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Die Anarchie der Gründertage

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Die Tour wird heute ja gern als großes, hektisches, kaum zu kontrollierendes Spektakel erlebt. Besonders in den Bergen, wenn die Zuschauer wie wild gewordene Kastenteufel brüllend neben den Radlern herrennen, schütteln viele am Fernseher nur den Kopf. Was für ein Theater, was für ein Stress, und warum regen sich die Leute denn um alles in der Welt so auf? Was passiert da, wenn der ansonsten eher distinguierte Verwaltungsbeamte plötzlich mit geballten Fäusten am Straßenrand hüpft und zuckt, als hätte er die Finger in der Steckdose, und dabei mit schrecklich verzerrtem Gesicht brüllt, dass man kaum noch die Hupen der Autos hört? Es ist wohl einfach die Faszination des archaischen Kampfes der Männer mit der Straße, die die Leute packt und ausflippen lässt. Wenn sich die Profis schon so schinden, dann muss auch ich alles geben. Manche wollen aber auch nur schlicht ins Fernsehen.

Aber eines ist auch klar: Was wir heute als Massenevent erleben, war in den Gründertagen der Tour nicht mehr als ein besserer Kindergeburtstag. Exemplarisch dafür war gleich die zweite Tour 1904. Aus heutiger Sicht lief die so kurios, dass sie es heutzutage beinahe jeden Tag in die Spitzenmeldungen der Tagesschau schaffen würde. Schon nach der ersten Etappe von Paris bis Lyon ließ Tourchef Henri Desgrange den Etappenzweiten Chevalier disqualifizieren, weil er ein gutes Stück der 476 Kilometer in einem Auto gesessen hatte. Im weiteren Verlauf des Rennens wurden Fahrer von Zuschauern bedroht oder sogar verprügelt. Maurice Garin, der Sieger der ersten Tour de France ein Jahr zuvor, wurde auf der Etappe nach Marseille in der Gegend von St. Etienne von Zuschauern mit Knüppeln niedergeschlagen, weil er mit zwei anderen auf der Verfolgung von Lokalmatador Alfred Faure war. Um die Leute zu „beruhigen“, schoss der Rennleiter Géo Lefèvre mit seiner Pistole immer wieder in die Luft. An dieser Geschichte kann man übrigens wunderbar sehen, wie trüb doch manchmal die Quellen sind. Von den Schüssen berichteten viele; es gibt aber auch Quellen, die schreiben, dass damals Tourchef Henri Desgrange persönlich und nicht sein Rennleiter Lefèvre geschossen habe. Wie auch immer – so ein Vorfall würde heute das sofortige Ende des Rennens bedeuten.

Von da an war die Tour 1904 dann eine einzige Skandalfahrt. Überall an der Strecke gingen „Lokalpatrioten“ auf Fahrer aus anderen Regionen los, streuten Nägel auf die Straße oder schlugen sogar zu. Garin wurde dann auch noch einmal im Südwesten von Zuschauern verprügelt. Alfred Faure gab danach seine Startnummer ab und fuhr nach Hause: „Ich habe keine Lust, auf dem Weg nach Paris umgebracht zu werden.“ Auch die Fahrer waren sich untereinander nicht grün und streuten selbst Nägel hinter sich aus, um der Konkurrenz möglichst wirkungsvoll zu schaden. Da man sich nicht helfen lassen durfte, war so ein Reifenschaden mit einem gewaltigen Zeitverlust verbunden. Die Tour gewann dann wie im Jahr zuvor der zweimal niedergeschlagene Garin – aber sein Erfolg hielt nur kurz. Fünf Monate später, Anfang Dezember 1904, kassierte der französische Radsportverband das Klassement und disqualifizierte nachträglich 29 der 87 gestarteten Fahrer wegen Vergehen wie unerlaubtes Fahren mit dem Auto oder auch mit der Eisenbahn, verbotene Verpflegung oder Windschattenfahren. Unter den für die Fahrer belastenden Aussagen war auch die, nach der einige Fahrer einen Flaschenkorken auf einen Draht aufgezogen hätten, der wiederum mit einem Auto verknüpft worden sei. Den Kork zwischen den Zähnen, hätten sie sich von den Autos ziehen lassen und dabei darauf vertraut, dass dies unbemerkt bleibe, weil sie ja die Hände am Lenker hatten. Kurzum, die ganze Tour war ein einziger kurioser Skandal.

Unter den nachträglich Bestraften waren auch die ersten vier des Gesamtklassements. Maurice Garin beendete daraufhin mit 32 Jahren erbost seine Karriere, beklagte aber bis zu seinem Tod 1957 die aus seiner Sicht grobe Ungerechtigkeit, die ihm da widerfahren sei. Sieger der zweiten Tour wurde so der im Juli 1904 erst 19-jährige Henri Cornet, der damals als Fünfter in Paris gut drei Stunden Zeitrückstand auf Garin hatte. Cornet gehörte nicht zu den Großen der Szene und konnte später bei der Tour als bestes Ergebnis einen achten Platz erringen, ist aber bis heute der jüngste Toursieger. Den Platz in den Geschichtsbüchern dürfte er auch behalten. Die Tour de France stand nach dieser kuriosen Nummer übrigens bereits nach der zweiten Auflage vor dem Aus. Henri Desgrange schrieb unter dem Titel „Das Ende“ einen resignierten Abgesang in seinem Blatt. In diesem Leitartikel hieß es wörtlich: „Ich befürchte, die zweite Auflage der Tour ist auch zugleich die letzte. Sie ist an ihrem Erfolg zugrunde gegangen, und an den nicht zu zügelnden Leidenschaften, die sie entfesselt hat.“ Aber schon kurze Zeit später bereitete er die Tour 1905 vor. Es war dem alten Fuchs schnell klar geworden, dass vor allem die Skandalstorys für seine Zeitung L’Auto eine wunderbare Wirkung hatten. 1903 verkaufte er 20.000 Exemplare, zwei Jahre später war die Auflage auf 100.000 gestiegen. Und aus keinem anderen Grund hatte Henri Desgrange die Tour de France schließlich gegründet.

Dass Zuschauer die Radfahrer körperlich angehen, ist heute zum Glück nur noch ganz selten der Fall. Es traf in der jüngeren Geschichte vor allem den vierfachen Toursieger Christopher Froome, dem die Fans das monatelange juristische Rumgeeiere nach einer positiven Dopingprobe verübelten. Am Ende stand zwar ein Freispruch, aber keiner, der so richtig überzeugen konnte. All das ist natürlich kein Grund, Rennfahrer wie im Fall Froome mit Urinbeuteln zu bewerfen. In der Gründerzeit der Tour gingen die Angriffe jedoch auch nach 1904 noch munter weiter. Manchmal trafen sie dann auch Leute, die eigentlich mit der Tour der Berufsradfahrer überhaupt nichts zu tun hatten. Es war damals so, dass das Rennen nicht auf abgesperrten Straßen lief und dass sich Amateure unter die Profis mischen durften, ganz legal. Wer sich anmeldete, konnte mitfahren, ganz einfach.

So startete zum Beispiel 1907 ein gewisser Baron Henri Pépin de Gontaud. Der Mann hatte Geld, seine Form dagegen war eher nicht renntauglich. Der Herr Baron engagierte deshalb zwei Berufsfahrer als Helfer, darunter Jean Dargassies, den Vierten der Tour 1904. Einer Quelle zufolge zahlte Pépin de Gontaud dem Schmied aus dem Languedoc so viel, wie er als Sieger der Tour erhalten hätte. Zu den Essenszeiten fuhren die beiden professionellen Helfer voraus und orderten in einem sehr guten Restaurant ein opulentes Mahl für den adligen Radler, der sich dann direkt vom Sattel an einen reich gedeckten Tisch setzen konnte. Übernachtet wurde in den besten Häusern an der Strecke. Von solchem Luxus konnten die anderen Teilnehmer, inklusive der Spitzenprofis, natürlich nur träumen. Wer von sich aus nicht gut betucht war und auch keine Chance auf ein Preisgeld hatte, für den war die Tour eine echte Herausforderung, da Desgrange zu Beginn nicht einmal die Hotels bezahlte. Es soll Profis gegeben haben, die nach der Zieldurchfahrt Ansichtskarten verkauften, andere machten Kunststückchen wie Rückwärtssaltos auf dem Marktplatz und gingen danach mit dem Hut Geld sammeln. Wohlgemerkt, nach oft 16 Stunden Rennen.

Ihr elenden Mörder

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