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Hamburg/Herrensee, Sonntag, 18. Juli 1993

Am frühen Morgen hing der Himmel noch bleischwer über der norddeutschen Tiefebene. Wie in den letzten Tagen. Aber wenigstens der Regen hatte endlich aufgehört und es klarte allmählich auf. Meine Stimmung schlug ebenso um wie das Wetter. Beides wurde von weiteren Tiefausläufern verschont, es breitete sich ein Hochdruckgebiet aus, über Norddeutschland und über meinem Seelenleben. Endlich sollte es Sommer werden. 24 bis 30 Grad, viel Sonne. Die Aussichten für die kommenden Tage seien recht vielversprechend, versicherte ein Meteorologe vom Seewetterdienst im Radiofrühprogramm. Plötzlich fühlte ich mich so gut wie schon lange nicht mehr. Das lag nicht nur am Wetter, sondern vor allem an dem Gespräch mit Irma und an der Einladung zum großen Geburtstags- und Golfwochenende auf Schloss Herrensee.

Beides hatte mich vor einer jener heraufdämmernden Schwermutsattacken bewahrt, in deren Verlauf ich mir die Sinnfrage zu stellen pflegte. Aber nicht nur das: Nach einem Monat hatte ich gerade zur rechten Zeit meinen Führerschein zurückbekommen. Und mein schönes Saab Cabrio – eines der letzten aus der echten Schwedenproduktion, bevor die Amerikaner die Marke verhunzten – stand nach einer Inspektion abholbereit in der Werkstatt, rundum poliert und auch innen auf Hochglanz geputzt.

Natürlich klappte ich gleich das Verdeck auf, um bei der Fahrt übers Land den blauweißen Himmel, die Ausblicke ins Grüne und den Geruch von Bäumen, Blüten und frisch gemähtem Heu zu genießen. Mein Ziel: das Dorf Herrensee. Ich war dort Mitglied im ziemlich exklusiven »Golf- und Landclub Schloss Herrensee«. Das hatte ich mir nur leisten können, weil der Verleger und Clubbesitzer Malte von Mellin seinen Verlagsangehörigen einen fünfzigprozentigen Rabatt auf Jahresbeiträge und Eintrittsspenden gewährte. Zu den wirklich wichtigen Einladungen und den großen Turnieren wurden jedoch nur wenige Auserwählte aus den Führungszirkeln des Konzerns geladen. Und obwohl ich nicht mehr für den Verlag arbeitete, gehörte ich nun dazu. Das hatte ich also Irma zu verdanken

An diesem Sonntag wollte ich trainieren und vielleicht auch eine Runde spielen. Mein Abschlag war vor dem kommenden Turnier dringend renovierungsbedürftig, ein hartnäckiger Slice, ein Ballflug nach rechts statt schnurgeradeaus, machte mir wieder mal zu schaffen. Eine weit verbreitete Golferkrankheit. Und ein neuer Putter sollte mir helfen, gewisse Schwächen auf dem Grün zu beheben.

Von der Isestraße fuhr ich über den Klosterstern zum Harvestehuder Weg und über die Lombardbrücke in Richtung Autobahn. Die traumhafte Aussicht aus dem offenen Wagen über das blaue Wasser und auf das Alsterufer gegenüber mit den prächtigen weißen Häuserfassaden war immer gut für die Stimmung. Der Saab röhrte mit einem satten Sound über Autobahn und Landstraßen. Die Sonne kam gleichzeitig mit mir in Herrensee an. Bald weideten nur noch ein paar grauweiße Schäfchenwolken am blauen Himmel. Am Ende einer langgezogenen Kurve tauchte der Kirchturm hinter hohen Baumkronen auf und dann das Ortsschild des Dorfes, das durch das Schloss am See und den Golfplatz bekannt geworden ist. Im Radio verklangen die letzten Pianotöne von Dave Brubecks »Wonderful Copenhagen«.

Herrensee war eine noch landwirtschaftlich genutzte Idylle. Kuhfladen mit Reifenprofilen lagen auf der mit Kopfsteinen gepflasterten Hauptstraße. Eichen, Kastanien und Walnussbäume hatten Krieg und Frieden überstanden, und Rosen rankten an den Fassaden von strohgedeckten Fachwerkhäusern. Städter aus Hamburg, Hannover und Bremen, sogar aus Berlin, hatten sich hier idyllische Zweitwohnsitze zugelegt. Alte Bauernhäuser und marode Fachwerkkaten waren mehr oder weniger einfühlsam renoviert worden. Die Zugezogenen schienen in nachbarschaftlicher Symbiose mit der knorrigen Landbevölkerung zu leben. Im Dorf Herrensee gab es noch eine verräucherte Kneipe, in der es heimatlich roch, nach verschüttetem Bier und nach Bratkartoffeln. Auf dem Kirchplatz erinnerte ein mit verwelkten Topfblumen garniertes Kriegerdenkmal an die Söhne der Gemeinde, die in zwei Weltkriegen fürs Vaterland gefallen waren.

An der nächsten Ecke, vor einer Lindenallee, wies ein Holzschild mit zwei gekreuzten Golfschlägern den Weg zum »Golfclub Schloss Herrensee«. Der Golfplatz war von einem Fachmagazin zu Beginn der Saison erneut zu einer der schönsten Anlagen Deutschlands ernannt worden. Der Eigentümer, Großverleger Malte von Mellin, so hieß es, scheue weder Mühe noch Kosten, um diesen in schöner Landschaft gelegenen und sportlich ambitionierten Platz zum Wallfahrtsort für Weltklassespieler und für Golfer aus Deutschland und der ganzen Welt zu machen. Der 18-Loch-Platz sollte auf 27 Loch erweitert werden. Die Erdarbeiten hatten im Frühjahr begonnen. Dabei war nun ein großer Bagger am Rande einer alten Kiesgrube auf das Wrack des amerikanischen Bombers gestoßen.

Weil ich Zeit hatte und die Sonne inzwischen prächtig schien, fuhr ich noch einmal aus dem Dorf heraus und bog in einen Waldweg ein. Von einem sandigen Parkplatz lief ich ein paar Meter in den lichten Laubwald hinein. Nach wenigen Metern hatte man eine hinreißende Aussicht. Herrensee lag in einem flachen, ausgedehnten Tal vor sanft ansteigenden Hügeln. Zur Linken war ein Teil des Herrensees und davor ein Stück des Golfplatzes mit dem Schloss zu sehen. Ein beliebtes Postkartenmotiv. Hundert Meter vor mir stieg gerade ein Starenschwarm lärmend aus einem ungeschützten alten Kirschgarten auf, tanzte eine Weile anmutig über dem Dorf und folgte der Lindenallee, die zum Schloss Herrensee führt. Das zweistöckige neoklassizistische Gebäude mit den Säulen an der Frontseite stand sonnengelb leuchtend vor einem dunkelgrünen Park. In der großen Gartenanlage davor waren sorgfältig gestutzte Hecken und gezirkelte Blumenbeete, Rhododendron und Rosen zu sehen. Von der Terrasse fiel eine Rasenfläche zum See hin ab, zu dem ein Bach führte, der von einer Holzbrücke überquert wird. Auf der Terrasse waren jetzt zwei Dutzend weiße Sonnenschirme und ebenso viele Tische aufgestellt.

Von meinem Platz aus wirkte die Landschaft mit See und Schloss wie ein Gemälde des britischen Landschaftsmalers John Constable. Und tatsächlich wusste ich von Irma, dass ein von den Mellins engagierter Landschaftsarchitekt aus England in den sechziger Jahren das ganze Golfplatzgelände inmitten des norddeutschen Bauernlandes rings um Schloss Herrensee zu einer naturnahen Parklandschaft veredelt hatte, wie man sie aus Devon oder Cornwall kennt.

Von ihr wusste ich auch, dass ein Schüler Karl Friedrich Schinkels das Schloss Herrensee vor eineinhalb Jahrhunderten im Auftrag eines Hamburger Reeders entworfen hatte, der mit dem Gewürzimport aus Sansibar reich geworden war. Später hatte eine jüdische Bankiersfamilie das Anwesen gekauft. Sie konnte sich nach der Reichskristallnacht und vor Kriegsausbruch nach Amerika retten. Während der Nazizeit war das Schloss beschlagnahmt worden, viel mehr wusste man darüber nicht. Auf alten Fotos war der erbärmliche Zustand des Gebäudes in den Nachkriegsjahren dokumentiert: große Löcher in den Dächern, zerborstene Fenster, herausgerissene Fußböden.

Malte von Mellin hatte den heruntergekommenen Besitz inklusive hundertfünfzig Hektar Land Ende der fünfziger Jahre zu einem symbolischen Preis von der Denkmalschutzbehörde gekauft. Mit vielen Millionen und mit einfühlsamen Architekten hatten er und seine Ehefrauen daraus wieder das gemacht, was es einmal gewesen war: ein Schmuckstück großbürgerlicher Lebensart.

Früher hatte der Verleger auf Schloss Herrensee häufiger Empfänge für die wirtschaftliche und politische Elite des Wirtschaftswunderlandes Deutschland gegeben – schon um die Betriebskosten für das Haus steuerlich absetzen zu können. Aber in letzter Zeit war es stiller geworden auf Herrensee.

Bester Laune fuhr ich auf den Parkplatz des Golfclubs. Und der Tag versprach auch weiterhin gut zu werden, denn an der Rezeption traf ich Wolfram Witt.

»Als hätte ich geahnt, dass du heute mal wieder rauskommen würdest, Bogey!«, sagte er, als wir uns nach Männerart flüchtig umarmten. »Wollen wir zusammen eine Runde spielen?«

Ich war sofort einverstanden und freute mich wirklich, ihn nach längerer Zeit wiederzusehen. Er war beinahe drei Monate lang »verreist« gewesen, wie es hieß. Wir wollten beide noch trainieren, meldeten aber sicherheitshalber schon eine Abschlagzeit an, für 14:30 Uhr. Bei dem wunderbaren Golfwetter würde es heute einigen Andrang auf dem Platz geben.

Wolfram Witt war mehr als ein guter Bekannter. Ein Golffreund, fast schon ein richtiger Freund. Wolfram hatte mich als Erster »Bogey« genannt.

Unter der alteingesessenen Elite und den neureichen Mitgliedern des Clubs bildeten er und ich gemeinsam mit einigen anderen Normalverdienern eine mittelständische Gruppe, die mehr Wert auf Golfsport als auf Gesellschaftsspiele legte. Wir kauften keine Designerkleidung und schoben unsere Schläger-Bags nicht in zweitausend Mark teuren Titan-Trolleys über die Fairways.

Als wir nebeneinander vor den Abschlaghütten standen und einen Ball nach dem anderen mit wechselnden Schlägern von den Tees den flachen Abhang hinunterprügelten, beobachtete ich Wolf aus den Augenwinkeln. Seine Schwungtechnik war nichts für Golfästheten. Er holte Energie und Spannung nicht aus dem ganzen Körper, sondern nur aus seinen muskulösen Schultern. Aber seine Bälle flogen weit und gerade. Einer nach dem anderen.

Wolfram sah gut aus, viel besser als bei unserem letzten Treffen. Er hatte ein paar Kilo zugenommen. Seine Wangen erschienen nicht mehr so eingefallen. Die scharfen Falten zwischen Nase und Mundwinkeln waren wie wegretuschiert. Seine früher graue und schlaffe Gesichtshaut war frisch und rosigbraun. Und der kürzere Haarschnitt machte ihn jünger. Ganz offensichtlich hatte ihm die Entziehungskur am Bodensee gut getan. Ich war wohl einer der wenigen, denen er davon berichtet hatte. Bei dieser Gelegenheit, so erzählte er mir stolz, habe er nach vierzig Jahren auch gleich das Rauchen aufgegeben.

»Ich bin stolz auf dich«, sagte ich.

Er grinste ein wenig verlegen.

»Wir haben ja länger nicht zusammen gespielt. Wie ist dein aktuelles Handicap?«

»Fünfzehn Komma acht«, sagte ich.

»Nicht schlecht«, sagte er, »aber dann habe ich die Ehre.« Er habe sich bei Turnieren am Bodensee auf Vierzehn Komma drei verbessert.

Wolfram schlug also am Tee 1 zuerst ab. Und wie! Nach mehr als zweihundert Metern landete sein Ball mitten auf dem Fairway, ein paar Meter vor einem Graben, genau an der Stelle, an der die Bahn einen leichten Rechtsknick macht. Eine ideale Position. Von da aus konnte man die Fahne des Par 4 sehen. Sein zweiter Schlag mit einem Holz 5 rollte nach hundertsechzig Metern an zwei Sandbunkern vorbei bis kurz vor das Grün. Ein guter Chip und ein Zwei-Meter-Putt. Er reckte vor Freude die Faust in den Himmel. Mit vier Schlägen hatte er ein Par gespielt. Ich schaffte mit sechs Schlägen nur ein Doppelbogey.

Er war also tatsächlich in Form. Das freute mich für meinen alten Kumpel.

Wolfram Witt war früher einer meiner Informanten bei der Kripo gewesen. Und als Reporter hatte ich ihm gelegentlich auch mit ein paar Hinweisen bei Ermittlungen helfen können. Zum Beispiel als ich von einem FBI-Kontaktmann in New York erfuhr, dass eine Mafiafamilie aus Queens versucht hatte, Spielcasinos in der europäischen Provinz zu übernehmen. Die Landespolizei bildete eine Sonderkommission. Wolfram Witt übernahm die Leitung. Der kriminelle Coup konnte verhindert werden.

So etwas verbindet. Wir waren verschwiegen und konnten einander vertrauen. Und später haben wir etwa zur gleichen Zeit mit dem Golfspielen angefangen. Und wir haben uns gegenseitig unsere Geschichten erzählt. Es stellte sich heraus, dass wir Leidensgenossen waren: Auch seine Ehe war in die Brüche gegangen.

Wolfram war zuletzt Chef der Abteilung »Gewaltdelikte und Brandstiftung« der Kreispolizeiinspektion, die auch für das Gebiet Herrensee zuständig ist. Meist leitete er selber die von Fall zu Fall gebildeten Mordkommissionen. Vor gut einem Jahr wurde er überraschend früh pensioniert. Mit 54. Offiziell aus gesundheitlichen Gründen. Und das war wohl auch so, denn Alkoholabhängigkeit ist eine üble Krankheit. Jedenfalls war Hauptkommissar Wolfram Witt vor einem Jahr in den »wohlverdienten Ruhestand« verabschiedet worden. Im »gegenseitigen Einvernehmen«, wie es hieß. Und mit einer schönen Feier im Kreise der lieben Kollegen. Die hatte er noch aufrecht durchgestanden. Aber dann hat er sich zu Hause noch weiter betrunken. Bis zum Erbrechen.

Die knallharte Entziehungskur hat ihn gerettet.

Inzwischen war der frühpensionierte Ex-Ermittler nebenbei eine Art Sicherheitsberater für das Schlosshotel Herrensee und den Golfclub geworden. Der Clubmanager hatte ihn zu Sonderkonditionen engagiert. Wolfram bekam kein Geld – schon, damit seine Geschiedene nicht gleich wieder die Hälfte abkassierte. Stattdessen wurde ihm der vierstellige Jahresbeitrag für den Golfclub erlassen und auch die fünfstellige »Spende«, die von neuen Mitgliedern erwartet wurde. Und: Er bekam in den beiden erstklassigen Club- oder Schlossrestaurants ein paar Mal in der Woche eine warme Mahlzeit in Form eines mehrgängigen Menüs auf Kosten des Hauses. Dazu trank er nur Säfte oder Mineralwasser.

Als Gegenleistung arbeitete er Konzepte für die Sicherheit im Schlosshotel und in der Clubanlage aus. Und er hat die Einbrecher geschnappt, die im Laufe eines Jahres dreimal in den gut verschlossenen Caddieraum eingebrochen waren und dort eingelagerte Golfaufrüstungen gestohlen hatten. Und einem halben Dutzend Clubmitgliedern hatte er ihre vom Parkplatz verschwundenen Sport- und Geländewagen zurückgeholt – aus einer Diebes-Werkstatt in Krakau. Seither war der gestrauchelte Kriminal-Hauptkommissar Wolfram Witt wieder ein geachteter Mann im Club.

Auf unserer Runde lief es an diesem Tag für mich nicht so gut. Ich verzog die meisten Abschläge, und viele Putts liefen ein paar Zentimeter am Loch vorbei statt hinein. Wolfram spielte sicherer. Aber auch er hatte eine Schwächephase. Auf der 13. Bahn landete sein Ball vom Abschlag rechts neben dem gemähten Fairway, traf offenbar einen Stein und sprang und hoppelte in einem Naturbunker herum, wie die Golfer sagen – in einem naturbelassenen, sandigen und steinigen Gelände. Als wir den Ball suchten, konnten wir die alte Kiesgrube sehen, die noch aus der Zeit vor dem Weltkrieg stammte. Seither hatte sich dort ein ansehnliches Biotop entwickelt.

Wir gingen bis an die Abbruchkante. Das Bomberwrack war mit einer grünen, tennisplatzgroßen Plane abgedeckt worden. Rings um die kleine Tiefebene herum war ein rotweißes Absperrband gespannt, und alle paar Meter stand auf Schildern »Betreten verboten!«.

»Nach der Runde würde ich mir das ganz gerne mal aus der Nähe ansehen. Kommst du mit?«, fragte ich.

»Ja, klar. Ohne mich darfst du da sowieso nicht runter. In meiner neuen Eigenschaft als Sicherheitsbeauftragter des Clubs habe ich die Kiesgrube erst einmal auf unbestimmte Zeit sperren lassen.«

Wolfram gewann unser kleines Wettspiel. Nachher saßen wir im Schatten des Schlosses auf der Terrasse. Aus Solidarität mit meinem abstinenten Freund trank ich auch etwas Alkoholfreies: Jota, ein beliebtes Golfergetränk, halb Johannisbeersaft, halb Tonic.

Am Nebentisch floss schon Champagner. Natürlich. Denn das große Wort führte Laurenz Jansen junior, der Anlageberater mit der Steuerflucht-Adresse auf den Cayman Islands. Der protzte im Kreis seiner neureichen Klientel lauthals mit seiner neuen »Lange & Söhne«-Uhr.

Jansens Gerede wurde abrupt vom Lärm eines Hubschraubers übertönt, der über dem Schloss auftauchte. Es schien beinahe so, als wollte der Pilot mitten auf der Terrasse landen. Jedenfalls drohten die Sonnenschirme schon im Windwirbel der Rotoren umzukippen.

»Das ist ein Bell-Helikopter«, sagte Wolfram Witt. Er lief zu seinem Golfbag, holte einen kleinen Feldstecher und stellte die Schärfe ein.

»Ich glaube, es sind fünf oder sechs Leute an Bord. Wahrscheinlich die Experten, die das Bomberwrack untersuchen und nach Spuren der Besatzung suchen wollen.«

Tatsächlich ließ der Pilot die Maschine seitlich abkippen, flog eine scharfe Kurve und nahm Kurs auf die etwa vier- bis fünfhundert Meter entfernte Kiesgrube. Der Hubschrauber kreiste zweimal darüber, bevor er zur Landung ansetzte.

Wolfram holte ein Elektrocart mit dem Schriftzug »Marshall« an der Windschutzscheibe vom Betriebsgelände des Clubs, mit dem die Aufseher den Spielbetrieb auf dem Golfplatz überwachen. Vor uns rumpelte ein alter Landrover über die holprigen Spurrillen eines alten Sandweges zwischen dem Wald und dem Golfplatz. Auf dem Beifahrersitz saß unser Clubmanager Heinz Prahl.

Der Hubschrauber war auf einer sandigen Heidefläche gelandet, unweit der Stelle, an der Bagger die Erde aufgewühlt hatten. Der Landrover hielt kurz davor. Der Fahrer stieg aus. Ich kannte ihn vom Sehen und hätte ihn für einen Greenkeeper gehalten. Und im gewissen Sinne war er das auch, wie mir Wolfram erklärte.

»Das ist Eberhard Elvers, ein Jugendfreund von Malte von Mellin. Der Familie Elvers gehören riesige Länderein in der Gegend rings um Herrensee.«

Natürlich hatte ich die grün-weißen Schilder »Baumschulen Elvers« schon oft gesehen, die standen in dieser Gegend schließlich überall. Mit einem Unternehmen für Landschaftsgestaltung, so erzählte Wolfram weiter, hätten sich der alte Elvers und sein Sohn auf Golfplatzbau spezialisiert.

»Klar, die Firma hat auch den Auftrag für die Erweiterung des Clubs Herrensee gekriegt. Hier in der Kiesgrube soll die schönste Spielbahn des neuen Platzes entstehen: der Abschlag oben am Rand, ein Teich mit einem Bach-Zulauf davor, ein paar Bunker in der Mitte und das Grün am gegenüberliegenden Ende.«

Fünf Leute waren aus dem Hubschrauber geklettert. Vier Männer und eine Frau um die dreißig, mit sportlicher Figur. Sie band sich ihre zerzausten roten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie trug ein Jäckchen, enge Jeans und weiße Bootsschuhe. Zwei der Männer zogen Uniformjacken mit dem Emblem der U.S. Air Force aus und legten sie auf die Sitze des Helikopters. Die beiden anderen waren in Zivil.

Clubmanager Prahl ging vor uns auf die Gruppe zu. Soweit ich das verstehen konnte, stellte sich der Kleinste als Militärattaché vor. Er deutete auf die hinter ihm aufmarschierten Begleiter und nannte Namen und Funktionen. Die Rothaarige hielt sich ein wenig im Hintergrund.

Als Wolfram Witt und ich näher kamen, schienen sich die Besucher beim Clubmanager nach uns zu erkundigen. Der sagte etwas von Security. Er stellte Wolfram Witt als früheren Kripo-Kommissar vor und deutete auch in meine Richtung. Die Amerikaner akzeptierten unsere Anwesenheit. Ein junger Fotoreporter schien sie mehr zu irritieren. Der hatte sich am oberen Rand der Kiesgrube gegen einen mannshohen Findling gelehnt und eine Kamera mit großem Zoomobjektiv in Anschlag angebracht. Wirklich ein gutes Motiv, dachte ich: Der Hubschrauber, das Bomberwrack, davor die Amerikaner. Einer der Besucher wollte den Fotografen offenbar verscheuchen. Aber der Clubmanager beschwichtigte sie.

»Das ist ein junger Redakteur von der Lüneburger Lokalredaktion der Norddeutschen Post«, erklärte mir Wolfram Witt. »Joachim Lühning heißt er, ein cleverer Junge, schreibt und fotografiert. Der wird einen Tipp bekommen haben.«

»Die Bilder kann er gut weiterverkaufen«, sagte ich, »sogar an Zeitungen und Magazine in den USA.«

Während die Amerikaner eine Ortsbesichtigung abhielten, blickte Wolfram Witt scheinbar technisch interessiert in das Innere des Helikopters. Zwei Amerikaner versuchten vergeblich, ihn wegzudrängen.

»Die beiden Typen sind vom Geheimdienst der U.S. Air Force«, erklärte er nachher. Er habe auf ihren abgelegten Jacken die Wappen mit der Aufschrift der AIA, Air Intelligence Agency, gesehen.

Die Amerikaner betrachteten das Wrack des Cockpits aus allen Perspektiven. Einer fotografierte ständig. Sie verharrten eine Weile lang andächtig, wie zum Gebet. Dann ließen sie sich von Clubmanager Prahl erklären, wie das Wrack gefunden worden war. Prahl winkte einen Mann herbei, der in einiger Entfernung in der Kanzel eines großen Atlas-Baggers saß und rauchte.

Der Baggerführer erklärte, was passiert war. Sein Chef Eberhard Elvers sei geschäftlich verreist gewesen. Und als er mit seiner Arbeit schneller als geplant vorangekommen sei, habe er vergessen, dass er in diesem Bereich eigentlich nicht ohne Anweisung von Elvers arbeiten sollte. Prahl übersetzte das breite Plattdeutsch des Mannes für die Amerikaner:

»Ich wollte also einen Hügel planieren, der auf der Spielbahn gestört hätte. Nach kurzer Zeit gab es ein hässliches Geräusch. Die Schaufel kratzte gegen Metall und erwischte dann ein Stück graugrünes Blech. Ich dachte, das wäre ein altes Auto. Vielleicht ein Lastwagen aus dem letzten Krieg. Aber dann kam mir die Form doch komisch vor. Erst habe ich selber mit Schaufel und Spaten gegraben und dann ein paar Hilfsarbeiter dazugeholt ...«

Ja, dann sei bald klar geworden, dass der Bagger auf ein Kriegsflugzeug gestoßen war. Einen Ami-Bomber, denn das Wort »New York« sei ja noch ganz gut zu lesen. Was »Pride« bedeute, wussten die Arbeiter nicht. »Das heißt Stolz«, sagte der Manager. Er trat direkt an das zerborstene Cockpit heran. Wir folgten ihm. Es fehlten zwar ein paar Buchstaben, doch trotz der Schrammen und der rostigen Stellen war die handgemalte Schrift noch zu entziffern: »Pride of New York«.

»Was wohl aus der Besatzung geworden ist?«, sagte einer.

»Das werden wir noch herauskriegen. Das sind wir unseren Jungs und ihren Familien schuldig«, erwiderte einer der beiden Leute vom Air-Force-Geheimdienst. Seine Stimme klang pathetisch.

Die rothaarige Frau ging jetzt den Hang hinauf auf den jungen Reporter zu, der gerade seinen Standort wechselte. Es sah zunächst aus, als wolle sie ihn davonjagen. Doch dann plauderten die beiden offenbar freundlich miteinander. Sie tauschten Visitenkarten aus. Später erfuhr ich, was auf ihrer Karte stand: Valerie Stansted, Special Correspondent, American-German Press Service. Als Büroadresse war der Harvestehuder Weg in Hamburg angegeben, an dem auch das US-Generalkonsulat liegt.

»Ich wette, die arbeitet für die CIA«, sagte Wolfram.

Nach einer Stunde kletterten die Amerikaner wieder in ihren Helikopter. Die Rothaarige zuletzt. Als die Maschine mit ohrenbetäubendem Krach vom Boden abhob, wirbelten die Rotoren eine Sand- und Staubwolke auf. Wir hielten die Hände schützend vor die Augen.

In unserem Golfkarren folgten Wolfram Witt und ich den Reifenspuren des alten Landrovers zurück zum Golfclub. Als wir ankamen, ließ die tief stehende Sonne die Ziffern der Turmuhr auf dem Ziegeldach golden glänzen. Es war halb acht. Die Kellner konnten nach der Schlechtwetterperiode das Abendessen endlich einmal wieder auf der Terrasse servieren. Nach der Vorsuppe wurde ich ans Telefon gerufen. Zu meiner Überraschung meldete sich Irma.

»Ich muss mit meinem Vater noch einmal in die Staaten, aber in ein paar Tagen sind wir wieder zurück, spätestens zum Geburtstag von Lena. Wir warten gerade in Frankfurt auf unsere verspätete Maschine. Und du kommst nicht drauf, was ich gerade mache ...«

Eine Lautsprecheransage übertönte ihre Stimme, so dass ich die folgenden Worte nicht verstehen konnte.

»Was hast du gesagt?«, fragte ich. »Was machst du gerade?«

»Ich denke an dich, Bogey!«

Bevor sie auflegte, hörte ich noch eine Durchsage »Die Lufthansamaschine LH soundso nach Washington ist jetzt bereit zum Einsteigen.«

Auf der Clubterrasse lehnte ich mich glücklich in meinen Rattansessel zurück und blickte in den wolkenlosen Abendhimmel. Über dem Dach von Schloss Herrensee übte ein Vogelschwarm für den Flug in den Süden.

Der fünfte Schatten

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