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Februar 1992

Heinz März war extrem genervt. Warum mussten sie sich ausgerechnet bei dem Dreckswetter treffen, und wenn schon, warum nicht in einem Café in der Stadt? Die Sache war nun acht Jahre her, selbst wenn jemand damals dabei gewesen sein sollte, würde er nach so langer Zeit keinen Verdacht mehr schöpfen.

Und dann bekam Hilde, seine Frau, auch noch wegen des dauernden Regens nicht frei. Warum muss man als Krankenschwester bei Dauerregen durcharbeiten? Erwarteten sie in Heidelberg und Umgebung eine Katastrophe mit Hunderten von Ertrinkenden? Wahrscheinlich hatte sie sich nicht mal ernsthaft bemüht, Marie war schließlich nicht ihre leibliche Tochter.

Marie war keine normale Neunjährige, sie hatte schon mehr mit ansehen müssen als ein normales Mädchen in ihrem Alter. Seit dem Tag des Unfalls, als sie dabei gewesen war, als ihre Mutter starb, war sie anhänglich wie ein Kleinkind und völlig auf ihn, ihren Papa, fixiert.

Hilde hatte das vom ersten Tag an gestört. Warum hatte sie ihn überhaupt geheiratet? Sie wusste doch, dass es ihn nur im Doppelpack gab. Er musste aber auch zugeben, dass Marie es ihr nicht gerade leicht machte.

Jedenfalls führte das jetzt dazu, dass er Marie mitnehmen musste.

Eigentlich waren sie gerne hier, fast jeden Sonntag, aber bei dem Regen hatte die Kleine auch keine Lust. Wer wollte es ihr verübeln? Inzwischen war Heinz nass bis auf die Unterhosen, er wusste nicht, warum er seinen alten gelben Regenmantel angezogen hatte. Vielleicht hätte er sich auch so ein neumodisches Plastikteil überziehen sollen wie es seine Tochter anhatte, selbst ihr neues Kleid war noch trocken.

Er konnte sich noch genau erinnern, wie er mit Hilde im letzten Dezember auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken gewesen war. Sie hatten schon alles, auch dieses sündhaft teure rosa Kinderfahrrad, das Marie gleich im Schnee ausprobieren wollte – egal, er verdiente in der Bank nicht schlecht. Noch ein Weihnachtsgeschenk war dieser süße Elefant gewesen, den Marie seit drei Monaten überall mit hinnahm. Der war seine Idee gewesen, obwohl Hilde Marie schon für zu alt für Kuscheltiere hielt. Er wusste eben am besten, was sein kleines Mädchen wollte.

Sie waren fast schon aus der Einkaufspassage draußen gewesen, da hatte Hilde dieses geblümte Kleid gesehen. Kaum zu glauben, dass Marie es schon knapp zwei Monate später anziehen konnte. So warm wie in dieser Woche war es im Februar noch nie gewesen. Der Schnee in den Alpen und im Schwarzwald war innerhalb von Tagen geschmolzen. Das – und nicht dieser verdammte Dauerregen – würde bald zu einem gewaltigen Hochwasser führen, da war sich Heinz sicher.

Gerade kam er wieder an einer Prachtvilla vorbei. Die Alte, die dort wohnte, hatte auch den ganzen Tag nichts Besseres zu tun, als aus dem Fenster zu starren. Heinz schielte zu dem Haus, ohne den Kopf zu drehen und siehe da, er hatte recht, sie stand hinterm Fenster. Jetzt winkte sie auch noch. Er beschleunigte seine Schritte, nur schnell vorbei. Und schon beschwerte sich Marie. Sie konnte quengeln wie ein kleines Kind, wenn sie wollte. Er hätte sie nicht mitnehmen sollen. Immerhin war es nun nicht mehr weit, nur noch zwei Kilometer. Wie kam der Typ nur auf diesen Treffpunkt, und warum war er überhaupt schon wieder aus dem Gefängnis draußen? Hatte er nicht zwölf Jahre bekommen? Ihm war fast das Herz stehen geblieben, als er am Montag eine anonyme Nachricht in seinem Briefkasten gefunden hatte. Kein Name, nur die Anweisung, hierher zu kommen und seine Kohle mitzubringen. Woher wusste der Kerl überhaupt, wo er jetzt wohnte? Er hatte sich nicht mal ins Telefonbuch eintragen lassen.

Als sie fast am Treffpunkt angekommen waren, fasste er Marie an der Schulter. „Marie, du musst hierbleiben, Papa ist gleich wieder da. Verstehst du, du musst nur kurz hierbleiben.“

Er hatte Marie noch nie allein im Wald zurückgelassen, aber sie nickte tapfer. Sie hatte Angst und war nervös, das merkte er daran, wie sie den Anhänger ihrer Kette drückte. Das hatte sie auch getan, als er sie mit in die Geisterbahn genommen hatte. Klar, das hätte er nicht gedurft. Nach dem Unfall war Marie so schreckhaft geworden, dass es kaum auszuhalten war. Eben nicht wie eine normale Neunjährige.

Er hatte gehofft, die Geisterbahn würde sie weniger ängstlich machen, eine Schocktherapie quasi. Ein schwerer Fehler. Marie war so verängstigt gewesen, dass sie vier Wochen nicht alleine hatte schlafen wollen. Und Hilde war so sauer auf ihn gewesen, dass sie fast eine Woche kein Wort mit ihm gesprochen hatte. In diesem Wagen in der Geisterbahn hatte Marie auch die ganze Zeit mit dem gelben Glasanhänger gespielt.

Heinz strich ihr übers Haar: „Nur fünf Minuten.“

Seine Tochter nickte tapfer, dann ging er ohne sie weiter. Nach wenigen Metern warf er einen kurzen Kontrollblick nach hinten, ob sie auch wirklich zurückblieb.

Ein paar hundert Meter weiter saß der Kerl auf einer Bank und blickte ins Tal.

„Ich hab geschrieben, du sollst alleine kommen! Aber wenn das Mädchen dein einziger Begleiter ist, wollen wir mal darüber hinwegsehen.“

„Ja, ist sie.“ Heinz’ Mund war trocken, er schwitzte.

Verzweifelt versuchte er, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken, aber es gelang ihm nicht. Er wollte souverän und selbstsicher auftreten, doch das ging gründlich in die Hose. Am liebsten wäre er weggelaufen und das konnte er nicht mal ansatzweise verbergen.

„Du siehst nicht glücklich aus, mein Freund, freust du dich nicht, dass sie mich früher rausgelassen haben? Setz dich, wir müssen reden.“

Der Mann hatte sich nicht umgedreht, saß fast reglos da, nur sein Arm zeigte neben ihm auf die Bank. Heinz fühlte sich wie ein Schwein auf dem Weg zur Schlachtbank.

Sie saßen schweigend nebeneinander auf der Bank und blickten ins Tal. Heinz schwitzte, als hätte es 40 Grad. Dann sprach sein Gastgeber, ohne seinen Blick vom Tal abzuwenden.

„Wunderschön, der Ausblick. Da merkt man erst, was man in den letzten Jahren alles entbehren musste.“

„Ja“, krächzte Heinz.

„Aber die Zeit hat sich ja gelohnt, du hast sicher wahre Wunder an der Börse vollbracht. Wie viel hast du aus meinem Geld gemacht?“

„Nun ja, der Finanzmarkt, du musst verstehen …“, stammelte Heinz.

Der andere stand auf. Er war fast einen Kopf größer als Heinz. Seine Glatze zierte eine Narbe, die von einer Weinflasche herrührte, die ein Angreifer auf seinem Schädel zertrümmert hatte. In seinem Gesicht waren noch einige übel aussehende Narben hinzugekommen, seit Heinz ihn zuletzt gesehen hatte. Der Mann bemerkte, wohin Heinz’ Blick gewandert war. Er grinste.

„Auch im Knast wissen einige nicht, wo in der Nahrungskette sie hingehören. Ich kann dich echt gut leiden, Kleiner, gib mir keinen Grund, dass sich das ändert. Wo ist mein Geld?“, sagte er.

„Aber, du musst verstehen, die Börse ist eingebrochen …“, versuchte Heinz, nun der Panik nahe, sich zu rechtfertigen.

Es war wirklich ein Fehler gewesen, Marie hierher zu schleppen. Plötzlich geriet alles außer Kontrolle. Heinz fing sich einen üblen Schlag in die Magengrube ein, er sackte in sich zusammen. Im Bruchteil einer Sekunde entschied er sich und zog seine Waffe. Seine Lebensversicherung, er hatte sie am Vortag am Bahnhof gekauft. Er war der Meinung, es reiche aus, das Ding zu besitzen. Wie sie funktionierte, wusste er aus dem Fernsehen, man musste nur abdrücken. Er hatte sich den Revolver sogar laden lassen.

Als er sich aufrichtete, hielt er das Ding zitternd in beiden Händen und zielte sogar grob in die Richtung des Angreifers. Er hörte Marie aus der Ferne schreien und drehte sich zu ihr um. Im selben Moment schlug etwas an seiner Schläfe ein, Schmerz explodierte, er drückte ab. Das Letzte, was er sah, war, wie seine Tochter neben der Bank zusammenbrach.

Marie

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