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Wieblingen, einer der besseren Vororte Heidelbergs. Ein Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht und heulendem Martinshorn raste durch das Neubaugebiet.

„Verdammt, Hans, musst du so schnell fahren? Gib meinem Kaffee doch wenigstens eine kleine Chance, dort hinzukommen, wo er hin soll!“, beschwerte sich Claudio bei seinem Kollegen, der mit Vollgas die Bodenwellen im verkehrsberuhigten Bereich des Ortes nahm und mit jeder Welle einen weiteren Schluck der heißen schwarzen Flüssigkeit erst in Richtung Wagenhimmel und dann auf Claudios Diensthose beförderte, was zunehmend schmerzhaft wurde.

Die beiden Beamten waren gerade in einer Bäckerei gewesen, um sich ihr Abendessen zu besorgen. Sie hatten eine Zwölf-Stunden-Nachtschicht vor sich und eigentlich erst um 18 Uhr Dienstbeginn, als über Funk der Ruf von der Zentrale kam.

„Das war ein stiller Alarm!“, rechtfertigte sich der Ältere der beiden, der gerade den Streifenwagen über eine weitere Bodenwelle springen ließ. „Wenn wir den kriegen, ist es fast immer ernst.“

Seltsam war jedoch, dass, als sie nur wenige Minuten nach Eingang des Alarms bei dem Anwesen ankamen, die Gartentür und die Einfahrt fest verschlossen waren. Nichts deutete darauf hin, dass jemand gewaltsam eingedrungen war. Der Zaun war massiv, gut zwei Meter hoch und alarmgesichert und an jeder Ecke des Grundstücks hingen Kameras. Hans betätigte die Sendetaste am Funkgerät.

„Zentrale für Wagen 15“, sagte er.

„Wagen 15, hier spricht die Zentrale.“

„Wir sind vor Ort. Gab es weitere Alarme von diesem Objekt oder Kontakt zum Besitzer?“

„Negativ, Wagen 15. Kein weiterer Alarm, Besitzer nicht erreichbar“, antwortete die Zentrale.

„Okay, over and out!“ Er wartete die Erwiderung nicht mehr ab.

In diesem Moment kam ein winziger Wagen eines ortsansässigen Sicherheitsdienstes um die Ecke. Dem Auto entstieg ein Wachmann, der im Gewicht dem seines Fahrzeuges sehr nahekam. Die Beamten konnten hören, wie die Stoßdämpfer sich deutlich entspannten, als der Koloss sich aus den Wagen gewuchtet hatte.

„Moin“, grüßte der Dicke knapp und bemerkte dann, schon etwas außer Atem aufgrund der gewaltigen sportlichen Anstrengung: „Muss nur den Schlüssel holen.“

Mit diesen Worten als Erklärung watschelte er zum Kofferraum seines Kleinwagens, öffnete ihn und beugte sich hinein, wobei er den Blick auf ein beeindruckendes Maurerdekolleté freigab.

Claudio wandte sich entsetzt ab. „Für so was verdiene ich eindeutig zu wenig Geld!“

Hans stimmte ihm mit einem Nicken zu.

Nach einer halben Ewigkeit zog der Revierfahrer einen riesigen Schlüsselbund aus dem Kofferraum und gab ihn den Beamten mit den Worten: „Einer von denen ist es.“

„Etwas genauer geht’s auch?“, fragte Hans mit deutlich genervtem Unterton.

„Ja, wartet, ich hab vorne im Wagen einen Ordner, in dem alle Schlüssel aufgelistet sind.“ Und schon watschelte er wieder los, diesmal in Richtung Beifahrertür.

Hans überschlug kurz, es konnten kaum mehr als 60 Schlüssel an dem Ring sein. „Lass gut sein, wir finden schon den Richtigen“, erklärte er und ging zum Fußgängertor.

Er hatte Glück, schon der fünfte Schlüssel, den er probierte, passte, und das Glück hielt an, denn derselbe Schlüssel öffnete auch die Haustür. Sie betraten einen Eingangsbereich.

Hans pfiff durch die Zähne. „Oh ja, hier ist Geld zuhause!“, verkündete er nach dem ersten Blick ins Anwesen.

Sie standen in einer Halle. Vor ihnen stieg eine breite Treppe aus feinstem Marmor empor. Auf jedem Stock gingen zur rechten und linken Balkone ab, die im Halbkreis zur Front des Hauses führten. Von diesen Balkonen führten Türen zu den Zimmern. Über sich erblickten die Beamten eine Glaskuppel, durch die sie in den Abendhimmel schauen konnten.

„Welche Vergütungsgruppe hat eigentlich ein Professor?“, fragte Claudio.

Hans zuckte die Achseln, dann rief er in die Stille: „Herr Bauer, hier ist die Polizei! Brauchen Sie Hilfe?“ Er bekam keine Antwort. Dann sagte er in Zimmerlautstärke zu seinen Kollegen: „Sei’s drum, schauen wir nach.“

Im Erdgeschoss war ein Raum, in dem der Professor allem Anschein nach Besuch empfing. Ein gemütliches Zimmer mit einem niedrigen Glastisch, teuren Ledersesseln und einer gut ausgestatteten Bar in der Ecke. Außerdem fanden sie einen Speisesaal, in dessen Mitte ein langer Tisch aus Eichenholz stand. Aber es gab an diesem Tisch nur einen Stuhl und der stand am Kopfende der Tafel mit dem Rücken zum Panoramafenster. Daneben war eine modern eingerichtete Küche.

„Gekocht wird hier wohl nicht“, stellte Hans fest, als er die leeren Arbeitsflächen ansah. Er öffnete ein Schubfach und zog den Mülleimer vor. „Leer“, sagte er.

Claudio öffnete den Kühlschrank. Auch hier herrschte Leere, bis auf ein Päckchen Kaffee. „Wer stellt denn Kaffee in den Kühlschrank?“, fragte er, ohne eine Antwort zu bekommen.

Ein Raum weiter war das Arbeitszimmer. Auch dieses war menschenleer, nur waren alle Zimmer, die sie bisher gesehen hatten, steril, sie wirkten fast unbewohnt. Ganz anders war es hier, es sah aus, als hätte ein Kampf auf Leben und Tod stattgefunden. Bilder waren von den Wänden gefallen, Schubladen waren aus dem Schreibtisch gerissen und der Inhalt achtlos auf den hellen Teppich ausgekippt. In der Mitte des Raums tränkte den Teppich ein rötlicher, ins Braun gehender Fleck.

„Das ist nicht gut“, stellte Hans fest. „Rufen wir Verstärkung.“

Kurze Zeit später, nur wenige Kilometer entfernt, bekam Erwin einen Anruf, der ihm gar nicht schmeckte. Er kannte den aufgeblasenen Affen nicht, aber so, wie er sich aufführte, schien es ein echt hohes Tier zu sein. Das Ende dieses Gesprächs war, dass zwei Männer von der Spurensicherung abgezogen wurden, um im Haus von so einem reichen Bonzen, der dumm genug war, sich entführen oder ermorden zu lassen, nach Spuren zu suchen. Erwin kochte vor Zorn, aber es half nichts.

Gerade kamen zwei junge Beamte aus dem mobilen Labor und er rief sie zu sich. Im Näherkommen bemerkte er, dass einer in einem Plastikbeutel eine Kette mit einem großen gelben Glasanhänger trug. Er hatte keine Ahnung, wie die beiden hießen, er hoffte einfach, dass sie wussten, wer er war. Kurz darauf waren die zwei auf dem Weg nach Wieblingen, nachdem der eine Erwins Blutdruck in bisher nie gekannte Höhen getrieben hatte, indem er erklärte, sie müssten erst Martina Sommer fragen, ob sie gehen dürften. Nach einer kurzen Unterweisung über Hierarchie, Dienstweg, Dienstbestimmungen und Weisungsbefugnis der Heidelberger Kriminalpolizei war dieses Problem geklärt.

Als Viktor und Thomas zur Verstärkung ihrer beiden Kollegen das Anwesen des Professors erreichten, stellte sich ihnen ein Mann von einem Sicherheitsdienst in den Weg. Der Typ, das merkte Thomas schon nach den ersten zwei Sätzen, war mindestens so dumm, wie er fett war. Und dieser Kerl war fett. Es hatte mal einen Manager von einem Fußballwerksklub gegeben, der wäre neben diesem Koloss als magersüchtig durchgegangen.

Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis sie ihm erklärt hatten, dass man auch Polizist sein konnte, ohne Uniform zu tragen. Dann noch mal zehn Minuten, bis er ihnen glaubte, dass sie in dieses Haus hineindurften. Geglaubt war übertrieben, als der Fette bemängelte, dass sie nicht mal Waffen hätten, verlor Thomas einfach die Lust. Er nahm dessen Hand, drückte auf einen bestimmten Punkt und der Fleischberg jaulte auf und ließ sich widerstandslos aus dem Weg führen. Das Letzte, was sie mitkriegten, war, dass er die Polizei rufen werde.

„Gut“, meinte Thomas, „wenn die Kollegen kommen, können sie diesen Trottel gleich mitnehmen.“

Als die zwei in der Villa waren, hörten sie lautes Fluchen und ein Geräusch, das verdächtig nach splitterndem Holz klang. Thomas eilte zu der Tür, hinter der das Gebrüll zu hören war. Dort vernahm er eine zweite Stimme, die sagte: „Jetzt zieh mal wie ein Mann!“ Er öffnete die Tür, sah hinein und schloss die Augen, um es nicht sehen zu müssen.

Zwei Uniformierte rissen an einem Tatort die Inneneinrichtung ab. Er räusperte sich, es wurde schlagartig leise, aber nur kurz, der Ältere der beiden drehte sich zu ihm und brüllte: „Was?“

Thomas war ganz ruhig. „Habt ihr das auf der Polizeischule gelernt? Beweissicherung, wurde das bei euch unterrichtet?“

„Ja“, sagte der Jüngere. „Aber das machen eh die von der Spurensicherung.“

Lautstark brach die Rückwand des Schranks zusammen und gab den Blick auf ein geheimes Zimmer frei.

„Wusste ich es doch!“, sagte der Ältere.

Doch die Verwirrung wurde noch größer, denn es handelte sich um ein Kinderzimmer: Spielzeug, Puppen und Kuscheltiere und an den Wänden Poster von Michael Jackson und Boygroups aus dem letzten Jahrtausend. In der Mitte stand ein Himmelbett mit rosa Vorhängen und Laken und Bezügen im selben Farbton. Auf der Bettdecke thronte, sodass er unmöglich zu übersehen war, ein weißer Plüschelefant, bekleidet mit einer blauen Latzhose. Es machte den Eindruck, als wäre der Elefant der einzig benutzte Gegenstand in diesem Raum.

„Was zur Hölle ist das?“, fragte Thomas in die Runde.

Er trat in das Zimmer, um sich den Elefanten aus der Nähe anzusehen. Gerade als Hans, mit Abstand der älteste hier, sagte: „Den Elefanten kenn ich, den hab ich schon mal gesehen“, fiel Thomas’ Blick auf einen leblosen Mann, der hinter dem Bett auf dem Teppichboden lag.

Langsam umrundete er das Bett. Das Opfer lag auf dem Rücken, das teure Hemd von Olymp war blutdurchtränkt. „Alle raus hier. Und Viktor: Ruf diesen Tillmann an, wir brauchen die Rechtsmedizin hier für eine Leichenschau.“

„Mord?“, fragte Hans tonlos. Jetzt bereute er wohl den zertrümmerten Eingang.

Gabriele und Manfred sahen sich erst den Tatort an und befragten dann die Nachbarn, die erschreckend wenig über den Bewohner der Villa hinter dem hohen Zaun wissen wollten. Ein Pärchen, beide lange Haare und Birkenstock-Schlappen, was in Anbetracht der Jahreszeit und Temperatur schon als etwas ungewöhnlich gelten konnte, erklärte lang und breit, wie wenig sie von einem Überwachungsstaat hielten. Eigentlich waren es die Kameras am Grundstück des Mordopfers, die ihren Zorn erregten.

Eine ältere Dame auf der anderen Straßenseite konnte erste brauchbare Informationen liefern.

„Ich habe in den letzten Wochen öfters einen Porsche in der Einfahrt stehen sehen“, verkündete die Zeugin. „Ich beobachte meine Nachbarn nicht, aber bei so einem auffälligen Auto. Und was für eine fürchterliche Person aus diesem Luxusschlitten aussteigt. Das kann keine anständige Frau sein, fast nackt kommt die. Und Sie müssen wissen, der Herr Professor ist ja nicht verheiratet und diese Dame bleibt über Nacht. Können Sie sich das vorstellen?!“

„War die Dame heute da?“, stoppte Gabriele den Redefluss, als sich die Alte gerade einen Keks in den Mund schob.

„Ja, wissen Sie, das weiß ich gar nicht. Die Schmitts von der Rückseite hatten Gartenparty und da musste ich ja sehen, ob es was Neues gibt. Also nicht, was Sie denken, aber Sie müssen wissen, die Tochter ist 14 und hat einen Freund, so was hat es zu meiner Zeit nicht …“

„Ja“, fiel Gabriele ihr ins Wort, Teenagerliebschaften interessierten sie nun gerade überhaupt nicht. „Das Kennzeichen des Porsche, können Sie sich daran erinnern?“

„Erinnern nicht, aber ich schreibe mir ja alles auf. Zum Beispiel diese Schwulen von schräg gegenüber, nicht, dass ich was gegen die habe, aber deren Köter bellt immer, wenn er mich sieht. Der Hund kann ja nichts dafür, dass er in einem solchen Haus leben muss. Aber stellen Sie sich vor, die lassen ihren Hund auf die Straße kacken und machen es nie weg. Ich habe eine Liste mit Datum und Uhrzeit, kann ich die Ihnen auch geben …“

Gabriele riss nun endgültig der Geduldsfaden und sie nahm der Alten das Notizbuch aus der Hand, in dem sie Datum, Uhrzeit, Fahrzeugtyp und das Kennzeichen fand und in ihrem eigenen Heft notierte.

Als die das Haus verließen, meinte Manfred: „Nun, wenn die ermordet wird, fehlt es uns ganz sicher nicht an Motiven.“

„Und auch nicht an Verdächtigen“, ergänzte Gabriele, während sie Erwin anrief und das Stuttgarter Nummernschild des Porsche durchgab.

Erwin ließ nicht lange auf sich warten. „Der Wagen ist auf eine Nadine Keller zugelassen. Die Frau ist interessant: Zwei Mal verwitwet, beide Male waren die Ehemänner sehr alt und reich. Und fragt mich nicht, woher ich das weiß. Jedenfalls, die Kollegen aus Stuttgart kümmern sich schon um sie.“

Eine Stunde später kam die ernüchternde Meldung aus der Landeshauptstadt. Nadine Keller hatte über den gesamten Nachmittag ein Modeshooting, was der Fotograf auch schon bestätigt hatte.

Doch die schlimmste Enttäuschung stand den Kommissaren noch bevor. Als ihnen einer der jungen Beamten der Spurensicherung sagte, dass die Kameras nur Attrappen seien und nichts aufzeichneten, hatte Gabriele für den Tag genug. Sie fuhren zurück ins Präsidium.

Marie

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