Читать книгу Ihr elenden Mörder - Jürgen Löhle - Страница 11

Die verrückten Fans der Tour

Оглавление

Was wäre die Tour ohne ihre Zuschauer? Richtig, ein ganz normales Radrennen. Man schätzt, dass zwischen zwölf und 15 Millionen Menschen jedes Jahr die im Schnitt rund 3.500 Kilometer lange Strecke säumen und die Tour damit zu einem der größten Sportspektakel weltweit machen. Besonders in den Bergen muss man schon tagelang vorher anreisen, wenn man sein Wohnmobil oder Zelt an einer attraktiven Stelle direkt an der Strecke postieren will. Einer der begehrtesten Plätze, wenn die Tour nach Alpe d’Huez führt, liegt in einer Kurve kurz vor dem Ortseingang, von wo man gut drei Kilometer Straße einsehen kann. Wer dort parkt, oft übrigens eine Familie aus dem Schwäbischen, sollte gut fünf Tage vor dem Rennen da sein. Sonst ist der Platz weg und obendrein die Straße bereits mit Absperrungen von den Almen getrennt.

Über die Jahre hinweg hat sich bei den Fans mehr und mehr die Mode entwickelt, sich möglichst schrill, skurril oder auch schlicht dämlich anzuziehen und wild brüllend neben den Profis herzuwetzen. Für viele Menschen ist eben die Aussicht auf ein paar Momente live im Fernsehen so ziemlich das Größte, was sie sich vorstellen können. Dafür kann man sich dann schon mal zum Affen machen. Und so rennen Frösche oder Enten oder wandelnde Epo-Spritzen bergauf. Dazwischen Personen mit Bora-Perücke und grüner Trägerunterhose, begleitet von Typen in Badehose und Pudelmütze. Natürlich dürfen auch Halboder komplett Nackte nicht fehlen. Frauengruppen in Bikinis, gern auch ohne Oberteil, gibt es immer wieder. Männer ziehen auch schon mal final blank. Das muss man nicht wirklich gesehen haben, was manche aber nicht daran hindert. Wie zum Beispiel die zwei Herren, die 2009 beim Mannschaftszeitfahren rund um Montpellier neben der Mannschaft Columbia Highroad herrannten. Ob man damit wirklich weltweit ins Fernsehen muss – nun ja, wer’s braucht.

Die Rennfahrer haben übrigens beim Tempo der heutigen Etappen kaum einen Blick für die Kuriositäten am Rande übrig. Eine Etappe wird heute in den meisten Fällen nach folgendem Motto gefahren: ein paar Kilometerchen bis zum scharfen Start locker rollen, danach treten, bis der Arzt kommt. Zurückhaltung oder lockeres Rollen gibt es mit Ausnahme der ersten zwei, drei Stunden auf der letzten Etappe nach Paris nicht. Nur im Finale wird erst in Sichtweite der Champs-Élysées so richtig Gas gegeben. Der Grund für das durchgängig hohe Tempo: Mittlerweile wird alles im Fernsehen übertragen, und der Sponsor will natürlich Leistung sehen. Außerdem ist ein Etappensieg so wertvoll, dass immer irgendwelche Fahrer einen Ausreißversuch starten. Und wenn in so einer Gruppe nur einer dabei ist, der eine wenn auch noch so kleine Chance im Gesamtklassement hat, kann man den nicht eine halbe Stunde oder mehr wegfahren lassen. Denn das kann sich rächen, wie zuletzt 2006, als der Spanier Óscar Pereiro nach der Disqualifikation von Floyd Landis plötzlich Toursieger war. Der Mann war ganz vorn, weil er auf einer Überführungsetappe von den Pyrenäen in die Alpen in einer Fluchtgruppe um Jens Voigt war, die schließlich gut 30 Minuten vor dem Feld mit allen Favoriten ins Ziel kam (Sieger: Voigt). Ohne diese Bummelfahrt des Feldes wäre übrigens am Ende Andreas Klöden der zweite deutsche Toursieger nach Jan Ullrich geworden.

Aber, wie gesagt, heute wird anders gefahren, und die Fans am Straßenrand müssen schon verdammt gut zu Fuß sein, wenn sie bergauf neben ihren Idolen mitlaufen wollen. Zur wahren Personifizierung des brüllenden Wahnsinns hat sich in den vergangenen Jahrzehnten der Brandenburger Dieter „Didi“ Senft entwickelt. Der selbst ernannte Künstler, Erfinder und Fahrraddesigner rennt seit 1993 als Teufel verkleidet mit Gebrüll und fuchtelndem Dreizack neben den Rennfahrern her. Anfangs fanden das alle lustig, selbst die Profis. „El Diabolo“ wurde zum Medienstar, die Kameras des französischen Fernsehens setzten ihn immer groß ins Bild, wenn er mit markerschütterndem „Heja, Heja, Jaaaaaaaaa!!!“ neben den Radlern herumtobte, und die Moderatoren freuten sich. Didi schaffte es als Gast in mehr als 50 TV Sendungen, wurde zur Comicfigur und war bekannt wie ein bunter Hund. Irgendwann hatte sich die Nummer aber erschöpft. Senft ist zwar meist noch bei der Tour dabei, aber die Kameras schwenken schon seit Jahren weg. Begonnen hatte die zunehmende Ausblendung angeblich aus wirtschaftlichen Gründen. Um seine Reisen zu finanzieren, suchte sich Didi Senft gern auch Sponsoren, und für einige Zeit hatte er einen prominenten deutschen Autozulieferer auf Kutte und Dreizack, dessen Logo auf diese Weise lang und breit im Fernsehen zu sehen war. Das hat dann den offiziellen Toursponsoren nicht so gefallen, die über die Tourorganisation mit sanftem Druck auf das Fernsehen einwirkten, den Mann doch nicht dauernd und vor allem nicht so lange im Bild zu zeigen. Finanziell hat das dem Teufel sicher geschadet, zur Tour fuhr er trotzdem weiterhin.


Entspannter Julian Alaphilippe: Der Mann im Bergtrikot hat 2018 offenbar Zeit genug, den Dreizack von „Tourteufel“ Didi Senft ein paar Meter spazieren zu fahren.

Heute verkleiden sich immer mehr Fans mit abgedrehten Kostümen, obwohl die Rennfahrer gar keine Muße für eine angemessene Bewunderung haben, zumindest nicht auf den schweren Bergpassagen. Da haben die Profis genug mit sich selbst zu tun, und manchmal übertreiben es die Brüllaffen auch schlicht, wie 2018, als ein durchgeknallter Fan den Italiener und Mitfavoriten Vincenzo Nibali beim Anstieg nach Alpe d’Huez zu Fall brachte. Nibali fuhr zwar noch ins Ziel, musste danach aber mit einem angebrochenen Brustwirbel aufgeben. Die Lösung für diesen Bergwahn wäre im Übrigen nicht so schwer. Würde man die großen Pässe allesamt mit Barrieren versehen, wie zum Beispiel die letzten Kilometer in Alpe d’Huez oder am Mont Ventoux, wären die Fahrer geschützt. Aber die Welt lechzt eben nach Bildern, die zeigen, wie sich die Rennfahrer durch wogende Fanmassen kämpfen. Und da die Show extrem wichtig ist, wird es auch künftig zumindest einige völlig freie Passagen geben.

Früher war das Verhältnis Profi/Zuschauer deutlich entspannter, da so manche Etappe, nach Absprache der Kapitäne der großen Teams, zumindest am Anfang eher piano gefahren wurde. Ein beinhartes Rennen gab es dann nur in den letzten zwei, drei Stunden. Vorher hatten die Profis noch genug Zeit, sich auch mal anzusehen, was da so alles an Zuschauern am Straßenrand stand. 1979 kam es dabei zu einer kuriosen Episode: Ein paar Rennfahrer drehten das bekannte Spiel des Nassspritzens einmal um. Es war sehr heiß, das Feld kurbelte einen Berg hinauf, als plötzlich eine Frau in einem winzigen Bikini und mit High Heels am Straßenrand stand und winkte. Der Belgier Ludo Peeters dachte sich wohl, da könne man bei der Hitze mal helfen und spritzte die Dame mit seiner Wasserflasche an – sehr zur Freude seiner Mitradler. Ob es der jungen Frau auch gefallen hat, ist nicht bekannt.

Ihr elenden Mörder

Подняться наверх