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Ali tobte mit seiner Knochenhälfte noch immer auf der großen Wiese herum. Die Aufregung über den mysteriösen Fund des Menschenknochens legte sich langsam. Allmählich wandten sich die meisten Gäste wieder der Kaffeetafel zu und nahmen ihre unterbrochenen Gespräche wieder auf.

Mir aber ließ die Geschichte keine Ruhe. Ich machte mich an Irmas Tochter heran.

»Hallo Lena«, sagte ich, »erzählst du mir mal, wo Ali den Stock gefunden hat?«

»Wer bist du?«

»Ich bin doch Bogey! Wir haben uns heute morgen schon auf dem Parkplatz kennengelernt.«

Jetzt erinnerte sie sich und lachte.

»Stimmt ja! Was machst du denn hier?«

»Deine Mama hat mich eingeladen.«

»Bist du der neue Freund von Mama?«

Ich zögerte. Irma stand ein paar Meter weiter und hatte uns wohl zugehört. Sie entschuldigte sich bei ihren Gesprächspartnern und kam mir bei der Antwort zu Hilfe.

»Nein, mein Schatz«, sagte sie. »Bogey ist ein alter Freund von mir, wir kennen uns schon lange und spielen manchmal Golf zusammen.«

Das Eis war gebrochen. Ich kniete mich hin und Lena strich mit ihrer weichen Mädchenhand über mein raues Kinn.

»Warum hast du so einen stoppeligen Bart?«

»Weil mein Rasierapparat kaputt ist«, sagte ich.

»Dann ist der Rasierapparat von dem Mann auch kaputt.«

»Was für ein Mann?«, wollte Irma wissen.

»Der Mann, der Ali den komischen Stock gegeben hat.«

»Waaas? Ein Mann hat Ali den Knochen gegeben?«

Irma wollte es nicht glauben. Aber als ich nachfragte, erzählte das aufgeweckte Kind immer mehr. Da drüben am Waldweg, nur etwa zwei- bis dreihundert Meter entfernt, sei ein Mann aus dem Wald gekommen.

»Der hatte einen Stoppelbart wie du, nur dunkler ... Und der hatte einen Korb in der Hand ... In dem Korb waren Pilze und das Stöckchen ... Das Stöckchen hat der Mann aus dem Korb genommen und Ali vor die Nase gehalten, und dann hat er es weggeworfen, und Ali hat es geschnappt.«

»Und was hat der Mann dann gemacht?«, wollte Irma wissen.

»Der Mann hat sich gefreut und ist wieder in den Wald gegangen.«

»Hat der Mann etwas gesagt?«, fragte ich.

»Ja, er hat mir gesagt, Ali soll Opa das Stöckchen bringen, dem gehört es oder der kennt es oder so.«

Irma blickte ihre Tochter ungläubig an. »Das hat er wirklich gesagt!?«

»Ja. ›Bring das deinem Opa‹, hat er gesagt. Und dass wir Opa schöne Grüße ausrichten sollen. Und dass Opa weiß, wo noch viel mehr solcher Stöckchen liegen.«

Wir hatten uns zu Lena heruntergebeugt. Jetzt hörten wir hinter uns Schritte.

»Das ist aber eine lustige Geschichte, die du dir da ausgedacht hast, Lena«, sagte Malte von Mellin und machte gar kein lustiges Gesicht, als er in die Knie ging, seine Enkeltochter zu sich heranzog und ihr über das blonde Haar strich.

»Neeeeiiin! Das hab ich mir nicht ausgedacht! Das hat der Mann im Wald wirklich gesagt, Opa!«

Die Kleine stampfte wütend mit dem Fuß auf. Die anderen Kinder bestätigten Lenas Geschichte.

»Merkwürdige Sache«, sagte Malte von Mellin leise.

Offenbar beschäftigte ihn der Vorfall sehr.

Ich verabschiedete mich, ich müsse zu meiner Trainerstunde. Ich sei auf der Driving Range mit Golflehrerin Jessica Liedtke verabredet.

Irma sagte, sie würde noch bis morgen in Herrensee bleiben.

»Ich werde im Ponyhof übernachten. Wie früher. Erinnerst du dich?«

Was für eine Frage! Der Ponyhof – daran hatte ich unvergessliche Erinnerungen. Ein idyllisches Häuschen, etwas abseits zwischen Schlossgebäude, Wald und Golfplatz gelegen. Früher wurden dort tatsächlich Ponys gehalten. Irmas Mutter, Malte von Mellins zweite Frau Renate, hatte das kleine Stallgebäude zum einundzwanzigsten Geburtstag ihrer Tochter zu einem geschmackvollen Landhäuschen umbauen lassen. Mit weiß verputztem Mauerwerk, Sprossenfenstern, Klappläden und strohgedecktem Dach. Innen gab es nur einen einzigen großen Raum, eine große Sitzecke mit Kamin, eine offene Pantryküche, alte Steinfliesen und Fußbodenheizung. Nur das Bad mit einer kleinen Sauna war abgetrennt. Eine Treppe aus altem Holz führte nach oben in das halboffene Dachgeschoss. Unter der Dachschräge waren Schränke und ein breites Bett eingebaut. Irma benutzte das Ponyhaus als Wochenend- und Ferienhaus. Und als Liebesnest. Wir hatten dort wunderbare Stunden, Tage und Nächte verbracht. Den rauchigen Geruch des knackenden Buchenholzfeuers im Kamin hatte ich noch immer in der Nase.

Ich werde im Ponyhaus übernachten! Was wollte sie mir damit sagen? War das eine diskrete Einladung? Oder bildete ich mir das nur ein?

Meine Hoffnung auf eine gemeinsame Nacht verstärkte sich Stunden später, als Irma gegen Abend scheinbar beiläufig bei einem Drink auf der Clubterrasse erwähnte, ihr Töchterchen werde übrigens mit dem tschechischen Kindermädchen nach Hamburg zurückfahren. Denn Lena müsse morgen wieder in den Kindergarten. Später brachte sie die beiden tatsächlich zum Parkplatz.

Als wir alleine waren, hakte Irma sich – außer Sichtweite der übrigen Clubmitglieder und Gäste – bei mir ein und zog mich auf den von Rosenbüschen gesäumten Weg, der sich in sanften Schwüngen vom Schloss zum Herrensee hinunterwindet. Die vertraute Geste, ihr Parfüm, das nach Vanille duftete, die weiche Stimme, mit der sie sagte: »Ich freue mich, dass du da bist«, und die kleinen Blitze, die dabei in ihren Bernsteinaugen aufleuchteten – all das erinnerte mich an unser erstes Kennenlernen. Die erloschene Intimität zwischen uns flackerte plötzlich wieder auf. Gleichzeitig beobachtete ich uns aus sicherem Abstand, so, als würden wir in einer Filmszene mitwirken. »Action ...!«, hatte jemand gerufen, und nun liefen wir wie vor einer fahrbaren Kamera her auf den Abendhimmel zu. Im Bildhintergrund, auf der gegenüberliegenden Seite des an dieser Stelle schmalen Sees, zogen ein paar späte Golfspieler ihre Trolleys und Bags im letzten Büchsenlicht über die Fairways in Richtung Clubhaus.

Unter unseren Sohlen knirschte hellgrauer Kies. Wir setzten uns auf eine Bank am Schilfufer des Sees. Wie früher. Und wie damals schwiegen wir und blickten in den Himmel, dessen Farben sich immer dramatischer zu einem blutigen Rot mischten.

»Früher hättest du mich geküsst und dir dann eine Zigarette angesteckt. Rauchst du nicht mehr?«, sagte Irma nach einer Weile.

»Nein. Vor zwei Jahren habe ich aufgehört«, sagte ich und umfasste ihre Schulter. »Und ich habe auch schon länger nicht mehr geküsst. Ich weiß gar nicht mehr, wie das geht.« Irma drehte ihren Kopf lachend zur Seite, als ich einen unbeholfenen Annäherungsversuch machte.

»Und was hat sich sonst noch bei dir geändert? Du hast neulich am Telefon versprochen, mir von dir zu erzählen.«

»Eine ganze Menge«, sagte ich. »Ich habe meinen Job beim Magazin Zenit verloren und meine Scheidung zieht sich schon fast ein Jahr lang hin.«

Auch als sie nachfragte, machte ich zu diesen Themen nur ein paar Andeutungen und erzählte lieber von meiner überraschenden Immobilien-Erbschaft.

»Dann hast du ja keine finanziellen Sorgen, dann kannst du endlich deinen großen Roman schreiben, auf den die Welt schon seit Jahren wartet.«

»Mir fehlt ein Thema, das mich wirklich bewegt und umtreibt. Und wahrscheinlich auch das Durchhaltevermögen zum Schreiben eines Buches.«

»Versuch’s doch erst mal mit einem kleinen Krimi, das liegt dir vielleicht mehr. Falls du einen Anfang suchst, wie wäre es denn damit: Ein paar Kinder und ein Hund finden im Wald einen Menschenknochen ...«

»Falsch«, sagte ich. »Ein Unbekannter gibt ein paar Kindern und ihrem Hund einen Menschenknochen und sagt, sie sollen dieses makabere Teil bei einem bekannten Konzernchef und Großverleger abliefern ...«

»Ziemlich gruselig, nicht wahr?«, sagte Irma.

Wir hörten Schritte. Auf dem Kiesweg kam der Schattenriss eines Mannes auf uns zu. Irma nahm meine Hand. Es war ihr Vater.

»Man hat mir gesagt, dass ihr hier unten seid«, sagte Malte von Mellin. »Habt ihr noch einen Platz frei?«

Wir mussten auf der Holzbank enger zusammenrücken. Er setzte sich mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit neben uns.

»Schön hier«, sagte er. »Das ist im Sommer einer meiner Lieblingsplätze.«

Ich konnte die beiden von der Seite betrachten. Die hohe Stirn, die schwungvollen Augenbrauen, die schmale Nase, das ausgeprägte Kinn – die Profile von Vater und Tochter waren beinahe deckungsgleich. Sein Mund war schmaler und härter als der seiner Tochter.

»Das Schloss da oben, der kleine See vor uns, der Golfplatz am anderen Ufer – so hatte ich das schon vor Augen, bevor ich damals den Kaufvertrag für das völlig heruntergekommene Anwesen unterschrieben habe«, sagte er und verfiel dann in längeres Schweigen.

»Sie haben wirklich Glück gehabt im Leben«, sagte ich, nur um irgendetwas zu sagen, und fand die Bemerkung gleich ziemlich unpassend.

»Wissen Sie, Herr ...«

»Anders«, sagte seine Tochter. »Neulich, als wir die Gästeliste für das Geburtstags- und Golfwochenende gemacht haben, hast du noch gesagt, dass du dich noch an Jonas Anders erinnern kannst. Du wirst doch vergesslich, Papa!«

»Mit meinem Namensgedächtnis hapert es allerdings schon immer.« Er holte ein Zigarillo aus einem Etui, zündete es sorgfältig an und blies die ersten Qualmwolken genüsslich in die Abendluft. Es roch gut und teuer.

»Übrigens habe ich lange nicht mehr einen Ihrer geschätzten Beiträge im Zenit gelesen, Herr Anders«, sagte er dann und fügte süffisant hinzu: »Ich habe schon richtige Entzugserscheinungen. Arbeiten Sie an einer großen Serie? Oder waren Sie wieder mal auf einer kostspieligen Recherchereise irgendwo in der Welt unterwegs? Oder leiden Sie gerade an einer Schreibblockade, wie so manche der hochbezahlten Edelfedern in unserem Verlag?«

»Papa ...!«, sagte Irma.

»Offenbar ist Ihnen entgangen, dass ich schon seit einigen Jahren nicht mehr Mitarbeiter Ihres Hauses bin«, sagte ich, »aber Sie haben natürlich Wichtigeres, um das Sie sich kümmern müssen.«

»Jonas ...!«

»Jetzt, wo Sie es sagen ... Ich habe doch davon gehört. Sie hatten wohl Ärger mit Ihrem Chefredakteur. Mussten wir Ihnen eigentlich eine Abfindung zahlen?«

Ich wollte eine bissige Antwort geben, schwieg dann aber doch lieber.

»Was machen Sie denn nun, Herr Anders?«

»Er arbeitet an einem Buch«, sagte Irma und lächelte mir aufmunternd zu.

»Interessant«, sagte er uninteressiert.

Wir blickten alle drei über den schmalen See zum Golfplatz hinüber. Im Zwielicht der Dämmerung rollte noch ein Elektrokarren aus der Richtung des inzwischen beleuchteten Clubhauses beinahe geräuschlos über das frisch gemähte Fairway der zweiten Bahn. Eine junge Frau in heller Golfkleidung steuerte den kleinen Wagen. Ich erkannte Jessica Liedtke, die ausgesprochen hübsche Golflehrerin, bei der die männlichen Clubmitglieder gerne Trainingsstunden nahmen. Ich auch. Sie war nicht nur ansehnlich, sondern hatte wirklich Ahnung vom Golf und war eine geduldige und einfühlsame Lehrerin. Neben ihr saß ein etwas älterer Mann. Auch er kam mir bekannt vor, aber ich wusste nicht woher.

»Wollen die jetzt noch spielen? Die können bei diesem Licht doch kaum noch einen Ball sehen«, sagte Irma.

»Vielleicht suchen sie noch nach einem verlorenen Schläger.«

»Oder sie wollen doch noch spielen – aber kein Golf.« Irma lachte.

Als der Karren außer Sicht war, drehte sich der alte Mellin zu mir um.

»Vorhin haben Sie gesagt, ich hätte in meinem Leben Glück gehabt. – Das ist wohl so gewesen, wenn die Definition richtig ist, die ich vor kurzem gelesen habe: Danach bedeutet Glück haben: zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein und eine Gelegenheit zu nutzen!«

Diese Art von Glück habe er wohl tatsächlich in seinem Leben gehabt – zumindest in seinem beruflichen Leben als Unternehmer und Verleger. Privat eher nicht, fügte er hinzu.

Malte von Mellin wandte sich an seine Tochter.

»Auf dich kommt jetzt so eine Gelegenheit zu, bei der du das Glück ergreifen kannst, Irma – früher, als wir gedacht haben.«

Es sei zwar eigentlich nicht der richtige Ort und die richtige Stimmung, um ihr das jetzt zu sagen, aber er müsse nach einer Übernachtung im Schloss morgen früh gleich nach Hamburg zurück, und wahrscheinlich würden sie sich vorher nicht mehr sehen ... Und nach einer kleinen Kunstpause sah er zu mir herüber und sprach dann, an seine Tochter gewandt, leise weiter.

»Ich möchte, dass du die Fusionsverhandlungen mit Atlantic Publishers in den USA übernimmst. Nach unserer Reise bin ich überzeugt, dass du das besser kannst als dein Bruder.« Dann sagte er noch, als habe er etwas vergessen: »Den Vorstand habe ich bereits unterrichtet. Noch streng vertraulich natürlich.«

Er stand auf und schüttelte seiner Tochter länger die Hand, als wolle er eine mündliche Vereinbarung besiegeln. In meine Richtung machte er eine vage, freundliche Geste. Dann ging der Verleger mit knirschenden Schritten über den Kiesweg zurück, so, wie er gekommen war. Offenbar hatte es ihn nicht gestört, dass ich mithören konnte.

Irma war eine Weile sprachlos.

»Mist«, sagte sie dann, »damit habe ich nicht gerechnet, jedenfalls jetzt noch nicht.«

»Du wolltest den Job doch machen«, sagte ich. »Jedenfalls hatte ich bei unserem Telefongespräch neulich diesen Eindruck.«

»Ja, schon. Es ist eine Herausforderung und eine Chance. Und dass ich ehrgeizig bin, ist ja kein Geheimnis. Vor allem will ich es auch meinem Bruder zeigen, der mich immer noch so von oben herab als kleine Schwester behandelt. Aber trotzdem finde ich es schade, dass mein Vater uns ausgerechnet jetzt die Stimmung verdorben hat. Wahrscheinlich mit Absicht, wie ich ihn kenne.«

»Macht nichts«, sagte ich lahm. »Geschäft ist Geschäft.«

Wir standen auf und wollten den Spuren ihres Vaters auf dem Kiesweg folgen, als der Elektro-Golfkarren mit hoher Geschwindigkeit aus Richtung Wald zurückkam und wild schlingernd den Hügel herunterraste. Auf dem abschüssigen und welligen Teil des Fairways drohte er umzukippen. Wir erkannten Jessica Liedtke. Sie saß allein am Lenkrad. Sie hatte uns auch gesehen. Sie winkte heftig, bremste auf der anderen Seite des Sees an einem langen Holzsteg, der das Wasser überquert, und rief etwas zu uns herüber.

Irgendetwas war offenbar nicht in Ordnung. Wir liefen ihr entgegen.

»Was ist denn los, Jessica? Ist etwas passiert?«, fragte Irma.

»Wir sind überfallen worden!«

Der fünfte Schatten

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