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Februar 1992

Heinz erwachte auf der Bank liegend. Er war völlig durchnässt. Marie war verschwunden. Mühsam richtete er sich auf. Alles tat ihm weh. Verzweifelt rief er nach seiner Tochter, aber er bekam keine Antwort. Aus dem Augenwinkel bemerkte er etwas und sah nach unten. Vor ihm auf dem Boden lag ein feuchter Zettel. Heinz hob ihn auf und versuchte, das sich auflösende Papier zu entziffern.

Die ersten Worte waren nicht mehr lesbar, erkennen konnte er noch „Göre“ und „wiedersehen“, die Worte dazwischen waren völlig verschwommen. Heinz betete zu Gott, dass da „lebend“, „lebendig“ oder „gesund“ stand. Dann konnte er noch „mein Geld“ lesen.

Dieses verdammte Geld. Wo sollte er jetzt so viel hernehmen? Er hatte nichts. Am liebsten hätte er seinem Leben auf der Stelle mit seiner Schusswaffe ein Ende gesetzt. Erst jetzt bemerkte er, dass auch der Revolver nicht mehr da war. Er sah sich um, doch dieses verdammte Ding war weg. Also vergrößerte er seinen Radius und spähte den Hang hinab. Etwa 30 Meter unter sich erblickte Heinz etwas Weißes, einen kleinen Elefanten. Ihm schossen Tränen in die Augen und er atmete tief ein. Jetzt musste er alle Kraft aufbringen, um Marie noch zu retten, da konnte er nicht hier stehen und in Selbstmitleid versinken.

Als Erstes wollte er den Elefanten holen, Marie sollte nicht auch noch ihr geliebtes Kuscheltier verlieren. Mühsam schlitterte er durch den tiefen, morastigen Boden nach unten. Als er sich nach dem Elefanten bückte, bemerkte er frische Fußspuren und ihm wurde klar, dass das Kuscheltier nicht hier runtergeworfen worden war. Marie musste es verloren haben, als dieser Mistkerl sie entführt hatte. Und wenn sie den Elefanten bis hierher hatte halten können, dann hatte sie auch noch gelebt. Erleichterung machte sich in ihm breit.

Wohin mochten die Spuren im Matsch führen? Heinz war so aufgewühlt, dass er um ein Haar den Elefanten liegengelassen hätte. Er packte das Kuscheltier und machte sich auf den Weg.

Der Entführer war steil bergab gegangen. Heinz glaubte schon, die Spur zu verlieren, als er bemerkte, dass sie zur Straße führte. Eigentlich ging er davon aus, dass der Kerl nicht die Deckung des Waldes aufgeben würde, aber es waren nur noch wenige Meter bis zur Uferstraße. Zudem war der Tag im Grunde optimal, so schnell, wie der Fluss anstieg, achtete keiner auf einen Mann, der ein schlafendes Kind auf den Armen trug.

Aber es kam anders. Zehn Schritte weiter, nur noch wenige Meter von der viel befahrenen Uferstraße entfernt, hinter Felsen und Büschen vor den Blicken der Verkehrsteilnehmer geschützt, war der Typ anscheinend verweilt, hier war Fußabdruck über Fußabdruck.

Heinz ging hin, spähte zwischen die Felsen und traute seinen Augen nicht: Da war eine Öffnung. Er beugte sich nach vorn und blickte in einen Schacht, der nur knapp einen halben Meter maß und steil in die Tiefe führte.

„Marie! Marie, bist du da unten?“, rief Heinz in die Schwärze.

Als er schon nicht mehr daran glaubte, eine Antwort zu bekommen, hörte er leise, ganz leise die Stimme seiner Tochter: „Papi?!“

„Marie, ich komme! Ich hol dich da raus!“ Mit diesen Worten schwang er erst sein linkes und dann sein rechtes Bein in die Öffnung.

Heinz hatte sich keine Gedanken gemacht, wie er in die Tiefe klettern sollte und wie sich herausstellte, brauchte er das auch nicht. Erst rutschten seine Füße ab, dann verlor er den Halt. Er fiel in die Tiefe, schlug schmerzhaft an Felsen und kam nur wenige Zentimeter neben seiner Tochter auf dem Boden eines Tunnels auf, in dem sie nun beide gefangen waren. Sehen konnten sie zwar in der absoluten Finsternis, die sie umgab, nichts, aber sie fanden und umarmten sich.

Nachdem Marie wieder von ihm abgelassen hatte, tastete Heinz seine Umgebung ab. Die Wände waren mit Brettern abgestützt und soweit er das abschätzen konnte, waren diese stabil. Der Gang führte in die eine Richtung leicht abwärts und in die andere etwas aufwärts. Heinz überlegte. Er musste mindestens fünf Meter gestürzt sein. Er vermutete, dass sie nicht mehr weit über dem Wasserstand des Neckars waren. Und so stolperten sie den Gang aufwärts. Anfangs war die Steigung moderat, das änderte sich jedoch, je weiter sie gingen.

Wie weit sie liefen, wie lange oder in welche Richtung, wusste Heinz nicht, und auch wenn er es in der endlos erscheinenden Zeit in dem Gang nicht mehr glauben konnte, dieser Tunnel hatte ein Ende. Eine Holztür, die sich aufdrücken ließ.

Mittlerweile hatten sich Heinz’ Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt. Er fragte sich, ob das in absoluter Finsternis überhaupt biologisch möglich war oder ob von irgendwo Licht eindrang. Immerhin waren sie eine gefühlte Ewigkeit bergan gelaufen, vielleicht waren sie dem Tageslicht schon ganz nahe?

So oder so, nun konnte er zumindest erkennen, dass der Raum, den sie beschritten hatten, rund war. Er tastete die gemauerten Wände ab. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes gelangten sie an eine Tür ähnlich der, durch die sie gekommen waren. Sie war verschlossen. Wieder musste sich Heinz anstrengen und seine gesamte Willenskraft aufbringen, nicht auf der Stelle zusammenzubrechen.

Er schaute sich weiter um. Auf dem Boden konnte er schemenhaft eine kleine Kiste erkennen. Heinz überlegte kurz, ob er mit der Kiste die Tür einschlagen konnte, erinnerte sich aber dann, wie schwer und massiv die Tür gewesen war, durch die sie gekommen waren, und verwarf den Gedanken. Er tastete weiter die Wand ab und fand schließlich einen großen Hebel. Würde dieser die Türe öffnen? Unwahrscheinlich, denn die hatte ein Schlüsselloch. Egal, sie mussten es ausprobieren, was blieb ihnen übrig?

Heinz nahm all seinen Mut zusammen und zog unter Aufbringung seiner letzten Kräfte den Hebel, so fest er konnte, nach unten. Dann passierte es: Die Decke schwang zur Seite und gab den Blick auf Regenwolken frei. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so über Regentropfen in seinem Gesicht gefreut.

Und die Glückssträhne hielt an. Als die Decke vollends zur Seite geschwungen war, fiel eine Strickleiter zu ihnen hinab. Sie sah alt und spröde aus. Ob die Leiter sie beide halten würde? Heinz war unsicher. Aber er musste es testen. Sie waren so weit gekommen, zu weit, und er hatte sich nicht Stunden durch diesen Tunnel gequält, um hier unten einfach kampflos zu sterben. Oder waren es nur einige Minuten gewesen? Er hatte sein Zeitgefühl komplett verloren. Eines jedoch war ihm klar: Sie mussten so schnell wie möglich hier raus, denn sein Widersacher konnte jederzeit wiederauftauchen.

Und dieses Mal hatte der andere die Knarre, nicht Heinz.

Vorsichtig zog er an der Strickleiter. Sie fühlte sich stabil an. Er setzte einen Fuß auf die erste Sprosse, zunächst zaghaft, dann fester, zog sich mit beiden Armen ein Stück hoch, setzte den zweiten Fuß dazu. Die Leiter hielt. Ein Schritt nach oben, zwei Schritte, die Leiter hielt. Heinz war euphorisch, er kletterte immer schneller. „Marie, Papa ist gleich wieder da!“, rief er, schon halb oben, seiner Tochter zu, ohne sie recht anzuschauen.

Die Leiter endete wenige Zentimeter unter der Öffnung und nun war Heinz sich sicher: Sie waren frei!

Er kletterte wieder nach unten, um Marie zu holen. Würde die Leiter sie beide aushalten oder sollte er das Kind vorwegschicken? Am Klettergerüst auf dem Spielplatz war die Kleine immer der Star gewesen, aber würde sie auch in dieser Situation die Nerven bewahren?

Als Heinz unten angekommen war, nahm er sich die Zeit, Marie im Mondlicht erst einmal richtig zu mustern. Er erschrak: Zwar stand sie da, als ob nichts gewesen sei, ihren Stoffelefanten fest in den Armen, doch ihre Schläfe war voller Blut. Zu seiner Erleichterung war es getrocknet und das bedeutete wohl, dass die Wunde aufgehört hatte zu bluten. Heinz schämte sich dafür, dass er seine Tochter zu dem Treffen mitgeschleppt hatte und dafür, was er ihr damit angetan hatte. Jetzt schossen doch Tränen in seine Augen.

Aber als Marie ihn anschaute, strahlte sie über das ganze Gesicht, nahm ihren Vater kurz innig in den Arm, drückte ihm den Elefanten in die Hand, begann die Strickleiter hochzuklettern und war schnell über die Schwelle verschwunden.

Immerhin, diese Entscheidung war Heinz abgenommen worden. Warum er dann noch die kleine Holzkiste an sich und mit nach oben nahm, wusste er selbst nicht.

Marie

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