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Sekundenspiele

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Die Tour de France wird in den Bergen entschieden. Oder beim Zeitfahren. Vielleicht auch noch durch einen Sturz, aber doch nicht auf der letzten Etappe in Paris. So könnte man meinen, und seit vielen Jahren ist das Finale auf den Champs-Élysées auch ausschließlich die Schaubühne der Sprinter. Der Sieger der Tour steht dagegen spätestens einen Tag vorher fest. Wer am Samstag vor Paris das Gelbe Trikot trägt, wird, so das ungeschriebene Gesetz, nicht mehr angegriffen – und sei sein Vorsprung auch noch so klein. Das war aber nicht immer so, und deshalb kam es 1989 zu einem kuriosen Finale, zu einem Wechsel des Gelben Trikots im allerletzten Moment und zu einem Toursieger, der nach knapp 3.300 Kilometern und einer Gesamtfahrzeit von etwa 88 Stunden um minimale acht Sekunden vorn lag.

Das Kuriose war aber vor allem das Wie. Die Tour ist ja immer schon ein Kosmos der „harten Männer“ gewesen. Radfahren bedeutete: treten, bis der Arzt kommt. Punkt. Schnickschnack wie Aerodynamik hatte da keinen großen Platz. Greg LeMond interessierte dieses archaische Radheroen-Bild allerdings nicht besonders. Der Amerikaner hatte 1986 als erster Profi aus den USA die Tour gewonnen. Dann pumpte ihm sein Schwager bei der Jagd mit einem versehentlich gelösten Schuss eine Ladung Blei in den Bauch. LeMond überlebte und kehrte 1989 zur Tour zurück. Während seiner langen Pause hatte er sich viele Gedanken um das Radfahren gemacht. Seine Erkenntnis: Vorsprung durch Technik. Am letzten Tag der Tour lag der Amerikaner dennoch 50 Sekunden hinter dem Franzosen Laurent Fignon zurück. Das Finale war in diesem Jahr aber keine normale Etappe, sondern ein kurzes Einzelzeitfahren über 24,5 Kilometer. Eine knappe Minute und nur 24,5 Kilometer Strecke: Da musste schon viel passieren, damit Fignon die Tour noch verlieren konnte. Es passierte tatsächlich. Und diese Bilder gingen um die Welt: Da kurbelte Fignon auf einem Rad mit zwei Scheibenrädern und einem Querlenker, aber ohne Helm und mit schütter wehendem Haar. Danach kam LeMond, zusammengekauert über einem Triathlonlenker und auf dem Kopf einen Helm, der über seinem Genick spitz zulief. Heute ist das aerodynamischer Standard, damals bekam die Szene den Mund nicht mehr zu, ob des ganzen neumodischen Krams.

LeMond war es egal. Er nahm dem Liebling der Franzosen auf der kurzen Strecke ganze 58 Sekunden ab und gewann die Tour mit acht Sekunden, also dem knappsten Vorsprung bis dahin und bis heute. Für die Franzosen ein Tag zum Vergessen und für viele Journalisten der reinste Horror. Das Siegerporträt war natürlich schon geschrieben und jetzt komplett wertlos. Statt nach drei Wochen die Tour entspannt auslaufen lassen zu können, musste die Presse noch mal ran – und das nicht wie heute bequem auf dem Laptop, sondern auf klappernden Schreibmaschinen.


Schöner leiden geht nicht: Laurent Fignon versucht gar nicht erst, seine Enttäuschung über die Niederlage auf der letzten Etappe gegen Greg LeMond zu verbergen.

Acht Sekunden sind nach drei Wochen Radrennen natürlich wirklich so gut wie nichts. Am Ende des Klassements geht es dagegen entspannter zu; der Letzte der Tour de France hat in Paris einen Rückstand von mehreren Stunden. Der letzte Platz ist übrigens auch begehrt, weil man damit ziemlich bekannt werden kann. Während der Tour bekommt der aktuell Letzte täglich die „Lanterne Rouge“, die Rote Laterne, die sich manche bei der finalen Etappe in Paris dann auch tatsächlich ans Rad binden. Früher waren diese Letzten beliebte Stars. Um die Rote Laterne wurde regelrecht gekämpft, was oft zu stundenlangen Stehversuchen vor der Ziellinie führte. Heute muss man schon taktisch vorgehen, um die Ehre des Schlusslichts gewinnen zu können. Da es ein Zeitlimit gibt, muss der Rennfahrer sehr genau ausrechnen, wann er im Ziel sein muss, um gerade noch in der Wertung zu bleiben und gleichzeitig keinem anderen die Chance zu geben, noch schlechter zu sein. Der Belgier Wim Vansevenant war ein absoluter Meister seines Fachs und wurde zwischen 2006 und 2008 dreimal Letzter der Tour, was vor ihm und nach ihm keinem sonst gelang. Einer der kuriosesten Kämpfe um den letzten Platz fand aber beim Giro d’Italia. statt. Dort wurde zwischen 1946 und 1951 ein schwarzes Trikot für den Letzten vergeben. 1951 versuchte ein gewisser Luigi Malabrocca Zeit zu schinden, indem er sich auf einer Etappe unter anderem in Kneipen versteckte. Am Ende brauchte er für ein 40 Kilometer langes Zeitfahren unglaublich lange 3:15 Stunden. Das ist ein Zwölferschnitt, den jede Senioren-Radwandergruppe locker toppt. Man hat daraufhin diese Wertung beim Giro wieder abgeschafft.

Natürlich ist der Kampf vorn deutlich spannender als der am Ende eines Feldes. Und wie man die Jagd auf ein begehrtes Ehrentrikot der Tour wirklich packend inszenieren kann, zeigte der Zeitfahr-Spezialist Tony Martin bei der Tour 2015 – wenn auch sicherlich nicht ganz freiwillig. Der Polizeimeister konzentrierte sich damals komplett auf seinen großen Traum Gelbes Trikot. Beim einzigen Zeitfahren der Grande Boucle in diesem Jahr gleich zum Auftakt rast er dann zwar eine Sekunde schneller als sein Schweizer Erzrivale Fabian Cancellara über die glühend heißen Straßen von Utrecht, das Gelbe Trikot schnappt sich aber Rohan Dennis. Der Australier ist als ehemaliger Stundenweltrekordler ein guter Zeitfahrer, jedoch sicher nicht der Favorit. So schnell will Martin aber nicht aufgeben. Tags darauf verpasst er dann sein Ziel um drei Sekunden, weil ihm Cancellara durch eine Zeitgutschrift im Zielsprint vier Sekunden abgenommen hat. Wieder einen Tag später ist er bis auf eine Sekunde dran an Gelb, diesmal überholt ihn der spätere Gesamtsieger Chris Froome an der Mauer von Huy. Aber dann kommt doch noch sein großer Tag: Martin attackiert aus der Spitzengruppe heraus kurz vor dem Ende der mit 235 Kilometern längsten und extrem harten Kopfsteinpflaster-Etappe ins französische Cambrai und verteidigt im Ziel drei Sekunden Vorsprung vor John Degenkolb, dem er damit den Traum von dessen erstem Etappensieg bei der Tour vermasselt. Dem Wahlschweizer bringt die finale Härte das ersehnte Gelbe Trikot, das er dann nach nur einem Genusstag – durch einen Sturz mit offenem Schlüsselbeinbruch auf der sechsten Etappe – schon wieder an Chris Froome verliert. So hart er dafür gekämpft hat, so schnell ist es gleich wieder weg. Künstlerpech. Trotzdem war dieser Kampf für ihn „ein Highlight und meine besten zwei Tage im Radsport“, wie er hinterher sagte. Das Trikot hängt nun sogar in seinem Haus am Schweizer Bodenseeufer an der Wand; seine immerhin vier WM-Trikots vom Einzelzeitfahren lagert er dagegen in einem Karton. Auch das zeigt, wie wichtig die Tour in den Augen der Profis ist.

Ihr elenden Mörder

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