dir Sanurski kann ja sowieso keiner etwas nachweisen und dieser Lärpers mit seiner kleinen Freundin ist heute Abend Geschichte. Da kräht kein Hahn mehr danach. In den anderen Kaufhäusern scheint es keine Probleme zu geben. Sonst hätten mich die von uns geschmierten Abteilungsleiter schon längst informiert.“
„Und was wird aus mir?“ Sanurskis Stimme klang weinerlich. „Ich brauche das Geld, ich muss mein Haus abbezahlen und Spielschulden habe ich auch noch.“
„Du hältst die Füße still. Wenn dich die Bullen erwischen, ist Schluss. Mit allem. Also bleib ruhig, vielleicht habe ich ja noch den ein oder anderen Job für dich.“ Nach einer kurzen Weile, die der Fette wohl zum Überlegen nutzte, hörte ich ihn lachen: „Ja, Sanurski, ich hab’ da schon was für dich. Du kannst mit Bokowski zusammen nachher unsere Gäste wegschaffen. Ist mir glatt nen Hunderter wert.“
„Wegschaffen?“, Sanurski schien nicht im Geringsten zu ahnen, was der Fette von ihm wollte.
„Ja, wegschaffen, liquidieren, entsorgen, erschießen. Jetzt kapiert?“ - „Aber so etwas habe ich noch nie gemacht. Einen Mord begehen?“
„Zwei Morde. Und dann passt du hervorragend zu Fritz, der hat angeblich auch noch niemanden um die Ecke gebracht. Was seid ihr eigentlich alle für Pfeifen? Noch nicht einmal den kleinsten Mord auf dem Gewissen!“
„Ich bin Abteilungsleiter und kein Auftragskiller“, stammelte Sanurski und ich sah förmlich vor mir, wie ihm die Tränen die Wangen herunterliefen.
„Hör auf zu jammern! Beim Stehlen der Waren warst du ja auch nicht so zimperlich. Also quatsch nicht herum. Pönkel, der Paule, das wäre der richtige Mann für den Job. Aber dieser Lärpers hat den wirklich übel zugerichtet. Paul hat eine erstklassige Gehirnerschütterung und schafft es nicht einmal, zwei zusammenhängende Sätze hintereinander auszusprechen. Poliert dem Lärpers noch einmal ordentlich die Fresse, bevor ihr ihn umlegt. Das seid ihr Paul Pönkel schuldig!“
Ich hörte Sanurski noch irgendetwas grummeln, konnte aber seine Worte nicht verstehen. Leider war mir aus meiner Position auch kein Blick ins Büro möglich. Ich schätzte aber, dass sich die beiden Männer und Frauen, sowie Sanurski und der Fette, darin befinden würden. Hoffentlich hatte Birgit inzwischen unsere Leute, beziehungsweise die Polizei verständigt.
„Los, verschwindet ins Lager“, hörte ich den Chef grunzen. „Ich habe noch einiges zu erledigen. Macht euch nützlich, Sanurski kann auch was tun, dann steht er nicht so nutzlos hier herum.“ - „Und was machen wir mit Paul?“, hörte ich eine Frauenstimme.
„Den nehmt ihr mit und legt ihn irgendwo zum Ausruhen hin. Am besten auf eine Decke oder so etwas. Und jetzt macht voran, ich brauche meine Ruhe!“
Ich zog mich ein wenig weiter hinter ein paar Paletten zurück und beobachtete, wie erst die Frauen und dann Sanurski und der andere Mann mit Paul zwischen sich durch die Tür kamen.
„Tür zu!“, schrie der Fette hinter den Dreien her, worauf Sanurski versuchte mit einer Hand die Klinke zu erreichen. Dabei entglitt ihm der angeschlagene Paul, den auch sein Ganovenkumpel nicht mehr halten konnte. Krachend schlug Paul auf dem Betonboden auf. Ich sah, wie Sanurski sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
Die beiden ließen den inzwischen wieder Ohnmächtigen einfach dort liegen, wo er hingefallen war und begaben sich zu den Frauen. Alle vier befanden sich jetzt außerhalb meines Sichtfeldes.
Ich versuchte zu schätzen, wie spät es ungefähr sein würde. Anhand der spärlichen Sonnenstrahlen, die durch die Oberlichter fielen, war es schwer die Uhrzeit herauszufinden. Irgendwann am Nachmittag. Aber so viel wusste ich ja auch schon vorher.
Im Büro hörte ich den ‚Chef’ telefonieren, konnte aber dank der geschlossenen Tür kein Wort verstehen. Von den anderen vernahm ich keinen Laut. Da mir das Warten jetzt zu langweilig wurde, beschloss ich, mich mit dem am Boden liegenden Paul Pönkel zu beschäftigen. Vielleicht trug er ja irgendetwas bei sich, das mir weiterhelfen würde. Auf allen Vieren kroch ich zu dem Bewusstlosen herüber. Pönkel war bei dem Sturz vorhin offensichtlich auf das Gesicht gefallen. Es schien, als hätte er sich die Nase gebrochen und lag in einer Blutlache. Vorsichtig tastete ich seinen Hals auf der Suche nach dem Puls ab. Prima Kameraden hatte er da! Ließen den Mann einfach in seinem Blut liegen und möglichst noch ersticken. Pönkels Puls war schwach, aber noch vorhanden. Sein Atem ging ebenfalls schwach. Vorsichtig brachte ich den Mann in die stabile Seitenlage und säuberte ihm auch noch Mund und Nase. Dann durchsuchte ich seine Taschen, fand aber nichts was ich gebrauchen konnte. Vorsichtig zog ich mich wieder zurück.
Und das auch keine Minute zu früh, denn laut schwatzend kamen die beiden Frauen um einen Stapel Waschmittelkartons herum. Ich identifizierte die Kartons als diejenigen, die die Bande bei Kaufstatt auf eine Palette geladen hatte.
„Agnes, schau mal wie der Paul daliegt.“ Beide Frauen beugten sich über den Mann. „Das nennt man sichere Liegelage“, wusste die mit Agnes Angesprochene. „So etwas lernt man beim Führerschein.“ - „Aha, ja das habe ich auch gelernt. Glaube ich. Aber wieso hat sich Paul in diese Lage gedreht?“ Beide Frauen überlegten, dann gab Agnes wieder ihr Wissen zum Besten: „Paul kann sich doch gar nicht selber drehen. Paul ist doch bewusstlos!“ - „Ja, das stimmt. Das kann er dann wohl nicht. Aber wer hat Paul dann so hingelegt?“ - „Der Chef bestimmt.“ - „Der Chef? Da steckt ja doch ein Körnchen Menschlichkeit in ihm. Das hätte ich dem Mann nie zugetraut.“ Agnes warf einen Blick auf die Bürotür. Die andere Frau nickte: „Ja, harter Kern und weiche Schale sage ich immer. Oder so.“ Beide Frauen schauten abwechselnd auf Paul und dann wieder auf die Tür.
Plötzlich meldete sich Agnes wieder: „Meinst du, ich könnte den Chef um einen Vorschuss bitten? Ich habe schon kein Geld mehr und bis wir unseren Anteil von den Kaufstatt Waren kriegen, wird es ja noch etwas dauern. Jetzt, da wir wissen, dass der Chef ja auch ein Herz hat. Was meinst du?“
Die Diebeskollegin überlegte. Schüttelte den Kopf, nickte dann wieder und begann an den Fingern etwas abzuzählen. Schließlich blickte sie auf: „Tja, ich weiß nicht. Der Chef war noch nie so ... Das letzte Mal, als ich ihn nach einem Vorschuss fragte, sagte er, ich solle ihm einen blasen. So könnte ich mir einen Zwanziger verdienen.“ - „Und, hast du?“ - „Natürlich nicht. Für nen Hunderter vielleicht aber nicht für zwanzig. Ich habe ihm dann klar und deutlich gesagt, was er sich selbst kann.“
Agnes lachte. „Recht so. Das fette Schwein würde ich auch nicht über mich lassen. Nicht für zwanzig oder dreißig Euro.“ - „Aber vierzig, was?“
Beide Frauen schwiegen wieder eine Weile. Ich hockte unbequem hinter meiner Deckung und wünschte mir, die beiden würden endlich verschwinden. Allmählich schliefen mir meine Beine ein und ich wagte es nicht, mich zu bewegen.
„Und? Soll ich nun fragen oder nicht?“ Agnes schien immer noch unschlüssig. Aber die andere Frau zuckte nur mit den Schultern. „Versuch’s doch einfach. Mehr als ‚nein’ sagen kann er auch nicht. Oder er macht dir ein gutes Angebot, was ich aber nicht glaube.“ Sie lachte meckernd. Agnes hob unschlüssig die Hände, klopfte dann aber an die Tür. Von drinnen war ein unwirsches ‚Was ist denn?’ zu hören. Agnes trat in den Raum, ließ aber die Tür offen. Vielleicht erhoffte sie sich von ihrer Kollegin Rückendeckung.
„Was ist denn, verdammt? Ich habe zu tun!“ - „Chef, ich wollte fragen, also ich ...“ - „Was? Raus mit der Sprache. Ich habe nicht ewig Zeit!“
Agnes schien einmal tief durchzuatmen und so Mut zu fassen. „Ich wollte fragen, ob ich einen Vorschuss haben kann. Ich ha...“
Krachend schlug eine Hand auf die Schreibtischplatte. „Vorschuss? Ich höre Vorschuss! Wie kommst du denn auf diese blödsinnige Idee? Seit wann gebe ich einen Vorschuss?“ Agnes schien ein wenig eingeschüchtert zu sein, denn ihre Stimme klang nun ziemlich kleinlaut: „Also, Chef. Ich dachte ja nur, weil du dem Paul so geholfen hast. Deswe...“
Wieder krachte eine Faust auf den Schreibtisch. „Ich helfe niemanden. Das musst du dir mal klarmachen! Denkt ihr alle, ich wäre die Heilsarmee? Kann ich Gold scheißen? Wenn du Geld haben willst, dann kannst du mir einen blasen. Kriegst zehn Euro dafür ...“ - „Nur zehn Euro? Die Gerda sollte zwanzig kriegen.“
In dem Büro herrschte Stille. Ich konnte sehen, wie die Kollegin Gerda grinsend dastand. Dann donnerte plötzlich die Stimme des Chefs auf: „Wieso habe ich dem Paul geholfen? Wer behauptet das?“ Agnes schien noch mehr eingeschüchtert. Leise und piepsend, so dass ich sie kaum noch verstehen konnte, drang ihre Stimme durch die Tür: „Aber du hast den Paul doch in die sichere Liegelage gelegt. Den Paul, der ohnmächtig vor der Tür liegt.“
Jetzt plötzlich klang die Stimme des Chef ruhiger und er fragte: „Ich den Paul in was gelegt?“ - „Sichere Liegelage, so was lernt man beim Führerschein.“ - „Du meinst doch nicht die stabile Seitenlage?“ - „Keine Ahnung. Gerda sagt, das heißt ‚sichere Liegelage’.“
„Verdammt, ich habe den Paul nicht in irgendeine Lage gedreht. Das muss einer von euch gewesen sein.“ - „Nein, das war keiner von uns. Paul lag die ganze Zeit alleine hier vor der Tür. Genau dort, wo Sanurski ihn hat fallen lassen.“
Wieder folgte eine kurze Denkpause, dann stieß der Chef zischend die Luft aus: „Ihr wart es nicht, Bokowski und Sanurski waren es nicht und ich war es ganz bestimmt nicht. Wer also um alles in der Welt hat Pönkel dann so hingelegt?“ Schweigen. Eine längere Pause. Endlich schien der Groschen zu fallen: „Verdammt, verdammt. Alarmiere die anderen. Wenn Paul von keinem von uns umgedreht wurde, dann muss ein Fremder in der Halle sein. Oder kann Paul sich selbst so gedreht haben?“ - „Nein, der ist ja ohnmächtig und blutet.“
Ich bekam ein ganz schlechtes Gefühl in der Magengegend. Gerda, die die Dialoge aus sicherer Entfernung mitangehört hatte, stürzte schon davon. In die Richtung, in der ich Sanurski und Bokowski vermutete. Sekunden später folgte ihr Agnes und es vergingen lediglich drei weitere Sekunden, dann stand der Chef in seiner ganzen Fülle im Türrahmen. In der Hand hielt er seinen Revolver. Suchend blickte er in die Halle. Ich duckte mich noch etwas tiefer. Es würde nicht lange dauern und die Gangster dürften mich nach einer kurzen Suche in meinem Versteck finden. Ich verfluchte meine Hilfsbereitschaft, die mich jetzt in außerordentliche Schwierigkeiten brachte.
Nur Minuten später kamen die beiden Frauen mit den Männern angetrabt. Bokowski hielt die Ruger in der Hand, fuchtelte damit nervös herum und ich konnte unschwer erkennen, dass sich eine Patrone in der Kammer befand. Vermutlich war die Waffe auch nicht gesichert.
Ich sah mich nach einer Fluchtmöglichkeit um, würde aber nicht unentdeckt bis zur Türe kommen. Zwischen nebeneinanderstehenden Paletten befanden sich immer wieder Lücken. Deckungsfreie Zonen, durch die ich wohl oder übel gelangen musste.
Der Fette hatte sich angesichts der drohenden Gefahr jetzt auf das Flüstern verlegt und gab seinen Mitarbeitern Instruktionen. Dabei ließen die fünf ständig die Blicke schweifen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie mich entdecken würden. Ich beschloss die Flucht nach vorne. Vielleicht konnte ich so Zeit gewinnen.
Grinsend erhob ich mich hinter dem Stapel, die Hände in Schulterhöhe. „Hier bin ich“, rief ich und löste damit eine Welle von Reaktionen aus. Die Frauen kreischten erschreckt auf, der Chef drehte sich in Zeitlupe um und Sanurski rempelte vor Schreck den ebenso verblüfften Bokowski an. Der machte eine halbe Drehung, wobei sich ein Schuss aus der Ruger löste. Durch das Krachen vernahm ich einen weiteren entsetzen Aufschrei der Frauen.
Der Fette wurde herumgewirbelt und an seiner Schulter erschien ein Blutfleck, der sich rasch vergrößerte. Der Revolver fiel aus seiner Hand scheppernd zu Boden und der Chef sackte an der Wand neben der Tür zusammen. Mit stieren Blick auf seine Schulter begann er hemmungslos zu schluchzen. Der Revolver rutschte noch ein Stück über den Boden und lag dann still da. Das war meine Chance. Sanurski und Bokowski blickten entsetzt auf ihren Chef, wobei ihnen schlagartig das Blut aus den Gesichtern wich. Mir war nicht ganz klar, ob sie wegen des Treffers selbst oder der Konsequenzen, die diese Verletzung des Fetten nach sich ziehen würde, so reagierten.
Jedenfalls handelte ich. Mit einem Hechtsprung über eine gefüllte Palette und anschließender Kampfrolle landete ich genau neben dem Revolver. Fast gleichzeitig mit dem Ende der Rolle hielt ich die Waffe auch schon in der Hand. Mich langsam aufrichtend, zielte ich auf den Mann mit der Ruger, Bokowski. „Waffe fallen lassen, sofort!“, rief ich in scharfem Ton. „Und keine Bewegung. Von niemandem.“
Klirrend fiel die Ruger zu Boden. Gut, dass die Pistole über eine Sicherung verfügte, die verhinderte, dass sich beim Herunterfallen ein Schuss löste.
„Die Hände über den Kopf - alle. Sofort!“, rief ich wieder laut und einschüchternd. Die Gangster folgten ohne zu zögern meinem Befehl. Lediglich der fette Chef reagierte nicht und sah mich mit jämmerlichen Blick an. Und natürlich Pönkel, der immer noch ohnmächtig in seiner stabilen Seitenlage verharrte.
„Los, ihr stellt euch jetzt direkt neben euren Chef, so dass ich euch alle im Blick habe. Gibt es hier einen Verbandskasten?“, fragte ich anschließend.
„Im Büro ist einer“, stöhnte der Fette.
Ich nickte und zeigte mit der Waffe auf die Frau namens Agnes: „Du gehst jetzt in das Büro und besorgst Verbandszeug. Und komme nicht auf dumme Gedanken. Ich kann mit dem Revolver hier umgehen und ich würde nicht zögern zu schießen.“ Dann grinste ich sie an: „Auch auf Frauen, da habe ich gar keine Hemmungen.“
Agnes nickte. Ich sah ihr an, dass sie keinen Ärger machen würde. Sie hatte viel zu viel Angst und schien mit der Situation völlig überfordert. Die Einzigen, die mir Sorgen bereiten sollten, waren der fette Chef und dieser Paul Pönkel. Und die waren beide außer Gefecht gesetzt.
Agnes kam auch nach wenigen Minuten mit einem ziemlich neuen Verbandskasten zurück. So einer, wie er in Fahrzeugen Benutzung findet. „Los, du verbindest jetzt deinem Chef den Arm. Leg’ den Verband aber richtig fest an, um die Blutung möglichst zu stillen. Das wirst du doch wohl können.“
Agnes nickte zögerlich, machte sich aber sofort ans Werk. Derweil überlegte ich mir, wie ich die Fünf fesseln könnte. Schließlich wollte ich ja nicht ewig mit dem Revolver im Anschlag hier stehen. Ich wurde jedoch in meinen Überlegungen unterbrochen, als plötzlich eine Stimme hinter mir meinte: „Na, wofür haben wir uns jetzt eigentlich hierhin bemüht? Jonathan hat doch alles im Griff!“
Bernd! Mein Kollege, Freund, Chef - Bernd Heisters. Nach und nach tauchten in meinem Sichtfeld Polizisten auf, dann erkannte ich Christine und zuletzt Birgit. Prima hatte sie es wirklich geschafft. War ja doch ganz taff, das Mädel.
„Wir brauchen zwei Krankenwagen und einen Notarzt“, übernahm Bernd das Kommando. Er hatte die Situation binnen Sekunden überblickt. Ich sah, wie Chrissi ihr Handy zückte. Die Polizisten fesselten inzwischen die Gangster. Bernd grinste mich an: „Das habe ich auch nicht anders erwartet, Jonathan. Mit den paar Schießbudenfiguren wirst du doch leicht fertig. Hast du den Dicken angeschossen?“
Ich erklärte ihm mit kurzen Worten, wie die gesamte Aktion abgelaufen war. Einen Teil davon kannte er von Birgits Bericht her schon. „Gut Jonathan. Prima Arbeit. Ich möchte in den nächsten Tagen einen detaillierten Bericht von dir. Allein schon für die Akten. Außerdem habe ich natürlich den Staatsanwalt Eberson eingeschaltet, sonst wäre es unter Umständen schwieriger geworden, so schnell einige Beamte hier heraus zu bekommen.“
„Wo sind wir überhaupt?“, fragte ich.
„Korschenbroich. Die Typen haben offensichtlich hier ihr zentrales Lager. Deinem Bericht nach, war ja Kaufstatt nicht das einzige Kaufhaus, das sie ausgenommen haben. Aber die Details wird die Kriminalpolizei herausbekommen. Eigentlich sollte ja ein Kriminalbeamter hier jetzt zugegen sein, aber ich wollte nicht länger auf ihn warten.“
Kaum hatte Bernd die Worte ausgesprochen, als an der Türe ein Tumult entstand. Eine herrische Frauenstimme schrie unüberhörbar zunächst einige unflätige Worte und danach in mir bekannter Art: „Nun nehmen sie ihre dreckigen Finger weg. Hier, sie Glotzkopf, was ist das hier in meiner Hand? Richtig, sie Schlaumeier, eine Dienstmarke. Ich bin Kriminalhauptkommissarin Unruh, Elisabeth Unruh. Und jetzt gehen sie mir aus dem Weg. Ich habe schließlich keine Zeit, mich mit den Dorfpolizisten hier herumzuärgern. Verdammt, was war denn hier los?“
Ich verdrehte die Augen. Meine spezielle Freundin Kriminalhauptkommissarin Elisabeth Unruh. Die hatte mir gerade noch gefehlt! Ich erinnerte mich, wie ich der Dame eine Nacht in Polizeigewahrsam zu verdanken hatte. Das war kurz nach meiner Rückkehr in meine Heimatstadt Mönchengladbach gewesen.
„Bernd, ich muss los. Sorry.“ Ich wollte mich abwenden und irgendwo im Dunkel der Lagerhalle verschwinden, als ich Bernds Grinsen bemerkte. Das sagte mir alles: es war zu spät.
„Hier sind noch zwei der Gangster“, kreischte es lautstark neben mir. Frau Unruh fuchtelte auch schon mit einer übergroßen Pistole herum. Dachte die Dame denn nicht für fünf Cent nach? Wären wir ebenfalls Gangster, dann hätten uns doch ihre Kollegen schon längst in Gewahrsam.
„Weg mit der Waffe, weg mit der Waffe!“, schrie sie nun erneut und mir direkt ins Ohr. Ich ließ den Revolver zu Boden fallen.
„Frau Unruh, ich bin Bernd Heisters und dies ist Jonathan Lärpers. Herr Lärpers hat die Ganoven überführt“, versuchte Bernd zu erklären, erntete aber lediglich einen skeptischen Blick.
„Diese Verbrechervisage kenne ich“, krakeelte die Unruh und zeigte mit ihrer Waffe auf mein Gesicht. Allmählich wurde ich sauer. Wieso musste ausgerechnet die am wenigsten geeignete Polizistin hier vor Ort sein?
„Würden sie bitte die Waffe fortnehmen und nicht andauernd vor meinem Gesicht herumfuchteln? Ich bin Privatdetektiv und Herr Heisters ist mein Chef. Wir gehören nicht zu der Verbrecherbande, sondern haben sie überführt. Sind sie denn über den Fall gar nicht informiert?“
Kriminalhauptkommissarin Unruh schüttelte den Kopf: „Nein, bin ich nicht. Eigentlich sollte Pöting ja hier sein, aber ich war schneller. Schließlich bin ich besser geeignet - als Kriminalhauptkommissarin!“
Pöting. Damit meinte sie Kriminalkommissar Albert Pöting. Ein ehemaliger Schulkollege von mir und bestimmt eher geeignet, sich dieses Falles anzunehmen. Im Stillen wünschte ich mir Pöting jetzt hierhin und musste verwundert den Kopf schütteln, als ich meinte seine Stimme zu vernehmen. Ging denn mein Wunschdenken schon so weit, dass mir selbst Stimmen suggeriert wurden?
„Frau Unruh, was machen sie denn hier?“ Das war eindeutig Albert Pöting. Junior, denn Alberts Vater hieß ebenfalls Albert. Und mit Nachnamen Pöting. Aber halt Senior. Albert Pöting Senior. Jetzt aber stand plötzlich Albert Pöting Junior vor der Kriminalhauptkommissarin Unruh und deutete auf die Waffe. „Stecken sie die Pistole weg, Frau Unruh. Und dann erklären sie mir bitte einmal, was sie hier machen. Sie wissen doch genau, dass dies mein Fall ist. Oberstaatsanwalt Eberson hat sie doch schließlich informiert!“
Die Unruh steckte missmutig ihre Waffe ein. „Ich bin Kriminalhauptkommissarin. Der Fall hat mich halt interessiert. Da muss man eben ganzen Einsatz zeigen. Sie waren ja nicht auffindbar ...“
„Frau Unruh, sie sind an mir vorbei aus der Polizeiwache gestürmt. Sie müssen mich doch gesehen haben. Und dann rauschten sie mit dem auf mich wartenden Dienstwagen einfach davon. Was denken sie sich denn überhaupt? Sie handeln gegen die ausdrückliche Anweisung des Oberstaatsanwaltes!“
Bernd unterhielt enge Beziehungen zu dem Oberstaatsanwalt Eberson, zumal wir von ihm unsere ‚nicht ganz so legalen’ Aufträge bekamen. Nach unserer Beschwerde über die Frau Unruh, hatte er uns zugesagt, diese Dame aus unseren Aufträgen herauszuhalten. Das nützte natürlich dann auch nicht sonderlich viel, wenn Frau Unruh seinen Anweisungen zuwiderhandelte. Ich musste grinsen, denn ihr Verhalten hier und jetzt würde wieder einen saftigen Rüffel des Oberstaatsanwaltes nach sich ziehen.
„Ich muss mich um die Gefangenen kümmern“, stieß sie dann auch aus und drehte sich um. „Ach ja“, meinte sie noch, „überprüfen sie lieber einmal, ob es sich bei diesen beiden da nicht doch um gesuchte Verbrecher handelt. Das Gesicht des einen kommt mir so bekannt vor ...“ Dann war sie endlich verschwunden.
Albert Pöting Junior stöhnte auf: „Den Tag, an dem sie meine Kollegin wurde, verfluche ich heute noch. Hallo Jonathan, hallo Herr Heisters. Sie haben gute Arbeit geleistet.“
Bernd lächelte: „Allein Jonathans Verdienst - na ja und auch der von Frau Zickler.“ - „Zickler? Ist das die mit den bunten Haaren?“, erkundigte Albert sich.
„Ja, Fräulein Zickler arbeitet neuerdings mit in der Detektei. Als Azubi sozusagen. Jonathan hatte sie bei dem Kaufstatt Auftrag unter seine Fittiche genommen.“
Albert nickte: „Nettes Mädchen. Jedenfalls wusste sie, was sie wollte und wovon sie redete. Ich habe vorhin kurz mit ihr gesprochen, bevor ich Unruhs Stimme hier drin vernahm. Da musste ich dann natürlich direkt zu ihnen kommen, schließlich konnte ich mir denken, was die Hauptkommissarin wieder für Unsinn anstellen würde. Nun, ich werde Eberson auf jeden Fall detailliert darüber berichten. Und von dir, Jonathan, brauche ich noch eine genaue Schilderung des Vorganges.“
Bernd nickte und sah zu mir herüber: „Ich kann ihnen den Bericht Jonathans zukommen lassen. In den nächsten Tagen, er muss sowieso einen anfertigen.“ - „Prima, dann wäre ja soweit alles geklärt. Und falls ich noch Fragen haben sollte, kann ich Jonathan und sie ja erreichen.“
Wir nickten. Ohnehin standen wir in ständigem Kontakt mit der Polizei und dem Oberstaatsanwalt. Ich nickte Albert noch einmal zu, dann begab ich mich vor die Halle zu den anderen.
Mittlerweile wurden der fette Chef und sein Mitarbeiter Pönkel vom Notarzt versorgt. Zwei Krankenwagen standen bereit und warteten auf ihre Fahrgäste. Mehrere Polizisten schleppten Kisten mit Akten, Computerteilen und anderem Büroinventar zu wartenden Wagen. Albert Pöting schien alles im Griff zu haben; hier wurde jetzt ordentlich aufgeräumt.
„Ah, da ist ja unser Held.“ Christine blickte mir grinsend entgegen. Sie stand zusammen mit Birgit ein wenig abseits des Geschehens und die beiden unterhielten sich leise. Als ich zu ihnen trat, verstummten sie.
„Gut gemacht, Birgit“, lobte ich meine Kollegin und erntete ein strahlendes Lächeln. Zum ersten Mal, seitdem wir zusammen arbeiteten. Glaubte ich zumindest.
„Danke, Jonathan. Aber du hast auch wirklich gute Arbeit geleistet.“
„Seid ihr jetzt fertig, mit euren Selbstbeweihräucherungen?“, lachte Christine. „Dann können wir nämlich jetzt allmählich zurückfahren. Es wird schon spät und ich habe einen Bärenhunger.“
„Ich auch“, fiel Birgit ein. „Wir sollten den erfolgreichen Abschluss des Auftrages mit einem guten Essen feiern.“
Ich grinste. Das wäre den Damen bestimmt recht: Lecker essen gehen und Jonathan Lärpers, der Held der ganzen Geschichte, durfte zur Belohnung auch noch alles zahlen. Dem würde ich aber einen Strich durch die Rechnung machen: nicht mit mir!
„Und ich lade euch dazu wohl noch ein“, grinste ich und wollte den Kopf schütteln, als Christine einfiel: „Oh, das ist aber nett von dir, Jonathan. Das hätte ich nie zu denken gewagt. Da du es aber selbst vorschlägst ...“
„Nein, also, so ha...“ Birgit unterbrach mich, indem sie sich bei mir einhakte: „Danke, Jonathan. Das ist ja wirklich ein feiner Zug von dir.“
Jetzt hakte sich Chrissi auch noch an der anderen Seite ein. Na, dann mal los. Wohin soll es denn gehen, Jonathan. Wer zahlt darf schließlich das Lokal aussuchen.“