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ОглавлениеHerrensee, Montag, 26. Juli 1993
Es war so ein Morgen, an dem selbst hartgesottene Atheisten gläubig werden könnten. Jedenfalls, wenn sie Golfspieler sind.
In aller Herrgottsfrühe war ich am ersten Abschlag gestartet, ohne in den nächsten beiden Stunden auch nur einer einzigen Menschenseele zu begegnen. Die paradiesische Ruhe. Das prächtige Sommerwetter. Die norddeutsche Landschaft mit den Laubwäldern und Rapsfeldern im Hintergrund! Das an diesem Tag noch jungfräulich unberührte Gras der Fairways, die sich über Hügel hinzogen, die Bäche überquerten und an Seen entlangliefen, auf denen Schwanenpaare ihrem Nachwuchs vorausschwammen. Es war wirklich zum Niederknien! Und dazu wehte auch noch ein kleiner Wind das Glockengeläut der Dorfkirche herüber.
Sogar mein Spiel schien an diesem Morgen von ganz oben gelenkt zu werden. Anders als sonst umfassten meine Hände die Griffe der Schläger nicht zu fest. Ausholbewegung und Durchschwung waren rund und locker. Die Eisenköpfe fegten präzise über die Grasnarbe. Und die Bälle flogen mit einer selbstverständlichen Leichtigkeit weit und gerade, hoch und kurz, flach und gefühlvoll – genau so, wie ich es gewollt hatte. Selbst Bunkerschläge waren kein Problem. Und natürlich machen an so einem begnadeten Golftag auch die Putts keinen Ärger. Im Gegenteil. Nach fein dosierten Schlägen liefen die kleinen weißen Bälle mit einem zufriedenen »Plopp« in die Löchern, als hätten sie Heimweh gehabt.
Leider war nur die Sonne mein Zeuge. Sie strahlte von einem blauen Himmel, an dem nur vereinzelte Schäfchenwolken weideten. Obwohl mein bester Schlag – jeder Golfer hat auf jeder Runde wenigstens einen Schlag, von dem er noch tagelang erzählt – doch nicht unbemerkt blieb. Es war eine besonders schwierige Annäherung aus dem Semirough. Ich nahm das Lobwedge und machte einen lockeren Probeschwung. Den Ball legte ich zwischen die etwas geöffnet stehenden Füße, ein wenig rechts von der Mitte. Während ich konzentriert ausholte, fixierten meine Augen den Ball. Der flog, von dem 60-Grad-Schläger ein wenig unterschnitten, beinahe senkrecht in die Höhe, überquerte eine etwa zehn Meter hohe Baumgruppe und verharrte einen längeren Moment auf dem höchsten Punkt, bevor er wieder von der Anziehungskraft der Erde erfasst wurde. Dann landete er mitten auf dem Grün. Kaum einen Meter von der Fahne entfernt.
Als ich den Ball aus dem Loch holte und die Fahne zurücksteckte, hörte ich eine Stimme: »Glückwunsch! Superschlag!«
Leider war es Jansen: der Vermögensberater und Schwarzgeldinvestor Dr. Laurenz Jansen. Er hatte auf einem gegenüberliegenden Abschlaghügel gestanden.
»Wollen wir die Runde zusammen weiterspielen?«, fragte er.
Ich lehnte dankend ab, sagte, ich sei in Eile und hätte gleich eine Verabredung im Clubhaus.
Jansen sah beleidigt aus. So wird er mir in Erinnerung bleiben, denn es war meine letzte Begegnung mit ihm, bis zu dem dramatischen Ereignis, dem er drei Wochen später nur wenige hundert Meter entfernt zum Opfer fallen sollte.
Zufrieden beendete ich an diesem Montagmorgen mein Spiel. Das Ergebnis konnte sich für einen Bogey-Spieler wahrhaftig sehen lassen: Auf der Scorekarte zählte ich 83 Schläge. Fünf Schläge besser als mein aktuelles Handicap!
So eine ideale Runde und so ein perfekter Vormittag waren allerdings nur ein mehr als gerechter Ausgleich für all jene Qualen, Demütigungen und Verzweiflungsattacken, die einem dieses Spiel zufügen kann. Denn allzu oft nur verschwinden Abschläge spurlos in der Wildnis. Annäherungsbälle hoppeln wie desorientierte Feldhasen in der Gegend herum. Und Putts rollen mit peinlicher Regelmäßigkeit an den Löchern vorbei. An solchen Tagen ist Selbstmord eine denkbare Alternative. Golfspieler wissen, wovon ich rede.
Aber an diesem Montagmorgen war ich so lebensfroh wie lange nicht, als ich auf dem Parkplatz meinen Trolley zusammenlegte und die Schlägertasche im Kofferraum verstaute.
Da geschah ein weiteres Wunder. Ein kerniges Röhren näherte sich aus der von Linden gesäumten Zufahrtstraße. Vögel flatterten auf. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie ein paar Meter weiter ein Maserati Spyder hielt. Knallrot mit Speichenrädern. Mit einem letzten kernigen Blubbern verstummte der Achtzylindermotor. Die Fahrerin nahm schwungvoll ihr Kopftuch ab, schüttelte eine dunkelblonde Mähne mit hellen Strähnen und schob eine übergroße Sonnenbrille ins Haar. Und dann sprach eine lange nicht gehörte, leicht angeraute Stimme:
»Das ist ja eine Überraschung! Was machst du denn zu dieser Zeit schon hier, Bogey?«
Es war Irma ...!
Neben ihr kletterte ihre kleine Tochter vom Beifahrersitz. Ein süßes Mädchen mit einer großen Schleife im Blondhaar.
Während Irma das Faltverdeck schloss, kam die Kleine angelaufen.
»Wer bist du denn?«, rief sie.
»Ich bin Jonas«, sagte ich. »Du kannst auch Bogey zu mir sagen.«
»Bogey ist lustiger.«
»Und wer bist du?«
»Ich bin Lena. Ich bin jetzt schon sooo alt!« Sie streckte fünf Finger in die Luft.
Ich gratulierte ihr, schüttelte lange ihre Hand und warf sie schließlich hoch in die Luft, wie ich das früher mit meiner Tochter auch gemacht hatte.
Lena quietschte vor Freude, als ich sie wieder auffing.
»Noch einmal! Noch einmal!«
»Na, ihr scheint euch ja gut zu amüsieren«.
Irma kam näher. Wir sahen uns an. Ein wenig skeptisch, wie ehemalige Paare, die sich lange nicht gesehen haben, aber dann doch mit gegenseitigem Wohlgefallen.
»Gut siehst du aus«, sagte sie nach längerer Musterung. »Die grauen Schläfen stehen dir. Seit wann trägst du denn Dreitagebart?«
Unwillkürlich hatte ich den Bauch eingezogen. Etwas verklemmt erwiderte ich, sie sei schöner denn je. Wir umarmten uns zögerlich. Dabei konnte ich spüren, dass ihre Figur unter dem leichten Sommerkleid noch so fest und wohlgeformt war wie zu unserer besten Zeit.
Interessantes Paar, dachte der Amerikaner auf dem alten Hochsitz, an dessen Leiter ein Schild »Besteigen verboten! Einsturzgefahr!« hing. Die morschen Bretter und Hölzer knirschten, wenn er sich bewegte. Das war nicht gut. Dann verlor er sofort sein Ziel aus den Augen, denn der zehnbis sechzigfach vergrößernde Ausschnitt seines Spektivs vom Typ Swarovski verwackelte bei der kleinsten Unruhe heftig. Obwohl er das einäugige Zoom-Fernrohr auf ein Stativ geschraubt hatte, musste er still wie eine Statue stehen und die Luft anhalten. Valerie hatte ihm das teure Gerät in einem Jagdwaffengeschäft besorgt.
Für seinen Ausflug aufs Land hatte sich der Mann auf dem Hochsitz wie ein Naturfreund ausgestattet, mit Wanderschuhen, einer Hose mit Beintaschen und einem kurzärmligem Karohemd. An seinem Gürtel steckte ein Jagdmesser. Ein Körbchen war zur Hälfte mit Waldpilzen gefüllt, die er im Lebensmittelladen des Nachbardorfes von Herrensee gekauft hatte. Vor seinem Ausflug aufs Land hatte er sich ein Taschenbuch mit dem Titel »Unsere heimische Vogelwelt« besorgen lassen. Falls ihn jemand überraschen sollte, könnte er als Pilzsammler und Hobby-Ornithologe durchgehen. Für die Vogelbeobachtung würde auch das Fernrohr sprechen. Ein Profi achtete auf solche Kleinigkeiten.
Andere Naturliebhaber würden sich allerdings wundern, dass er am sommerlich trockenen Waldrand eine exklusive Zigarre der Marke »Cohiba Espléndidos« rauchte, die schon im Kubanervierteln von Miami 40 Dollar gekostet hatte. Noch mehr Erstaunen würde der Inhalt seines Korbes hervorrufen. Unter den Pilzen lagen in Zeitungspapier gewickelt: ein Elektro-Schockgerät, professionelle Plastik-Handfesseln und eine halbautomatische Pistole mit Laseraufsatz und Schalldämpfer. In seinem Rucksack trug er auch noch einen Klappspaten.
Er stellte das einäugige Spezial-Fernrohr scharf, aber beobachtete die Gegend auch immer wieder mit bloßen Augen. Durch einen Ausschnitt im Blattwerk der Bäume hatte er eine perfekte Aussicht. Auf der rechten Seite erhob sich der Gebäudekomplex von Schloss Herrensee. Die große Terrasse lag wie eine Bühne davor. Und in fünfhundert Metern Entfernung, vor dem Waldrand, war auf einer kleinen Erhebung, an der Grenze zum Golfplatz, ein alter Walnussbaum mit gewaltiger Krone zu erkennen.
Von seinem Standpunkt aus konnte der Amerikaner auch den Parkplatz ungehindert überblicken.
Ein Mann hatte sein Golfgepäck in einen Kofferraum geladen. Eine Frau und ein Kind waren aus einem roten Cabriolet geklettert. Ein Traumwagen. Er drehte an der Scharfeinstellung seines Zielfernrohres, das von einem Präzisionsgewehr abmontiert worden war. Er erkannte das Emblem auf der Motorhaube. Eine Art Dreizack. Ein echter Maserati! Auf zweihundert Meter Entfernung konnte der Beobachter durch sein Spektiv auch erkennen, dass die Frau eine einreihige Perlenkette angelegt hatte und dass der stoppelbärtige Mann, den sie gerade so vertraut begrüßte, eine modische Uhr trug. Vermutlich ein eher billiges Teil.
Der Amerikaner erkannte die Tochter des deutschen Medienmoguls erst auf den zweiten Blick. Ihre Haare waren anders als neulich im Flugzeug und auf den Farbfotos, die er in seinem Dossier gefunden hatte: lockiger und hellblonder. Aber kein Zweifel, sie war es: Irma von Mellin. Das etwas strenge, aber harmonische Gesicht, die weiche Mundpartie und die bernsteinfarbenen großen Augen hinter der randlosen Designerbrille, die sie jetzt aufgesetzt hatte – wirklich eine ansehnliche junge Frau mit langen Beinen, die sie recht freizügig in einem eleganten, kurzen Sommerkleid zur Besichtigung freigab.
Den Mann, der gerade seine Golfsachen in den Kofferraum gelegt und der das kleine Mädchen in die Luft geworfen hatte, konnte er nicht identifizieren. Dieser Typ kam in Valeries Dossier nicht vor, da war er sicher.
Das kleine, blonde Mädchen mit der großen Schleife im Haar, das ungeduldig neben den beiden stand und mit nach hinten geneigtem Kopf etwas sagte, das war zweifellos die Kleine, die heute Geburtstag hatte. Lena, die Enkeltochter des Großverlegers Malte von Mellin.
Der Beobachter betrachtete wieder die sanfte, hügelige Landschaft und das Schloss. Ein wenig im Hintergrund war auf dem Rasen ein weißes Partyzelt aufgebaut worden; Gartentische, Bänke und Stühle standen davor. Alles wurde mit Girlanden und Luftballons geschmückt. Ein buntes Häuschen wurde noch aufgebaut. Offenbar ein Kasperletheater. Die Vorbereitungen für den Kindergeburtstag waren beinahe beendet. Die Gäste sollten ja gegen 14 Uhr kommen.
Bis dahin blieb noch etwas Zeit. Er konnte sich noch ein wenig entspannen. Schon am frühen Morgen war er unterwegs gewesen.
»Fliegen Sie nach Hamburg, und fahren Sie in dieses Dorf Herrensee. Lassen Sie da keinen Stein auf dem anderen«, hatte ihm der zuständige Operationschef von Blackbird Global Security vor seiner Abreise gesagt. »Und fangen Sie genau hier an!« Dabei hatte er einen seiner manikürten Fingernägel auf eine rissige alte Karte gedrückt. Auf die Stelle, an der ein Kreuz eingetragen war. »Walnut tree« – Walnussbaum. Und »Dead Bodys?« – »Leichen?« stand am Rand. Mit Fragezeichen. Es war eine topographische Karte in großem Maßstab aus den vierziger Jahren. Sie stamme, so hatte der Einsatzleiter erklärt, zur Fall-Akte einer Ermittlungsgruppe der AirForce, die sich in der ersten Zeit nach Kriegsende um verschollene amerikanische Flugzeug-Besatzungen in Deutschland gekümmert hatte. Vermutlich aber nicht sehr gründlich. Denn damals sei man diesem Hinweis aus der deutschen Bevölkerung auf verscharrte Leichen von amerikanischen Fliegern entweder nicht nachgegangen oder man habe dort gesucht und nichts entdeckt. In der alten Akte gebe es jedenfalls keine weiteren Erklärungen dazu.
Der Walnussbaum stand ziemlich genau da, wo er auf der alten Karte eingezeichnet war: auf einem von hohen Gräsern und niedrigen Büschen bewachsenen Gelände zwischen dem Golfplatz und dem Waldrand. Gut fünfhundert Meter weit von der Kiesgrube mit dem Bomberwrack entfernt. Er hatte dort völlig ungestört graben können. Tatsächlich: In nur einem halben Meter Tiefe war er auf das gestoßen, was seine Auftraggeber dort auch vermutet hatten.
Ein erstes Knochenstück hatte er schon sichergestellt. Im Schutze der Dämmerung würde er weiterarbeiten. Er war wirklich kein gefühlsseliger Mann, aber dennoch berührte ihn die Vorstellung, was er dort noch finden würde.
Als er um die Mittagszeit auf einer kleinen Lichtung saß, etwas aß und trank, grüßten ihn einige Spaziergänger freundlich. Der Amerikaner streckte sich aus und döste vor sich hin. Er dachte an seine Zukunftspläne. Wieder einmal. Er würde noch zwei, drei solche hoch dotierten Aufträge übernehmen und dann aussteigen. Finanziell hätte er dann ausgesorgt. Ein Apartment auf Key Biscayne bei Miami Beach war schon angezahlt. Er würde sein Leben genießen. Ein für die Hochseefischerei in der Karibik geeignetes Boot kaufen und auch Golf spielen wie die Leute da unten im Tal.
Über diese Gedanken war er eingeschlafen. Fast eine Stunde lang hatte er so gelegen, wie er nach einem Blick auf seine Uhr feststellte. Eilig kehrte er zum Hochsitz zurück.
Die Party zum Geburtstag der kleinen Lena von Mellin hatte bereits begonnen. Der Amerikaner ließ den runden Ausschnitt seines Zielfernrohrs über die Geburtstagsgäste wandern. Nur wenige Männer waren an diesem ersten Arbeitstag der Woche dabei. Ein paar jüngere Väter und wenige Großväter. Sie sahen aus wie Menschen, die sich ihrer Bedeutung bewusst waren. In ihre Gesichtszüge hatte sich die Arroganz der Mächtigen eingegraben. Den Gastgeber konnte er noch nicht ausfindig machen. Aber er hatte Zeit. Er konnte auf Malte von Mellin warten.
Der Mann mit dem Zielfernrohr blickte immer wieder zu dem weißen Zelt auf dem Rasen, zu dem Kasperletheater und zu den Gästen, die es sich inzwischen auch auf Picknick-Decken bequem gemacht hatten. Dann entdeckte er ein Gruppe von Kindern, die plötzlich in seine Richtung gelaufen kam. Zehn waren es vielleicht. Ein paar Jungen und fein herausgeputzte Mädchen mit Kleidchen, Schleifchen und Schühchen. Vielleicht wollten sie Verstecken spielen. Die Mädchen hüpften fröhlich über die Wege am Waldrand. Sie kamen immer näher. Vor ihnen sprang bellend ein kleiner Hund hin und her, ein gefleckter Jack-Russel-Terrier. Der Hund apportierte unermüdlich ein Holzstöckchen, das ihm ein Mädchen immer wieder aus der Schnauze nahm und dann wieder wegwarf. Es war die kleine Blonde mit der weißen Schleife im Haar, die vorhin zwischen ihrer Mutter und dem stoppelbärtigen Mann gestanden hatte: Irma Mellins Tochter – das Enkelkind von Malte von Mellin!
Plötzlich hatte der Amerikaner eine Idee. Er nahm den Korb mit den Waldpilzen, kletterte vorsichtig die brüchige Leiter des Hochsitzes herunter und ging den Kindern und ihrem Hund entgegen.