Читать книгу Marie - Jürgen Rupprecht - Страница 11
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ОглавлениеAm nächsten Morgen kam Gabriele wie jeden Tag um sieben Uhr als Erste ins Büro. Manfred würde frühestens in einer Stunde auftauchen und es wäre ihm anzusehen, dass er mehr Zeit im Badezimmer verbracht hatte als sie selbst. Erwin bekäme man nicht vor neun zu sehen und er würde wie aus dem Bett gefallen wirken und als erstes zum Kaffeeautomaten gehen.
Als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, stellte sie überrascht fest, dass die Tür unverschlossen war. Sie würde eine Mail an die Putzfirma schicken, so etwas durfte nicht passieren.
Von drinnen erklangen Stimmen, also öffnete sie schnell die Tür. Was sie sah, ließ ihr den Mund offen stehen. Manfred saß an seinem Schreibtisch. Er wirkte, als hätte er die Nacht durchgemacht. Vor ihm saß Martina. Die gehörte zwar nicht hier rein, aber um das auszudiskutieren war es zu früh. Auch sie sah aus, als hätte sie nicht geschlafen. Nach einem Blick in das übernächtigte Gesicht und auf das obligatorische dümmliche Grinsen der Kollegin von der Spurensicherung wusste sie bescheid. Es blieb nur zu hoffen, dass die beiden wenigstens verhütet hatten.
Das alles war eindeutig zu viel Information am frühen Morgen für ihr noch nicht ganz hochgefahrenes Gehirn. Sie wandte sich zum Kaffeeautomaten und entdeckte Erwin. Wenigstens der sah aus wie immer. Gabriele schaute auf ihre Uhr, vielleicht hatte sie ja verschlafen. Dann hob sie ihre Swatch ans Ohr, um zu horchen, ob das billige Teil stehen geblieben war. Beides war nicht der Fall.
Also stellte sie die Frage, die sich aufdrängte: „Was ist hier los? Vollmond und keiner kann schlafen?“
Wortlos drückte ihr Erwin eine dünne Akte in die Hand. Gabriele nahm den Autopsiebericht, setzte sich und las. Ihr war nicht bewusst, dass ihr Vorgesetzter reglos vor ihr stand und ihr beim Lesen zusah.
Erst, als sie die Mappe schloss, fragte er: „Ist dir etwas aufgefallen?“
„Die Kleine saß im Rollstuhl? Ihre Wirbelsäule war von Krebs zerfressen? Wenn ich richtig lese, war das ein todkrankes Kind und es gibt kein Anzeichen für einen Mord.“
Erwin nickte. „Es gibt Mordmethoden, die man nach der langen Zeit an einer skelettieren Leiche nicht mehr oder nur noch schwer nachweisen kann. Er hätte sie zum Beispiel erwürgen können und bestimmt gibt es auch Gifte, die nicht nachzuweisen sind“, sagte er.
„Und die Kleine saß im Rollstuhl?“, hakte Gabriele nach.
„So steht es im Bericht und dem müssen wir wohl glauben“, antwortete Erwin, um dann sehr bedacht zu sagen: „Nur, ich habe damals mit der Zeugin gesprochen, die das Kind zuletzt lebend gesehen hat, mal abgesehen vom Mörder. Diese Frau hatte gesehen, wie die Kleine mit ihrem Vater den Philosophenweg hochlief. Sie sagte, das Mädchen sei gelaufen.“
„Gut, vielleicht konnte es ja noch unter Schmerzen laufen. Die Leiche lag fast ein Vierteljahrhundert in diesem Erdloch, vielleicht war der Krebs noch nicht so weit fortgeschritten, wie es jetzt aussieht. Gehen wir zu der Zeugin und fragen sie, ob die Kleine gehumpelt hat oder ob ihr sonst irgendwas aufgefallen ist. Etwas, das darauf hinweist, das sie Schmerzen hatte.“
„Gute Idee“, sagte Erwin. „Aber sie ist tot, Selbstmord, nicht mal eine Woche nach meinem Verhör.“
„Du hast die Zeugin so hart rangenommen? Respekt“, beteiligte sich Manfred wenig geistreich am Gespräch.
Erwin schüttelte den Kopf, ging aber nicht weiter auf den Kommentar ein und wechselte das Thema. „Ich habe mich gestern geirrt, der Mörder ist noch im Gefängnis. Und weder nach 15 noch nach 20 Jahren hat er einen Antrag auf Begnadigung gestellt.“
„Warum das? Als Kindsmörder ist der Knast bestimmt kein Ferienlager, in dem man länger als nötig bleibt“, warf Gabriele ein.
„Kannst du laut sagen. Im ersten Jahr war er dreimal im Krankenblock. Und jetzt sitzt er seit über 20 Jahren in Einzelhaft“, antwortete Erwin.
„Dann sollten wir ihn mal fragen, weshalb er den Garten Eden nicht verlassen will“, stellte Gabriele fest.
Erwin nickte zustimmend. „Ich ruf in der Justizvollzugsanstalt an und sag denen, dass ihr kommt.“
Gabriele ging zur Tür und drehte sich um. Manfred saß Martina gegenüber und machte wenig Anstalten, sich in Bewegung zu setzen.
„Manfred? Kommst du?“, fragte Gabriele.
„Kannst du das nicht alleine machen? Martina will mir ihre Abteilung zeigen“, säuselte Manfred, den Blick nicht von seiner Angebeteten lassend.
„Manfred Bohrmann, Sie bewegen Ihren Arsch …“, brauste Erwin auf. Das verfehlte seinen Zweck nicht, Manfred sprang auf.
Die nur wenige Kilometer lange Fahrt vom Polizeipräsidium in Heidelberg nach Mannheim in die JVA war im morgendlichen Berufsverkehr die Hölle. Erschwerend kam dazu, dass der Knast in Herzogenried lag. Auf dem Weg dahin musste man an ABB und Daimler Benz vorbei, Firmen also, die morgens von nicht unerheblich vielen Beschäftigten angesteuert wurden.
Gabriele war sich sicher, wäre sie die 14 Kilometer mit dem Fahrrad gefahren, wäre sie schneller am Ziel gewesen und hätte nicht noch eine gefühlte Ewigkeit nach einem Parkplatz suchen müssen, denn die gab es in dem zu den besseren zu zählenden Stadtteil genauso wenig wie einen funktionierenden Zigarettenautomaten. Mit Letzterem hätte Gabriele zwar leben können, aber mit zunehmendem Entzug wurde Manfred immer nerviger.
Das Ganze führte dazu, dass sie fast eineinhalb Stunden später bei der JVA eintrafen, als Erwin angekündigt hatte. Den Beamten, der sie in Empfang nahm, interessierte ihre Verspätung herzlich wenig, er verkündete überrascht, sie seien die ersten Besucher seid Langem.
„Und daran ist er ganz alleine schuld, er redet nicht. Der Gefängnispfarrer hat es mehr als einmal probiert“, fügte er mit kaum verhohlener Ablehnung hinzu.
Der Besucherraum war karg, grün gestrichene Wände und Decke, grauer Linoleumboden. Es gab keine Fenster, die Lampe war hinter Gittern und der Tisch am Boden festgeschraubt. An diesem saß mit Handschellen an die Tischplatte fixiert Heinz März.
Der Kindsmörder war abgemagert, die lichten Haare ergraut. Die Augen in dem eingefallenen Gesicht waren milchig trüb und wirkten auf eine erschreckende Art traurig. Gabriele schätzte sein Alter auf mindestens 70, obwohl er gerade mal Mitte 50 war.
„Herr März, ich bin Frau Hauf und das ist mein Kollege Herr Bohrmann. Wir sind hier, weil wir uns mit Ihnen über Ihre Tochter unterhalten wollen.“
Gabriele beobachtete ihr Gegenüber genau, aber es gab keine Reaktion. Nichts, was darauf schließen ließ, dass er überhaupt merkte, dass er nicht mehr alleine in dem Raum saß.
„Dürfen wir das Gespräch aufzeichnen?“, fragte Gabriele. Heinz März verzog weiter keine Miene.
„Das heißt dann wohl ja“, stellte Manfred fest und schaltete das Diktiergerät ein. „Wir haben gestern in Heidelberg die sterblichen Überreste Ihrer Tochter gefunden“, begann er die Befragung.
„Wo?“, kam zögernd die Gegenfrage.
„In der Nähe der Alten Brücke, aber das wussten Sie ja schon, da haben Sie sie doch abgelegt, als Sie mit ihr fertig waren, ist es nicht so?“, antwortete Manfred.
Gabriele war es nicht recht, dass ihr Kollege so freimütig mit Informationen um sich warf und ihr war auch nicht sein aggressiver Ton entgangen, aber sie sagte nichts. Sie hatte den Eindruck, als wäre ein Lächeln über das ausgemergelte Gesicht des Mörders gehuscht, als er den Fundort erfuhr.
„War Ihre Tochter krank?“, fragte Gabriele. März verzog keine Miene. „Haben Sie Marie vielleicht getötet, weil Sie ihr Schmerzen ersparen wollten? Das würde bei einem Begnadigungsverfahren sicherlich nicht zu Ihrem Nachteil ausgelegt“, versuchte Gabriele, ihn noch mal zum Sprechen zu bringen, aber März saß nur reglos am Tisch, sein Interesse am Geschehen um ihn herum schien erloschen.
Mal brüllten sie ihn an, mal machten sie ihm Vorwürfe oder äußerten Verständnis, alles ohne Erfolg. Als sie frustriert eine halbe Stunde später wieder in ihrem Dienstwagen saßen, brachte es Manfred auf den Punkt.
„Das war wohl ein Reinfall auf ganzer Linie“, sagte er.
Gabriele konnte sich dieser Bewertung nicht ganz anschließen. Sie hatte immer noch dieses kurze Lächeln vor Augen. Trotzdem hatten sie nichts Neues zu berichten und so graute es Gabriele schon davor, Erwin das magere Ergebnis ihrer Dienstfahrt mitzuteilen.
Ungefähr zu der Zeit war Martina Sommer dabei, 20 skelettierte Leichen in die Heidelberger Gerichtsmedizin transportieren zu lassen. Sie war den ganzen Vormittag damit beschäftigt gewesen, die Skelette am Tunneleingang zu bergen. Tillmann hatte ihr gesagt, dass sie vorrangig die Villa von Professor Bauer sichten sollten, da dies eine höhere Priorität habe. Aber der Typ hatte einfach keine Ahnung, der Fundort hier war offen, kein Schutz vor Wind und Wetter, man konnte buchstäblich dabei zusehen, wie Beweise in der Luft verschwanden.
Man konnte auch immer nur eines nach dem anderen erledigen. Wenn sich Arbeiten überschnitten, passierten Fehler. Dazu kam, dass sie seit Jahren Anträge für noch einen zusätzlichen Kollegen stellte, die jedes Mal abgelehnt wurden.
Jetzt bekam ihr Vorgesetzter, was er verdiente; Er musste warten.
Die Kleidungsreste, die sie fanden, gehörten zu Wehrmachtsuniformen. Langwaffen lagen bei den Skeletten. Vieles wies darauf hin, dass sich die Gruppe selbst getötet hatte. Der Gang, in dem die toten Soldaten lagen, führte nordwärts bergan. Sie erkundeten den Tunnel, wurden jedoch nach 500 Metern gestoppt. Deckenbalken waren heruntergebrochen und der Gang verschüttet.
Martina fuhr in ihr Büro, sie hatte eine SMS von Manfred bekommen, dass er gleich da sein würde. Ihre Mitarbeiter kamen hier auch alleine klar.