Читать книгу Der fünfte Schatten - Jürgen Petschull - Страница 9
4
ОглавлениеHamburg, Donnerstag, 15. Juli 1993
»Herr Bogey, sind Sie noch am Apparat?«
Ich räusperte mich vernehmlich.
»Frau von Mellin bittet Sie recht herzlich, in der Leitung zu bleiben! Ihr Gespräch mit New York dauert leider doch länger ...!«
Der Zerberus im Vorzimmer der Verlags-Geschäftsführerin Irma von Mellin war jetzt von geradezu ausnehmender Höflichkeit.
Während im Hintergrund wieder die Musikberieselung lief, konnte ich mir schon einmal Gedanken über die Antwort auf ihre Frage machen, wie es mir denn in letzter Zeit so ergangen sei.
Offen gesagt, es hat schon einige Zeit gebraucht, um zu begreifen, dass ich durch den letzten Herzschlag eines Mannes zu Geld gekommen bin, den ich erst ein halbes Jahr vor seinem Tod näher kennengelernt habe. Weil seine Frau an Krebs gestorben war und er sich wohl recht einsam fühlte, lud mich Friedhelm Anders damals in sein Haus hinterm Deich an einem Nebenfluss der Elbe ein. Ich trennte mich gerade von meiner Ehefrau – oder sie sich von mir, selbst darüber streiten wir noch. Jedenfalls musste ich damals eine größere Reportage schreiben. Eine Woche lang war ich sein Gast und konnte im separaten Apartment seines Reetdachhauses ungestört vom Hamburger Trubel arbeiten.
Abends haben wir auf dem mit Kopfsteinen gepflasterten Vorplatz gegrillt, diskutiert und philosophiert, dabei Rotwein getrunken und uns unsere Lebensgeschichten erzählt. Eigentlich hat er mehr gefragt und mich erzählen lassen. Wie ich mit der Trennung von meiner Frau klar komme? Ob unsere Tochter sehr darunter leide? Auch mein Job hat ihn interessiert. Wie die meisten Reporter hatte ich einiges von den Abenteuern hinter den veröffentlichten Geschichten zu berichten. Von Interviews und Gesprächen mit Politikern und Künstlern, Unternehmern und Mafiabossen.
Mein Onkel Friedhelm war einer jener beneidenswerten Menschen, die andere mit ihrer Zuversicht anstecken können. Immer lächelnd, immer optimistisch. Da machte es nichts, dass wir zunächst kaum gemeinsame Interessen hatten. Er las den Wirtschaftsteil der Zeitungen und studierte die Immobilienanzeigen. Ich interessiere mich für Literatur und Politik. Er war ein engagierter Hobbykoch. Seine Künste konnte ich nur als Gast würdigen. Ich spielte Tennis und er Golf.
Golf? Komischer Sport, dachte ich damals – das ist was für Herren mit Haarausfall im Endstadium und für Damen mit zu viel Schmuck an den Handgelenken. Kleine weiße Bälle so lange durch die Gegend zu schlagen, bis sie endlich in einem Loch verschwinden – dabei werden doch kaum mehr Kalorien verbrannt als beim Pilzsammeln.
»Ich muss richtig schwitzen und nachher ausgepowert sein, sonst ist das doch kein richtiger Sport!«, habe ich immer gesagt.
Friedhelm Anders schüttelte über so viel Ignoranz nicht mal den Kopf. »Wenn du zum ersten Mal einen Golfball richtig triffst und der in einer großen Kurve hundert oder zweihundert Meter weit genau dahin fliegt, wo du ihn haben willst – dann wirst du süchtig!«
Das kann ich heute bestätigen. Natürlich habe ich erst mit einem Leihschläger gehackt wie ein Holzfäller und dann wie ein Hockeyspieler. Mit kurzer Ausholbewegung, angespannten Händen und voller Kraft habe ich den Schläger gegen die Bälle und in den Erdboden gerammt. Die Bälle machten zunächst meist merkwürdige Hüpfer wie aufgescheuchte Frösche. Sie zappelten und kullerten oft nur ein paar Meter weit. Endlich brachte Friedhelm mir eine richtige Griffhaltung und eine weiche, runde, ausholende Schwungbewegung bei. Und plötzlich, nach ungezählten Fehlversuchen, geschah das angekündigte Wunder: Als ich schon aufgeben wollte, ist mir tatsächlich mein erster richtiger Golfschlag gelungen. Mit dem Schlägerkopf eines Eisen 7 wischte ich beinahe beiläufig einen Ball von der Abschlagmatte. Leicht und schwerelos stieg er in den blauen Himmel, schien auf dem Höhepunkt einen Kondensstreifen hinter sich herzuziehen, landete im richtigen Winkel ein gutes Stück hinter der Hundert-Meter-Markierung des Übungsplatzes und rollte geradeaus weiter, noch dreißig, vierzig Meter, bevor er weithin sichtbar liegen blieb.
Onkel Friedhelm klatschte spontan. Und ich wusste im selben Moment, dass ich einer neuen Sucht verfallen war. Das Golfvirus hatte mich erwischt. Auf einen Schlag war ich diesem Sport verfallen, der für den Laien unscheinbar wirkt, der aber so dramatische Gefühlsregungen auslösen kann wie Glück und Verzweiflung, Freud und Leid, Euphorie und Depression.
Für die Einführung in die faszinierende Welt des Golfspiels bin ich meinem verstorbenen Onkel dankbar. Mehr noch vielleicht als für das Immobilienerbe, das natürlich auch nicht zu verachten ist.
Der Sekretär in Irmas Vorzimmer meldete sich wieder: »Sind Sie noch da, Herr Anders?«
Ich bestätigte das mürrisch.
»Das Gespräch von Frau von Mellin mit New York ist gleich beendet«, sagte er.
Ich hatte also noch mehr Zeit für meine Erinnerungen. Und mir fiel ein, dass ich Irma früher wenig von mir erzählt hatte. Zum Beispiel, dass ich eigentlich Schriftsteller werden wollte – das war als Schuljunge mein Traumberuf, so wie andere Lokführer oder Pilot werden wollten.
Schreiben wollte ich schon immer. Seit ich lesen kann. Mein Name sollte über Zeitungsartikeln und auf Buchumschlägen stehen. Mit 16 oder 17 habe ich einen Liebesroman geschrieben. Es ging um eine gewisse Gerlinde aus der Parallelklasse. Mein Beziehungsdrama hieß »Warum fütterst du frühmorgens die ohnehin schon vollgefressenen Enten?« Der Titel ist mir in Erinnerung geblieben. Der Rest ist zu Recht vergessen.
Zum Dichter hat es also nicht gereicht. Aber zum Journalisten. Ich habe beim Kreisblatt volontiert und als Redakteur bei einer Regionalzeitung gearbeitet, bevor ich Reporter des Magazins Zenit wurde. Zwanzig Jahre lang bin ich in der Welt und im Leben herumgekommen. Es war wohl meine beste Zeit. Aber irgendwann fühlte ich mich ausgebrannt. Die Themen wiederholten sich und meine Formulierungen auch. Dann gab es auch noch ständige Meinungsverschiedenheiten und Kräche mit dem neuen Chefredakteur. Da fügte es sich bestens, dass mir Friedhelm Anders durch regelmäßige Mieteinnahmen ein auskömmliches Leben als »Privatier« ermöglicht hat.
Aber wie sollte es weitergehen? Schließlich war ich erst Anfang vierzig! Vor dieser Frage flüchtete ich gewöhnlich auf den Golfplatz.
»Bogey? Bogey, bist du noch da?«
Ich musste schlucken, bevor ich etwas sagen konnte. Aber Irma war mal wieder schneller:
»Entschuldige, das hat doch etwas länger gedauert. Da war ein Kollege von dir dran, ziemlich hartnäckig. Ein Reporter von der New York Times. Der will die Geschichte des Flugzeugwracks recherchieren, das sie auf unserem Golfplatz gefunden haben. Scheint in Amerika ein großes Thema zu sein. Sie suchen jetzt die Namen der damaligen Besatzung in alten Dokumenten der U.S. Air Force und im Nationalarchiv in Washington. Angeblich waren neun oder zehn Mann an Bord.«
»Ein US-Bomber aus dem Zweiten Weltkrieg auf eurem Golfplatz – dahinter kann wirklich eine große Story stecken, besonders für die Amerikaner natürlich«, sagte ich, »ein Stück Zeitgeschichte und eine menschliche Tragödie vielleicht. Truman Capote oder Norman Mailer würden daraus einen großen Roman machen.«
»Du immer mit deiner blühenden Fantasie«, sagte Irma. Ihr Vater wolle von dieser ganzen Sache am liebsten gar nichts hören. Er lasse sich bei dem Thema immer verleugnen. »Er stellt die Journalisten zu mir durch und ich soll sie dann abwimmeln. Und ich habe dazu auch tatsächlich nichts zu sagen. Außer, dass wir rein gar nichts über die Hintergründe wissen. Jedenfalls ist der Golfclub Schloss Herrensee jetzt in aller Welt bekannt – aber wo waren wir eben stehen geblieben? Ach ja, ich wollte wissen, wie es dir geht, Bogey.«
»Ich hatte gerade Zeit, darüber nachzudenken. Die Frage ist nur: Wie lange hast du jetzt Zeit, mir zuzuhören?«
»Warum?«
»Falls dich meine Antwort wirklich interessiert, wird es ein bisschen länger dauern.«
»Okay, dann nehmen wir uns eben einfach die Zeit dafür. Nicht jetzt, aber ...«
Durch die Verkehrsgeräusche auf der anderen Seite des Isekanals hindurch hörte ich, wie sie ihren Sekretär nach ihren Terminen fragte. Dann meldete sie sich wieder.
»Also, bei mir sieht es so aus: Ich fliege morgen mit meinem Vater nach New York und Washington. Wenn alles wie geplant läuft, sind wir aber schon nach drei Tagen wieder in Hamburg. Wenn du willst, können wir uns danach treffen. Wie wär’s draußen im Schloss und auf dem Golfplatz? Ich würde mich jedenfalls freuen!«
Ich war sofort einverstanden, tat aber, als müsse ich noch meine Termine checken. Und konnte mir eine Frage nicht verkneifen:
»In welcher Eigenschaft bin ich eigentlich zur großen Geburtstagsfeier der Mellins eingeladen? Als dein Ex-Lover? – Kommen die anderen auch alle?«
Sie lachte dieses mädchenhaft kokette Lachen, das sie bei Bedarf einschalten konnte und an das ich mich gern erinnerte.
»Nein, du stehst als Freund der Familie und des Verlagshauses auf der Liste, obwohl dich dein Chefredakteur ja gefeuert hat, wie ich gehört habe.«
»Als Freund der Familie?«, sagte ich verwundert, »kann sich dein Vater überhaupt an mich erinnern?«
»Er hat ein Gedächtnis wie ein Elefant, das weißt du doch. Die Gästeliste hat er persönlich abgesegnet und vorher ein Dutzend Namen gestrichen. Deiner ist draufgeblieben.«
»Wirklich erstaunlich. Wie viele Leute erwartet ihr zu dieser kleinen Familienfeier?«
»Nach letztem Stand sind es mit dir 200. Du kommst doch, oder?«
»Wenn du dich wirklich freust?«
»Und wie.«
»Ich mich auch.«
»Also, dann rufe ich dich an, wenn ich zurück bin. Unter der alten Nummer?«
»Ja«, sagte ich, die habe ich behalten. Ich baue mir gerade eine Dachgeschosswohnung aus. Hörst du den Krach im Hintergrund? Ich stehe mitten in der Baustelle.«
»Da gibt es ja wirklich einiges zu erzählen. Wo liegt deine neue Wohnung?«
»In der Isestraße.«
»Keine schlechte Gegend. Bis dann also!«
Wie immer legte Irma zuerst auf.