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Falscher Bart und falsche Brille

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Dass es bei der Tour zwei Klassen von Rennfahrern gab, hielt sich noch recht lange. 1930 stellte Henri Desgrange das Rennen radikal um. Da seit 1913 außer Henri Pélissier im Jahr 1923 kein Franzose mehr die Tour hatte gewinnen können und die Auflage seiner Zeitschrift L’Auto mit der Zeit sogar während des Rennens zu sinken begann, änderte der Tour-Gründer den Austragungsmodus. Statt wie bisher von Fahrradherstellern gesponserter Einzelstarter traten nun Nationalmannschaften gegeneinander an. Desgrange glaubte, dass die Franzosen mehr starke Profis als andere Nationen in einer Mannschaft würden bündeln können und dass so am Ende ein Franzose gewinnen würde. So kam es dann auch. André Leducq beendete nach 17 Jahren die sieglose Serie der Franzosen. Desgrange war damals der Meinung, dass eigentlich nur fünf Nationen in der Lage seien, eine würdige Nationalmannschaft für die Tour aufzubieten. Neben Frankreich waren das noch Belgien, Italien, Deutschland und Spanien. Alle anderen Nationen durften zwar in teilweise gemischten Teams ebenfalls teilnehmen, ihre Fahrer bekamen aber die Hotels nicht bezahlt und waren so eher Profis zweiter Klasse. Und damit sie die Stars auch ja nicht behinderten, mussten sie zehn Minuten nach den großen Teams starten. 1931 ist ihm diese Regelung aber sauber auf die Füße gefallen: Max Bulla fuhr bei der zweiten Etappe aus der Gruppe der zweiten Garde heraus die beste Zeit, überholte die vor ihm Gestarteten aus den großen Nationalmannschaften und eroberte das Gelbe Trikot. Als erster Österreicher übrigens. Der Profi aus Wien gewann dann noch einmal zwei Etappen, und Desgrange musste reagieren. Der Tourchef sorgte schließlich dafür, dass Bulla im Jahr darauf mit der deutschen Mannschaft starten durfte. Eine Etappe konnte er zwar nicht wieder gewinnen, als Mitglied der deutschen Mannschaft genoss er aber den Sonderstatus mit bezahlter Unterkunft und gutem Essen.


Max Bulla (links) war der erste Österreicher im Gelben Trikot – und einer, der die Avantgarde ärgern konnte.

Das war damals schon erstrebenswert, denn Reichtümer waren für die Leute aus der zweiten Reihe nicht zu verdienen. Die Fahrer waren dankbar für jedes Gratisessen oder ein kühles Getränk. Allerdings mussten die Profis schon aufpassen, was sie so alles annahmen. 1910, als die Tour zum ersten Mal über die Pyrenäenriesen führte, lag Paul Duboc in Führung, als er bei einer Pause plötzlich leichenblass im Straßengraben liegen blieb und sich ständig übergeben musste. Duboc hatte von einem Zuschauer eine Wasserflasche angenommen, in der auch ein Gift gewesen sein soll, hieß es. Nach einer Stunde fuhr er zwar weiter, erreichte das Ziel aber mehr schlecht als recht als Letzter. Die Chance auf den Gesamtsieg war perdu, da ging nichts mehr. Nutznießer des vermuteten Anschlags auf Duboc war Gustave Garrigou, der nun die Spitze übernahm. Ein normaler Vorgang im Sport, aber schnell entstand die Verschwörungstheorie, Garrigou stecke hinter der präparierten Flasche, von der man bis heute nicht mal weiß, ob es sie überhaupt gegeben hat. Dass Garrigou ihn vergiften wollte, glaubte zwar nicht einmal Duboc, aber als die Tour sich in Richtung Rouen, Dubocs Heimatstadt, bewegte, war allen klar, dass Garrigou in großer Gefahr war. Und so kam es zu einem bis heute einmaligen Kuriosum: Gustave Garrigou wurde eine dicke Brille aufgesetzt, ein falscher Bart angeklebt, und sein Rad wurde in einer anderen Farbe lackiert. Da der Führende damals noch kein Gelbes Trikot trug, war der verkleidete Garrigou für die aufgebrachten Menschen in Rouen nicht zu erkennen. Die Sache ging gut, Garrigou gewann die Tour. Duboc war übrigens schnell wieder auf dem Damm, gewann danach noch zwei Etappen und wurde am Ende noch Gesamtzweiter. Das Gift konnte also nicht besonders aggressiv gewesen sein. Wenn es denn überhaupt eines gegeben hatte.

Die Straßen der Tour waren auch schon immer ein beliebter Ort, um politische Botschaften loszuwerden. Aufmerksamkeit war den Demonstranten stets gewiss. In den Anfängen wurde über sie geschrieben, heute kommt eine geschickt inszenierte Aktion live ins Fernsehen, was natürlich auch völlig unpolitische Spinner anlockt. So wie den Mountainbiker und Stuntradler Alexis Bosson, der auf der zehnten Etappe der Tour de France 2018 quer über die Straße und über eine Ausreißergruppe um den Führenden Greg van Avermaet hinwegsprang. Die Profis waren gerade im Aufstieg zum Plateau des Glières, als der Mountainbiker plötzlich – von einer Rampe katapultiert – über ihnen durch die Luft flog. Verletzt wurde niemand, die meisten Profis waren so konzentriert, dass sie es gar nicht bemerkt haben. Das Video auf YouTube wurde aber ein großer Erfolg. Schwachsinn war die Aktion natürlich trotzdem – und ganz sicher keine Demo für irgendetwas Wichtiges.

Die gab es natürlich auch. Aber manchmal sorgen leider auch berechtigte Proteste für traurige Momente. So einen gab es 1982 im Norden Frankreichs. Die Tour rollte durch die Region Hauts-de-France, unweit der belgischen Grenze. In diesem Teil der Republik ist das wirtschaftliche Glück nicht gerade zu Hause, die Stahlindustrie hatte damals große Probleme, es gab wenig Arbeit, die Jungen zogen weg, viele Dörfer wurden zu freudlosen Altersheimen. Die Tour de France sollte da für ein paar Stunden buntes Leben in das Alltagsgrau bringen. Die fünfte Etappe war als Mannschaftszeitfahren von Orchies nach Fontaine-au-Pire geplant. Der Zielort war ein Dorf mit damals 1.250 Einwohnern, eigentlich viel zu klein für die Tour. Aber es gab dort noch Leben und Energie, und man hatte sich geschlossen und mit aller Kraft für die Tour starkgemacht. An diesem 7. Juli freuten sich alle auf die großen Stars um Nationalheld Bernard Hinault, die im 73 Kilometer entfernten Orchies als Teams zum Zeitfahren auf die Strecke gingen. Allerdings kamen die Teams nur 18 Kilometer weit, dann blockierten wütende und enttäuschte Stahlarbeiter die Strecke. Eine große Eisenhütte hatte die Schließung zum Ende des Jahres verkündet, Hunderte sollten ihren Job verlieren, die eh schon benachteiligte Gegend drohte vollends zum Armenhaus zu werden. Tourchef Jacques Goddet eilte mit seinem Rennleiter Félix Lévitan an die Strecke und versuchte, die Protestierenden zu beruhigen. Ohne Erfolg. Aber die Polizei zum Räumen aufzufordern, das wollte er auch nicht. Mit Transparenten und Menschenketten blockierten die Stahlarbeiter weiter die Straße, die Teams mussten ausweichen oder kurzzeitig absteigen, ein reguläres und faires Rennen war jedenfalls nicht möglich. Schließlich ließ Goddet die Etappe abbrechen, der Tag wurde annulliert, das Mannschaftszeitfahren um ein paar Tage verschoben. Das ging damals, weil zwei Halbetappen an einem Tag durchaus noch üblich waren. Als die Nachricht im Zielort Fontaine-au-Pire ankam, brach dort eine Welt zusammen. Monatelang hatten viele ehrenamtlich gearbeitet, das Dorf war herausgeputzt, ein Fest am Laufen, aber keiner sollte kommen. Ein paar Stunden später hellte sich die Stimmung aber doch wieder etwas auf. Goddet ließ dem Bürgermeister ausrichten, dass die Tour dann eben ein Jahr später in diesem Örtchen vorbeischauen würde. Heute wäre so etwas unmöglich, die moderne Tour würde so einen Mini-Zielort wohl kaum akzeptieren, es sei denn, der Ort hätte eine große Tradition und einen solventen Sponsor. Fontaine-au-Pire hatte weder noch. Aber Goddet hielt Wort: 1983 hieß die dritte Etappe Soissons–Fontaine-au-Pire. Wieder war es ein Mannschaftszeitfahren, es führte über 100 Kilometer, und die Teams kamen unter dem Jubel der Menschen auch alle im Ziel an.

Ihr elenden Mörder

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