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New York, Donnerstag, 15. Juli 1993

»Sind Sie bereit? Können wir weitermachen?«

Wie am Tag zuvor lag der glatzköpfige Mann aus Washington angeschnallt und verkabelt im Behandlungsraum des »Manhattan Brain Clinic and Research Institute«. Der Kriegsfilm wurde wieder gezeigt. Die Medikamente wirkten. Wie am Tag zuvor sprach der Psychotherapeut auf den in Trance gefallenen Patienten ein.

»Sie haben uns gestern berichtet, welche Eindrücke und Gefühle Sie beim Feindflug über Hamburg hatten, der Stadt Ihrer Kindheit und Jugend. Ihr Copilot, Mister Patrick Henderson, schien sich Sorgen um Ihren Zustand zu machen. Wir spielen Ihnen diese Stelle noch einmal vor.«

Der Therapeut schaltete den Rekorder und die Lautsprecher am Kopfende des Raumes ein. Eine Stimme ertönte:

»Alles in Ordnung, Captain? – Alles okay, Paul ...?«

Der Mann auf dem Behandlungsbett verzog sein Gesicht. Er schien mit sich zu kämpfen, bevor er mit seiner Geschichte fortfuhr. Schließlich sprach er wieder mit einer gedehnten, fremd klingenden Stimme wie am Tag zuvor:

»Ich habe Henderson zur Antwort gegeben: Es ist alles in Ordnung mit mir!«

Captain Paul F. Mandell nickt seinem Copiloten im Cockpit des B-17-Bombers zu und macht mit der rechten Hand das Victory-Zeichen. Dann konzentrieren sich die beiden Flieger wieder auf die Instrumente.

Außer Mandell und Henderson sind noch acht Mann Besatzung an Bord der fliegenden Kampfmaschine: ein Navigator, ein Funker, zwei Techniker, zwei Bombenspezialisten und zwei MG-Schützen. Männer von Mitte zwanzig, Junggesellen oder junge Familienväter, Draufgänger oder besonnene Handwerker des Krieges. Einige sind mit Lust bei der Sache, die meisten versuchen ihre Angst zu verbergen. An ihren Oberkörpern baumeln ovale Metallmarken mit ihren Namen, ihren Heimatorten, ihrer Einheit und ihrer Blutgruppe. »Dogtags« nennen die Amerikaner diese Marken. Falls den Männern etwas zustoßen sollte, sind sie damit leichter zu identifizieren.

Im Schutz der beginnenden Dämmerung fliegt Mandells Geschwader in südöstlicher Richtung den Elbstrom entlang. Die Sicht ist noch gut.

»Da unten rechts die dunklen Zacken, das sind die Hafenbecken mit den Ölraffinerien, da müssen wir hin«, ruft Bryan Simmons, der Navigator, in den Bordfunk. Sein Vater hat ihn nach dem berühmten amerikanischen Golfspieler Bryan Nelson genannt. Simmons junior will nach dem Krieg tatsächlich Golfprofi werden. Er war schon zweimal Meister in seinem College und hat ein größeres Turnier in New Jersey gewonnen.

Hinter dem Navigator arbeitet Greg Podolski, der Bombenschütze aus Brooklyn. »Wetten, dass ich mit dem neuen Norden-Zielgerät aus fünftausend Meter Höhe ein Whiskeyfass treffen kann?«, hat er vor dem Einsatz behauptet – da sollten doch Öltanks in der Größe von Mehrfamilienhäusern kein Problem sein. Und tatsächlich: Nachdem er im entscheidenden Moment seine Bomben präzise ausgeklinkt hat, explodieren im Sekundentakt vier riesige Tanks der Ölraffinerie im Hamburger Hafen. Die anderen hören Gregs Jubelschreie in ihren Kopfhörern. Mit den restlichen Bomben nehmen sie sich noch einmal die Werftanlagen von Blohm & Voss vor und danach einen Güterzug im Süden der Stadt.

Eine halbe Stunde dauert der Angriff. Danach fliegt das ganze Geschwader noch eine Ehrenrunde über Hamburg, um seine totale Luftüberlegenheit zu demonstrieren. Wie verirrte Silvesterkracher verpuffen unter ihnen die letzten Granaten der fast vollständig ausgeschalteten Hamburger Flakabwehr.

Bevor die Männer zum vereinbarten Sammelpunkt mit den anderen Maschinen abdrehen, gehen die Gedanken des jungen Bomberpiloten zurück.

Da unten hat er seine Kindheit und seine Jugend verbracht: Paul F. Mandell, einziger Sohn eines so geachteten wie gefürchteten Wirtschaftsjuristen. Zur Welt gekommen in der Universitätsklinik Eppendorf, im jüdischen Viertel am Grindel aufgewachsen. Schüler des traditionsreichen Johanneum-Gymnasiums in Winterhude. Er muss an Iris denken, an seine anschmiegsame Tanzstundenfreundin, die sich in einer Herbstnacht am Ufer der Alster von ihm hat küssen lassen, und an die Freunde aus dem Ruderclub, mit denen er verbotene Swingplatten von Benny Goodmann und Glenn Miller gehört hat. Captain Mandell denkt auch an die Nachbarn aus der Hallerstraße, die ihn vor den Nazis versteckt haben, bis ihn Fluchthelfer über Dänemark und England nach Amerika schleusen konnten. Was wohl aus dem alten Ehepaar geworden ist? Ob sie den Krieg überleben werden?

Wie ein Schwarm von Zugvögeln sammeln sich die amerikanischen Bomber über der Lüneburger Heide zum gemeinsamen Rückflug nach England. Die Maschine der Mandell-Crew nimmt eine Position ganz am Ende des Konvois ein.

An Bord macht sich Entspannung und Erschöpfung breit. Die meisten Besatzungsmitglieder dösen an ihren engen, blechernen Arbeitsplätzen vor sich hin wie Bauarbeiter, die auf einem Lastwagen ihrem Feierabend entgegenrumpeln. In ein paar Stunden werden sie wieder in Snetterton Heath landen, ihrer Base in Suffolk, dann werden sie essen und trinken und duschen und schlafen und hoffen, dass dieser verdammte Krieg bald zu Ende sein wird und sie nach Hause zurückkehren können.

»Glaubt ihr Juden eigentlich an ein Leben nach dem Tod?«, fragt Copilot Henderson, ein gläubiger Methodist, dessen Vater vor ein paar Wochen gestorben ist.

»Für die Gerechten soll es ein ewiges Leben geben«, sagt Mandell zögernd. »Ich bin nicht sehr religiös, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass nach dem körperlichen Sterben auch mein Geist für immer und ewig erloschen sein soll.«

Der Bomberschwarm fliegt nach Norden, parallel zum immer breiter werdenden Elbstrom, der sich behäbig durch das norddeutsche Bauernland windet. Am Horizont ist schon die Küste auszumachen. Das Wattenmeer glänzt im Widerschein der tief stehenden Sonne wie ein polierter Silberteller.

Um 19:46 Uhr tauchen die Jäger am Abendhimmel auf.

Hank, der MG-Schütze, sieht sie in seiner gläsernen Aussichtskanzel oberhalb des Cockpits als Erster. Er schreit gegen den Fluglärm an, als er die Position der feindlichen Flugzeuge durchgibt:

»Banditen auf fünf Uhr!«

Es sind drei. Drei winzige Punkte, die zunächst aussehen wie Fliegendreck auf der Verglasung des Cockpits. Doch schnell werden sie größer und größer.

»Drei ME 109«, meldet Hank.

Wie Pfeile schießen die Messerschmitt-Jagdmaschinen aus dem Hintergrund der dunkleren Erde.

»Verdammt, die greifen uns direkt an!«, ruft Copilot Henderson. Mandell versucht ruhig zu bleiben.

»Kann sein, dass wir bald wissen, ob es ein Leben nach dem Tod gibt«, sagt er.

»Jesus Christ! Das sind Selbstmörder! Deutsche Kamikazeflieger!« Hendersons Stimme überschlägt sich.

Die ersten beiden Jäger rasen haarscharf durch Lücken des amerikanischen Bombergeschwaders hindurch. Ihre Bordkanonen sind dabei auf Dauerfeuer gestellt.

Die dritte Maschine schafft es nicht. Oder der Pilot rammt absichtlich einen der US-Bomber. Jedenfalls schlägt diese Messerschmitt wie eine Rakete seitlich in einen US-Bomber keine drei-, vierhundert Meter vor der Mandell-Maschine ein. Beide Flugzeuge explodieren gleichzeitig. Eine Salve von Wrackteilen schießt durch die Luft.

Mandell versucht der Katastrophe auszuweichen. Aber sein schwerfälliger Bomber kommt nicht aus der Gefahrenzone. Ein großes Trümmerteil rasiert die Turmkanzel ab und köpft Hank, den MG-Schützen. Ein anderes Stück reißt ein großes Loch in den Rumpf. Einer der Bordtechniker wird mitsamt seinem Stuhl wie von einem gewaltigen Staubsauger nach draußen gesogen. Der Bomber dreht sich wie ein schwerfälliger Brummkreisel und taumelt haltlos der Erde entgegen.

Menschliche Körper, Munitionskisten, Waffen, Sauerstoffflaschen schleudern durch den Innenraum, knallen gegen Metallwände, krachen gegen Decken und Böden. Und erschlagen den Funker. Zwei MG-Schützen sind wohl schon tot, als sie durch das Loch in der Außenwand nach draußen gerissen werden. Der Bombenschütze Wriggs klammert sich schreiend am aufgerissenen Bombenschacht fest. Es gelingt zwei Männern, ihn wieder hochzuziehen. Plötzlich geschieht ein Wunder. Die Maschine fängt sich. Der Absturz geht in einen wild schaukelnden Gleitflug über. Sie schalten das stotternde und qualmende vierte Triebwerk ab. Dann fallen auch die anderen Motoren aus. Durch ein Leck im Tank ist offenbar der Treibstoff ausgelaufen.

»Jetzt können wir jedenfalls nicht mehr explodieren«, schreit Henderson, der ewige Optimist. Den beiden Piloten gelingt es, die angeschlagenen Propeller in Segelstellung auszurichten.

Die Überlebenden drängen sich im Cockpit wie schutzsuchend aneinander. Pilot Mandell, Copilot Henderson und Navigator Simmons sind unverletzt. Der Maschinengewehrschütze Cunnings blutet aus einer Platzwunde am Kopf. Henderson klettert zum Arbeitsplatz des Funkers. Er sendet das Notrufsignal für 909 TB 35. Und gibt dreimal hintereinander die Namen der fünf noch lebenden Besatzungsmitglieder an das davonfliegende Geschwader durch:

»John Wriggs ...! – Bryan Simmons ...! – Albert Cunnings ...! – Paul Mandell ...! – Patrick Henderson ...!«

Eine Antwort ist nicht zu hören. Es rauscht und kracht und donnert im Äther wie bei einem Gewittersturm.

Im Cockpit sind die Instrumente ausgefallen. Nur einer der Höhenmesser scheint noch zu funktionieren. Wie ein Lastensegler schaukelt der schwere Bomber durch eine dünne Wolkenfläche der Erde entgegen, die noch von der gerade am Horizont untergegangenen Sonne in orangefarbenes Licht getaucht wird.

Mandell und Henderson haben keine Ahnung, wo sie sind und in welche Himmelsrichtung sie jetzt fliegen. Über ihnen taucht eine Maschine mit dem amerikanischen Hoheitszeichen auf und begleitet sie minutenlang.

»Hoffentlich haben sie unseren Notruf noch empfangen«, ruft Henderson.

Als der Höhenmesser nur noch 500 Meter anzeigt, dreht der andere Bomber ab.

Unter ihnen werfen im Mondschein Hochspannungsmasten und frei stehende, große Bäume diffuse Schatten. Felder und Weiden und Äcker und Baumplantagen tauchen auf. Unter ihnen ist ein kleiner Fluss oder ein Kanal zu sehen, auf dem Lastkähne ankern. Hinter den Deichen ducken sich strohgedeckte Bauernhäuser und klobige Fachwerkkirchen. Das flache Land vor ihnen ist von Entwässerungsgräben durchzogen. Angestrengt halten die Männer im fliegenden Flugzeugwrack Ausschau nach einem Platz für eine Notlandung. Endlich erreichen sie ein etwas ansteigendes, freies Gelände, das von weitläufigen, offenen Grasflächen bewachsen zu sein scheint.

Links und rechts davon erfasst der intakte Suchscheinwerfer der Maschine noch Teiche, Seen und kreisförmige sandgelbe Stellen.

»Ein Golfplatz!«, ruft Simmons, der golfspielende Navigator. »Das kann doch nicht wahr sein. Da vor uns, das scheint tatsächlich ein Golfplatz zu sein. Die gelben Sandlöcher sehen aus wie Bunker, und die breiten Grasbahnen sind vermutlich Fairways!«

»Ich glaube, du hast Recht«, sagt Henderson. »Das ist tatsächlich ein Golfplatz. Und ich dachte immer, die Deutschen spielen nur Fußball ...«

»Wir könnten versuchen, auf einer der langen Grasbahnen zu landen.«

»Ja, genau, auf einem Par 5!« Simmons, der Golfexperte, lacht jetzt sogar.

Mandell versucht, die klemmenden Landeklappen an beiden Flügeln einigermaßen gleichmäßig auszufahren.

»Macht euch fertig! Wir versuchen es!«

Die anderen nehmen die Positionen für eine Notlandung ein. Sie bergen ihre Köpfe schützend in den Armen.

Mandell blickt auf seine Fliegeruhr, die zwei Zeitzonen anzeigt. Es ist 20:19 Uhr abends in Deutschland – 14:19 Uhr mittags in New York.

»Bei null setzen wir auf«, ruft er und versucht noch eine letzte Positionsmeldung abzusetzen, dann beginnt er rückwärts zu zählen.

»Zehn, neun, acht, sieben ...«

Mandell starrt nach vorne. In ein paar hundert Metern Entfernung taucht rechts neben der breiten Golfbahn auf einer leichten Anhöhe der Umriss eines großen, altertümlichen Gebäudes auf. Ein Schloss oder Gutshaus mit Giebeln und Türmchen auf einem mächtigen roten Ziegeldach. Das nicht mehr zu kontrollierende Flugzeug schleudert mit einer Landegeschwindigkeit von mehr als hundert Stundenkilometern genau in diese Richtung. Verzweifelt versucht der junge Bomberpilot eine Bruchlandung in das Gebäude zu verhindern, doch die Steuerung reagiert nicht mehr. Mit aufgerissenen Augen sieht Mandell das Gebäude auf sich zurasen. Er erkennt ein großes Säulenportal und eine kreisrunde Auffahrt. Ein paar Hakenkreuzfahnen an hohen Masten flattern in einem starken Seitenwind. Nazifahnen! Kurz über dem Boden wird die schleudernde Maschine von einer starken Bö erfasst und von dem schlossartigen Gebäude weggedrückt. Die Fahnenmasten knicken wie angerissene Streichhölzer ab. Dann schlägt der Bomber mit der linken Tragfläche zuerst neben der Grasbahn auf. Der Flugzeugkörper pflügt eine mehrere hundert Meter lange Furche in den weichen Boden, dreht sich um die eigene Achse, rasiert mit dem rechten Flügel zwei Tannen ab und kracht gegen einen mannshohen Findlingsstein, bevor er in der Mitte auseinanderbricht. Die Wrackteile rutschen in eine flache Kiesgrube.

Captain Paul F. Mandell schwebt durch eine weiche, wattige Wolkenlandschaft. Endlos lange. Er fühlt sich schwerelos und geborgen zugleich – doch dann formt sich ganz dicht vor seinen Augen eine der Wolken zu einem Kopf mit heimtückischen Augen, spitzen Ohren und einem Gehörn. Ein Teufelskopf, halb Mensch, halb Tier! Mandell schlägt nach dem Ungeheuer. Der Gehörnte weicht zurück, bricht in ein lautes Meckern aus – und verwandelt sich in einen alten Schafsbock, hinter dem ein Dutzend weitere Schafsgesichter erscheinen und ihn neugierig anstarren.

Mandell ist wieder bei Bewusstsein. Er weiß nicht, wie lange er ohnmächtig war und wie er aus dem Wrack herausgekommen ist. Er findet sich am Rand einer Kiesgrube wieder. Vor ihm und unter ihm liegen zwei große und viele kleine Trümmerstücke. Die »Pride of New York« ist nur noch ein qualmendes Flugzeugskelett. Ab und zu lodern Flammen auf und verlöschen bald wieder. Doch es gibt keine Explosion.

Mandell versucht aufzustehen, aber es gelingt ihm nicht. Seine Knie knicken ein. Ein stechender Schmerz lähmt seinen Rücken. Er will nach seinen Kameraden rufen, aber bringt nur gurgelnde Laute hervor. Ganz in seiner Nähe hört er ein Wimmern. Aus dem Trümmerfeld hebt sich eine Hand. Im Zwielicht glaubt er Henderson zu erkennen, an seinem fast kahl geschorenen Kopf. Wo sind die drei anderen?

Ein dünner Glockenschlag klingt vom Schloss oder Gutshaus herüber. Halb neun Uhr abends. Seit ihrer Bruchlandung sind nur ein paar Minuten vergangen. Eine dunkle Wolkendecke schiebt sich vom Horizont heran. Ein leichter Wind weht aus Westen. Mit knallenden Fehlzündungen wird in der Ferne ein Motor angelassen. Ein klappriges Fahrzeug kommt näher, rumpelt auf die Kiesgrube zu und hält mit einem letzten Knall. Dann hört Mandell Stimmen. Er sucht Deckung und kriecht auf allen vieren mühsam hinter einen größeren Stein. Knirschende Stiefelschritte kommen in seine Richtung. Ein fasst voller Mond und erste Sterne stehen am Himmel. Gegen den helleren Hintergrund zeichnen sich die Schatten mehrerer Männer ab. Es sind vier. Sie tragen Hemden und kurze Hosen. Die Uniform der Hitlerjugend, denkt Mandell. Er sieht, wie die jungen Männer gebückt an den Rand der Kiesgrube schleichen. Sie sprechen mit gedämpften Stimmen. Doch weil der Wind in seine Richtung weht, versteht Mandell fast jedes Wort.

»Seht euch das an: Dieser Schrotthaufen war mal ein Amibomber!«, sagt einer, der mit einer Taschenlampe die Wrackteile ableuchtet.

»Guckt mal, die Schrift hier: die stammen aus New York!«

»Im Radio haben sie durchgegeben, dass die Amis am Abend wieder Hamburg angegriffen haben.«

»Das sind Terrorflieger, feige Mörder!«

Die Schattenmänner halten Spaten in den Händen und dicke Knüppel. Einer holt weit aus wie mit einem Vorschlaghammer. Er scheint älter zu sein als die anderen. Jedenfalls ist er größer und dicker und trägt eine Art Helm. Er reicht eine Flasche herum. Sie legen ihre Köpfe in den Nacken und schütten Schnaps in sich hinein.

»Den hat unsere Flak runtergeholt. Vielleicht sind da noch Leute drin. Wenn noch welche leben, dann schlagen wir sie tot, die Schweine.«

Die Männer klettern, stolpern und rutschten in die Kiesgrube.

»Da liegt einer!«, schreit der Dicke.

Mandell schafft es mit großer Anstrengung, seinen Kopf zu heben.

Sie haben Henderson entdeckt, der sich auch aus dem Wrack gerettet hat!

Aus seinem Versteck kann Mandell sehen, wie sie den Copiloten auf den Rücken drehen und wie der abwehrend seine Arme hebt.

»Der zuckt noch! Kommt mal alle her! Das Schwein lebt!« Die Stimme des dicken Anführers überschlägt sich vor Aufregung.

Der grelle Schein einer Taschenlampe flammt auf. Die anderen laufen auch dahin.

»Macht ihn fertig!«, ruft der Dicke. Die anderen treten und schlagen mit Spaten und Knüppeln auf Henderson ein. Das hässliche Geräusch von klatschenden, krachenden Schlägen hallt aus der Kiesgrube. Mandell hört Hendersons Todesschreie. Endlich scheint es vorüber zu sein.

Die Totschläger keuchen. Suchend gehen sie hinter dem Schein der Taschenlampe her.

»Hier sind noch zwei. Die leben auch noch!«, ruft einer, der offenbar Simmons, den Navigator, und Cunnings, den MG-Schützen, gefunden hat. Wieder hört Mandell Schläge und Schreie, Hilferufe und absterbendes Röcheln.

Minutenlang.

Im Schein von flackernden Taschenlampen suchen die Deutschen noch einmal die Wrackteile und die Kiesgrube ab. Im Halbdunkel sieht Mandell nur die Schatten der Mörder. Er zählt noch einmal. Es sind immer noch vier.

Schließlich finden sie auch Wriggs, den Bombenschützen. Er liegt am weitesten entfernt vom demolierten Cockpit. Als sie ihn mit Füßen treten, hört Mandell das Wimmern seines Kameraden. Dann Todesschreie. Und dann folgt eine lähmende Stille.

»Das war’s wohl. Hier ist keiner mehr«, ruft schließlich jemand.

Keuchend kriechen die Schatten der Mörder den steilen Hang der Kiesgrube herauf. Ihre Stiefel und ihre Kleidung sind verschmiert. Mit Dreck und Blut. Am Rande der Kiesgrube drehen sie sich noch einmal um und bauen sich nebeneinander auf. Wie zu einer Parade. Sie recken Arme und Hände zum Tatort hin und grölen mit betrunkenen Zungen mehrmals hintereinander dieselbe Parole.

Nur die Worte »Blut«, »Ehre« und »Vaterland« kann Mandell verstehen.

Dann kommen sie in seine Richtung. Er duckt sich so tief, wie er kann, hinter dem Stein in das hohe Heidegras. Er stellt sich tot wie ein verfolgtes Tier. Doch dann wird sein Körper von dem hin und her pendelnden Schein einer Taschenlampe erfasst. Jemand schreit etwas. Er wird am Kragen seiner Pilotenjacke hochgerissen und wieder zu Boden gestoßen. Der erste Tritt trifft seine Rippen. Der zweite sein Geschlechtsteil. Dann prasseln Schläge und Tritte von allen Seiten auf ihn ein. Er schützt sein Gesicht mit Armen und Händen. Er spürt, wie ihm seine Pilotenuhr vom Handgelenk gerissen wird. Jemand zerrt seinen Arm hoch.

»Guckt euch das hier mal an! Der hat einen Judenstern am Hals ... Das ist ein Judenschwein!«

Verschwommen macht Mandell die Umrisse eines dicken Mannes vor dem helleren Himmel aus: ein fleischiges, rundes Gesicht, abstehende Ohren. Der Mann bleckt sein Gebiss wie ein Pferd, wenn er lacht. Und er lacht furchtbar, als er einen besonders dicken Knüppel ergreift.

Dann hört Mandell ein Motorengeräusch. Mit großer Geschwindigkeit nähert sich ein Fahrzeug. Der Auspuff knallt. Bremsen quietschen. Laufschritte kommen näher. Ein einzelner Mann taucht vor dem qualmenden Cockpit auf, aus dem nur noch ein paar kleine Brandherde leuchten. Der fünfte Schatten.

»Aufhören! Schmeiß sofort den Knüppel weg! Das ist ein Kriegsgefangener!«, ruft er im Befehlston.

»Von dir lassen wir uns nichts mehr sagen! Gar nichts!«

Der Dicke dreht seinen Kopf nach hinten. Und schreit:

»Wir machen keine Gefangenen! Das sind gottverfluchte Terrrorflieger!«

»Lass sofort den Knüppel fallen!«

Der fünfte Schatten macht noch ein paar Schritte auf den Dicken zu. Dann hebt er mit ausgestreckten Armen eine Pistole.

Der Dicke zögert einen Moment. Er steht breitbeinig da, einen Stiefel links, den anderen rechts neben Mandells Oberkörper gesetzt. Dann holt er wie in Zeitlupe zu einem gewaltigen Schlag aus. Das Letzte, was Captain Mandell wahrnimmt, ist das hässliche Geräusch, mit dem seine Schädeldecke zertrümmert wird.

Den Schuss kann er schon nicht mehr hören ...

In der New Yorker Privatklinik zerrte der dünne Mann an den Fesseln, mit denen er zu seiner Sicherheit an den Rahmen des Behandlungsbettes gefesselt worden war. Er warf seinen Kopf hin und her, als wolle er Schlägen ausweichen, und schrie gegen die schallisolierten Wände an.

Die Linien und Skalen auf den Monitoren zuckten jetzt wild. Der Neurologe gab warnende Handzeichen.

»Wir müssen abbrechen«, rief der Kardiologe.

Plötzlich erstarrte der Körper auf dem Bett. Die Atmung schien stillzustehen. Der Überwachungsmonitor für die Herzfunktion zeigte eine flacher werdende Linie an.

Der Psychotherapeut beugte sich dicht an das Ohr des Patienten.

»Mister Mandell! Hallo Mister Mandell ... Hören Sie mich?«

Der Mann auf dem Bett antwortete nicht.

Als man ihm die Augenmaske abnahm, starrten seine Pupillen lange Zeit ins Leere.

Doch endlich bewegten sich seine Lippen. Es war mehr ein Zittern. Und mit einer Stimme, die aus eine anderen Welt zu kommen schien, sagte er: »Sie haben mich umgebracht ...«

Der fünfte Schatten

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