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Diakonenausbildung im Rauhen Haus

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Der 31. März 1938 war mein erster Tag im Rauhen Haus. Bruder Wörwag machte mit uns einen Rundgang durch die Anstalt.


Sonst gab es nur Anweisung zum Schlafen im Haus Tanne in einem Zimmer mit mehreren Anwärtern. Die nächsten Tage brachten für mich den Einsatz bei Arbeiten in der Anstalt. Ich war mit 29 Jahren eingetreten. „Was machen wir mit dem jungen Mann?“ Erst einmal musste ich zu Bruder Düwel, ein beliebtes Haus. Der hatte das Brüderbüro unter sich. Ich bekam den Vertrag zum Eintritt. Bei Austritt wären 3.000 Reichsmark fällig. 35 RM für Bücher und Unterhalt meiner Mutter. Was mich wunderte: Es gab keine Betreuung der jungen Brüder. Die zum Teil Älteren hielten sich sehr reserviert.

Wie ging es nun weiter im Rauhen Haus? Immer mehr junge Anwärter kamen. Wir lernen uns kennen, und weil nichts geschah, organisieren wir eine Gruppe. Zwischendurch wurde ich Pförtnerbruder: Telefonzentrale bedienen (stöpseln), Post in die Fächer einordnen, für Führungen den Schlüssel fürs alte Rauhe Haus herausgeben. Weil ich an den Schlüssel kam, gründen wir eine kleine Gruppe, eine Gebetsgemeinschaft. Wir trafen uns vor Arbeitsbeginn im alten Haus (Ruges Hus), in dem Wichern die ersten Anfänge gemacht hatte. Eine Zeitlang ging alles gut mit unserer Gruppe. Dann wurden wir verpfiffen. Es könnte etwas im Sinne des § 175 (damals strafbare Homosexualität) entstehen.

Pastor Wegeleben war der Direktor der Anstalt. Er wohnte in der I. Etage des Wichernhauses. Unten war die Verwaltung, die Pförtnerloge und der Brüdersaal. Ich sprach mit Pastor Wegeleben, um für uns eine Bibelstunde einzurichten. Wir wollten nicht ausbüchsen. Jeden Mittwoch hielt Pastor Wegeleben die Bibelstunde für uns Anwärter im Brüdersaal.

Sonnabends wurde mit Öl und Sägespänen der Parkettboden in der Tanne gereinigt. Es war immer noch das Jahr 1938. Ich wurde in der Kanzlei bei Anni Schulz und Frau Esmarch eingesetzt: Akten durchstöbern und ordnen. In der Telefonzentrale hatte ich viel Spaß mit gemachten Anrufen. Wir ärgerten August Füßinger, indem wir seine nuschelige Sprache nachmachten.


Links: August Füßinger – rechts der weiter oben erwähnte Bischof Lilje

Am Schalter erlebte ich manchen älteren Bruder. Von Bruderschaft konnte keine Rede sein. Wir jüngeren Anfänger mussten uns schon durchbeißen. In der Anstalt musste ich Laub fegen und Obst pflücken. Dabei fiel ich von der Leiter und verletzte mit die Ferse. Das war noch lange zu spüren. Im Heizungskeller musste ich für die Küche Koks schaufeln. Einmal hatte ich die Post in der Küche zu verteilen, und die Küchenmädchen umschwärmten einen wie die Bienen. Frieß kam hinzu: „Aber Bruder Wietholz, das ist verboten! Fräulein Sander holt doch die Post.“ - Komisches Mädchen.

Abends wurde die ausgehende Post von Pastor Wegeleben von dessen Hausmädchen gebracht. Sie musste frankiert werden. Es war meistens spät abends, und dann ergab sich mit der Deern ein Plausch. Sie war ganz hübsch, den damaligen Idolen entsprechend: blond, blauäugig und schlank. Es muss wohl im Herbst gewesen sein. Irgendeine Fahrt von der Concordia sollte sein. Vorher hatten wir uns zu einem Spaziergang verabredet. Ich wollte sie mal näher kennen lernen, was auch geschah, denn im Laufe des Gesprächs kamen wir auf die Zukunft zu sprechen, und sie offenbarte mir, dass sie als braune Schwester zur NSV wollte. Später, zurück von der Fahrt, habe ich ihr eine Karte geschrieben, dass es mit uns nichts werden könne. Wo sie später abgeblieben ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich meine, sie so um 1950 in der Martinskirche gesehen zu haben. Pastor Dubbels war noch nicht verheiratet, und wir hatten viele Kanzelschwalben. Nach seiner Heirat waren sie plötzlich weg.

Im Rauhen Haus wurde ich auch zur Nachtwache eingeteilt. Das Wachbuch im Wichernhauskeller, unser Quartier, war eine Sehenswürdigkeit für sich. Was haben die Brüder alles diesem Wachbuch anvertraut. Auch wir waren nicht schüchtern und manchen Vers und Ulk haben wir vom Stapel gelassen. Manchen Ulk haben wir uns auch mit den Haustöchtern erlaubt. In kleinen Gruppen ging man abends noch in die Anstalt. Wir sind zum Wirtschaftsgebäude geschlichen und haben mit Pappnägeln das Schlüsselloch dichtgemacht. Wir hatten unseren Spaß, wenn sie sich nicht helfen konnten und ältere Brüder holten, die ihnen helfen sollten. Ihre Bleibe war oben über Frieß’ Wohnung. Der Hausvater war oft entrüstet, wenn die Brüder ihren Spaß mit den Hausmädchen hatten: Leiter ans Fenster gestellt, die große Glocke vor dem Haus mit Wasser gefüllt als Frost war. Später wurde ein altes Sofa im Teich versenkt. Man glaubte, eine Leiche wäre im Wasser.

Mir wurde aufgetragen, abends mit der Holzknarre das Abendlied am Teich zu singen: „Hört ihr Herren, lasst Euch sagen...“, zuerst mit Lampenfieber, denn vor den Brüdern wollte man keinen Misston fabrizieren - es wäre eine Blamage gewesen. Aber bei mir hatte man keinen Erfolg. Nur die Hausmädchen machten ihre Sparziergänge zu auffällig – denn, man spielte mit dem Gedanken, sich einen Bruder zu angeln – Ha!

Es war in mancher Hinsicht toll im Rauhen Haus. Nur musste man selbst zur Eigenhilfe greifen. Ein Beispiel: Der Totensonntag stand bevor, da kam mir der Gedanke, ein Laienspiel aufzuführen, was im Rauhen Haus eigentlich unmöglich war, denn die Brüder hatten doch keine Zeit. Wir nahmen uns die Zeit, um das Stück "Gevatter Tod" einzuüben. Dazu brauchten wir ein Mädchen und einen Geigenspieler. Die Haustochter von Pastor Wegeleben durften wir ausleihen und nach langem Suchen war Bruder Ferlau bereit, die Melodie „Es ist ein Schnitter, der heißt der Tod“ mit der Geige zu spielen. Im Weinberg (altes Gemäuer mit Saal) wurde das Stück aufgeführt. Wir haben es gewagt, obwohl auch manche die Nase rümpften. Zu Weihnachten hatte ich für die Öffentlichkeit den Adventspruch aufgesagt: „Das Licht scheint in der Finsternis. Aber die Finsternis hatte es nicht begriffen.“ Bruder Noack spielte den Weihnachtsmann und hat dabei Bruder Düwel mit der Rute verdroschen; der aber konnte keinen Spaß vertragen.

1939

Ja, und dann feierten wir den Beginn des Jahres 1939. Im Nachhinein wissen wir, es war ein schicksalschweres Jahr. Unter uns jungen Brüdern hatten sich Freundschaften angebahnt, etwa mit Bruder Bull und Bruder Konopatzki. Der erstere trat später aus. Von Konopotzki bekam ich nach dem Krieg ein Lebenszeichen. Er war Sekretär im CVJM geworden, und dann riss die Verbindung ab. Bruder Bull hatte Dienst in der Küche.

So kam dann auch die Verbindung zu den Mädchen zustande. Dort machte ein Fräulein Gabriel ihr Haushaltsjahr. Am 20.01.1939 sollte auf der Heideburg ein Treffen der Jugend sein mit einem Vortrag von Pastor Wegeleben. An diesem Sonntag hatte ich nun in der Zentrale bis mittags Dienst. Also verabredeten wir uns zu 14 Uhr im Stormarnweg – Hohle Rönne, Ecke Warendorf. Vom Rauhen Haus durfte niemand sehen, dass wir uns mit Mädchen trafen. Die eine hatte noch ihre Schwester Emmi für Bruder Bull mitgebracht. Also los ging es mit der Bahn bis Harburg, dann durch den Wald. Wir hatten dabei angeregte Gespräche. Auf der Heideburg nahmen wir am Vortrag teil, später saßen wir in der Sonne. Es war für Januar ein warmer Tag. Vor dem Weg saßen wir in der Heideburg bei einem Heideburggetränk auf dem „berühmten" Sofa, was später nochmals in unserem Blickpunkt auftauchen sollte. Auf dem Heimweg durch den Wald sprang dann der gewisse Funken über. Lisa Gabriel und der junge Bruder Wietholz wussten auf einmal, was los war, und ein paar Tage später kam dann von Lisa das Ja-Wort. Wie auf leisen Sohlen flogen wir förmlich dahin. Bruder Bull und ich gingen vom Berliner Tor zu Fuß ins Rauhe Haus. Es war ein Weg, der uns zu kurz vorkam. Am Tag später hatten wir uns durch den Verbindungsmann für den 1. Februar 1939 spät abends verabredet. Von uns Brüdern durfte abends keiner das Gelände verlassen. Ich hatte mir noch Maiglöckchen besorgt, und abends bin ich dann über das Gitter hinter dem Rauhen Haus geklettert. Wir trafen uns und gingen Hand in Hand durch die Weddestraße. Da kam es dann zu dem berühmten Satz: "Bin ich Ihnen auch genehm?" Die Maiglöckchen und diese Erklärung taten mir das Nächste. Man muss die Lisa, die heute 11 Enkel hat, fragen. Jetzt hatte für uns beide das Rauhe Haus noch einen besonderen Glanz. Es kam vieles auf uns zu. In der Concordia-Hoheluft stellte ich nun mein Mädel vor. Es gab eine Enttäuschung, denn jetzt musste man mich teilen. Aber bei jeder Stunde in Hoheluft begleitete Lisa mich. Meine Mutter hatte mich schon immer gewarnt. „Die Mädel taugen alle nichts“, war ihre Behauptung. Später wurde sie aber eines Anderen belehrt. Nicht zu vergessen, ich hatte auch eine 4 Jahre jüngere Schwester, die aber früh ihre eigenen Wege ging, heiratete und später in der Knauerstraße 11e, I. Etage, wohnte.

Dann passierte es, dass ich eines Tages vor unserer Wohnungstür stand, die man versiegelt hatte. Schlüssel musste ich bei der Polizei abholen. Mutter hatte in ihrem schweren Gemütszustand Hitler und Genossen aus dem Fenster rufend beleidigt. Daraufhin wurde sie von einem Nazi angezeigt und abgeholt. Mir wurde gesagt, sie sei in der Anstalt Friedrichsberg. Später kam sie nach Langenhorn und dann nach Pinneberg, immer unter Aufsicht. Sie wurde mit Medikamenten vollgepumpt, um diese Gemütsanfälle zum Stillstand zu bringen, was aber nicht gelang.

Zwischendurch traf Helmut Wittmack, einer unserer neuen Concorden, im Rauhen Haus ein. Mit meinem Mädchen trafen wir uns oft, wenn wir Freizeit hatten. Es wurden Wanderungen an der Elbe entlang gemacht oder in die Heide. Manchmal waren wir auch im Garten, Horner Landstraße 439, wo Lisas Vater Mitbesitzer eines Hauses war. Es waren schöne Sommerabende in der Laube. Vom Schwarzen Weg hinter dem Grundstück konnte man durch eine Pforte in den Garten gelangen. Natürlich waren die Eltern gespannt, was wohl ihre Tochter da herangeschleppt hatte. Aber noch blieb ich für die Eltern im Dunkeln.

Es gab allerlei Ereignisse in unserem Leben. Abends spät in der Anstalt schrieb ich Nachrichten der Bekennenden Kirche, besuchte auch Versammlungen bei Pastor Remé in der St. Gertrud-Gemeinde. Zu Ostern erfüllte sich mein Wunsch, ins Seminar DW II - Diakonsklasse zu kommen. Am ersten Schultag hatte ich gleich eine Auseinandersetzung mit zwei Dozenten: Sie fragten, warum ich kein Abzeichen der Partei trüge. Zwei Stunden lang versuchte man, uns vom Nationalsozialismus zu überzeugen. Unsere Antwort vor ca. 12 Schülern: "Wir sind in der bekennenden Kirche." Dies schlug natürlich wie eine Bombe ein. Eine Dozentin wollte uns klarmachen, dass es ums Rauhe Haus gehe. Wir säßen alle in einem Boot! Wir aber nicht! Daraus ergab sich eine Unstimmigkeit unter den Schüler-Brüdern. Ältere wollten austreten. Wir verabredeten am Nachmittag im Blohmspark ein geheimes Treffen, denn im Rauhen Haus waren wir uns nicht sicher genug. Viele der älteren Brüder gehörten ja verschiedenen Parteiorganisationen an. Im Park kam dann eine Aussprache zustande. Manche wollten austreten und nach Moritzburg gehen, was dann auch geschah. Mein Entschluss galt für alle anderen: Durch Weggehen ändern wir nichts. Aushalten, auch unter schwierigen Bedingungen. Es wird die Stunde kommen, wo es wieder anders werden wird.

In der nächsten Zeit wurden wir schulwissenschaftlich auf Vordermann gebracht. Hier nahm sich Bruder Germer viel Zeit. Wir profitierten von dem, was er uns mitgab, doch eine ganze Menge. Von der Wichernschule tauchte auch ein Lehrer auf, der für Biologie zuständig war, auch ein SS-Mann. Er versuchte, uns zusammen mit seiner Kollegin zu beeinflussen und erreichte das Gegenteil. Bei den Auseinandersetzungen ging es hart her, und in der I. Etage lagen Füßinger und Jahnke aus dem Fenster und hörten mit. Man wagte aber nicht, uns zur Rede zu stellen, sondern suchte wohl einen Ausweg. Habe mit den verantwortlichen Leuten verhandelt, um 14 Tage Urlaub zu bekommen, um nach Borkum ins Bibellager zu fahren. Dies wurde von der RH-Leitung genehmigt. Nun sollte auch Lisa mit. Das Hindernis waren die Eltern. Flugs kaufte ich einen Blumenstrauß und besuchte Lisas Eltern. Stellte mich als Diakonsschüler des Rauhen Hauses vor und betörte die Mutter mit meinem nicht vorhandenen Charme. Immerhin, nach langem „Wenn und Aber“, bekamen wir die Genehmigung gemeinsam zu reisen. Hoffentlich bekämen sie ihre Tochter heil wieder. Wir sind vom Hauptbahnhof Richtung Bremen mit dem Zug gefahren. Unsere Fahrräder hatten wir aufgegeben. Ab Bremen ging es per Pedes nach Apen ins Pfarrhaus. Pastor Stöver und Frau nahmen uns herzlich auf. Es sollte der letzte Besuch sein. Später hörten wir, das Pfarrhaus sei von einer Bombe vernichtet worden. Eigentlich lag es ganz abseits von Emden. Des Pfarrers Auslegung des Alten Testaments war immer auf die bedrohte Zeit durch Hitler ausgelegt. Von Emden fuhren wir mit der Fähre nach Borkum. Das Heim des Jungmänner-Verbandes Deutschland hieß Waterdelle. Wir verlebten schöne Tage der Gemeinsamkeit mit den jungen Leuten, die aus ganz Deutschland gekommen waren. Paul le Seur hielt uns in den Dünen die Bibelarbeit, die immer sehr ergiebig war. Unser Glaube bekam sehr viel Stärkung. Bei einer Stunde klang so etwas von einem Ahnen durch, dass die kommende Zeit schwierig werden könnte. Wir erlebten unsere Ferienfreuden: Viel Baden, Bootsausfahrten, Besichtigung von Borkum, suchten die Häuser der ehemaligen Walfänger, deren Gartenzäune mit Walknochen bespickt waren. Die Freizeit ging zu Ende, und wir fuhren mit dem Rad zurück durch Friesland, übernachteten auf einem Bauernhof. Von dort ging es am anderen Morgen nach Bremerhaven zu der Familie von Großmutter Hinzes Stiefschwester. Am nächsten Tag besuchten wir den Sohn des Pfarrers v. Busch. Es war ein herrlicher Tag. Keiner ahnte, dass wir mit den Senioren des Rauhen Hauses ca. 40 Jahre später Ringstedt nochmals aufsuchen würden. Der Pastor dort hielt uns in der Dorfkirche die Abendandacht. Vorher hatten wir den alten Busch gefunden und besucht. Er erinnerte sich an die Gabriels. Von Ringstedt ging es, mit großer Mühe für Lisa, mit dem Rad weiter nach Moisburg. Wir schliefen sehr primitiv in Pastor Schwiegers Jugendheim. Von dort fuhren wir dann nach Hamburg. Lisa ging zu ihren Eltern und ich ins Rauhe Haus.

Ich wurde jetzt mal in jeder RH-Familie eingesetzt, im Haus Eiche bei Bruder Fahrni, dann im Köcher bei den Lehrlingen. Morgens hieß es früh aufstehen. Auf Widerruf war ich bei Bruder Noack im Bienenkorb. Im Rauhen Haus war der Kampf der Diakone entbrannt. Ackermann aus der Wichernschule war strammer Parteigenosse der Nazis im Bund mit der NSDAP-Kreisleitung aus Blohmspark. Wegeleben war kurz vor dem Weggang.

Lisa und ich wollten uns bald verloben. Wir wurden gebeten, im Rauhen Haus die Ringe nicht öffentlich zu tragen, ältere Brüder könnten Anstoß daran nehmen. Blöd, aber so war es im Rauhen Haus: Keine Bräute während der Ausbildung. Pastor Wegeleben hatte man hinausgegrault, und ein neuer Direktor kam: Pastor Donndorf, der nun den Kampf mit Ackermann aufnehmen musste.


v. l. n. r: Pastor Donndorf, August Füßinger, Bischof Lilje (Foto aus den 1950er Jahren)

Eines Tages war es dann soweit, alle Familienleiter und Gehilfen mussten zu einer Versammlung, wo hohe Tiere der Partei dabei waren. Man musste sich entscheiden: Das alte Rauhe Haus mit seiner Erziehungsmethode fliegt auf, oder es wird eine SS-Heimschule. Das Personal wollte man mit übernehmen. Ich hatte zu der Zeit Dienst in der Zentrale und wartete auf eine richtige Entscheidung. Erziehungsarbeit im Rauhen Haus aufgeben, war meine Parole. Bruder Helmut Wittmack kam zu mir in die Zentrale und berichtete. Unter dem Druck von Ackermann und dem Kreisleiter hatte man sich für die SS-Heimschule entschieden. Helmut berichtete: Ackermann hätte gesagt, Christen und Nationalisten seien ja dasselbe. Darauf Helmut Wittmack: „Die sind wie Feuer und Wasser.“ Darauf Ackermann, er wolle es nicht gehört haben, nächstes Mal werde er ihn anzeigen. Wir aber waren von der Entscheidung bedient. Die Führung des Rauhen Hauses hatte kein Rückgrat gezeigt. Aber was für ein Wunder: Der Direktor Engelke war ja bei Reichsbischof Müller Reichsvikar geworden. Zwischendurch hatten wir in der Stadthalle in Harburg den Reichsbischof erlebt. Armer Mann, schweißwischend stand er am Rednerpult, seine Leibwache der SA als Saalschutz. Er, der Bischof, legte das Gleichnis vom verlorenen Sohn aus und zeigte auf Gott, holte auch den verlorenen Sohn heim, den Christus. Hier aber irrte dieser Reibi, wie wir ihn nannten, denn die ausgebreiteten Arme des Vaters sind ja Jesu Arme, denn nur durch ihn geht der Weg zum Vater. „Ich“, spricht Jesus, „bin der Weg und die Wahrheit. Niemand kommt zum Vater, denn durch mich.“ Weil die Nazis Jesus als Juden ablehnten, musste man solche Auslegung bei den Deutschen Christen konstruieren.

Im Rauhen Haus passierte viel Kleinkram. Von der Küche wurde ich zum Schlachtfest eingeladen. Mit Lisa machte ich abends viele Spaziergänge. Trotz Verbots!

Der 1. September 1939 kam, und Hitler ging zum Angriff auf Polen über. Vorher hatte er einen Vertrag mit Stalin abgeschlossen, der viel Staub aufwirbelte in der Welt. Man hatte halb Polen an Russland verschachert und die andere Hälfte nahm sich Hitler. Die Baltenstädte gingen auch an Russland, ohne diese Völker zu fragen. Womit Hitler nicht gerechnet hatte: Frankreich und England erklärten Hitler den Krieg. Jetzt hatten wir den Salat. Hitler hatte sich schon vorher die Staaten Österreich und die Tschechei vereinnahmt. Im Blitzkrieg wurde Polen niedergeworfen.

Wegen meines Magenleidens war ich auf der Krankenstation, wo ein alter Herr mit mir aß. Als er die Siegesfanfaren über Polen hörte, sagte er uns: „Was ist schon von Polen zu holen, als ein paar Stiefel ohne Sohlen.“ Dies habe ich nicht vergessen können, denn er sollte nur recht haben mit diesem Ausspruch. Unsere Klasse wurde bald aufgelöst. Viele Brüder wurden eingezogen. Wir halfen uns, wie wir nur konnten, in der Familie.

Im November 1939 bekam ich den Marschbefehl, zum Kattendorfer Hof bei Kaltenkirchen zu ziehen. Vom Rauhen Haus kamen hierher die schwierigsten Jungen. Dort regierte Bruder Graul, zu dem ich nie ein gutes Verhältnis bekam. Bevor ich das Schweizerhaus mit den Zöglingen übernahm, gab Graul Arbeitsanweisung, in der Erziehung habe nur er das Recht der Züchtigung. Nun wurden bei uns ja auch Brüder von Zöglingen verprügelt. Dies Glück wollte ich mir ersparen und regierte im Schweizerhaus so mit den Zöglingen, dass wir ganz gut miteinander auskamen. Einmal bekam ein ganz fieser Bursche doch mal eine Tracht Prügel, weil er etwas geklaut hatte, was er nicht wieder hergeben wollte. Die gestohlene Uhr fanden wir aber in einem Lampenschirm. Einmal holte ich einen Zögling bei Rendsburg ab, der ausgekniffen war. Man musste schon höllisch aufpassen, dass er unterwegs nicht wieder abhaute. Wir arbeiteten auf dem Feld und mussten Mist ausstreuen. Im Winter wurde in der Scheune gedroschen. Es gab auf dem Hof immer etwas zu tun.

Weihnachten hatte ich Urlaub und konnte bei Gabriels schlafen. Das Fest verlebte ich dort in der Familie. Lisas Großmutter in Billstedt lernte ich dabei auch noch kennen. Es ging zurück auf den Kattenhof, den Bruder Graul mit Erfolg gegen die Eingliederung verteidigte.

Plötzlich kam der gefürchtete Musterungsbefehl. Ab nach Kaltenkirchen: Untersuchung, und es hieß: KV, d. h. kriegsverwendungsfähig. Was lag nun wieder in der Luft? Hatte dieser Blödmann, oberster Kriegsherr Hitler, schon wieder was neues im Sinn?

1940

Der Winter war nicht sehr streng; Eis und Schnee gab es, aber man konnte damit zurechtkommen. Ab und zu bekam ich Wochenendurlaub. Dabei sprachen Lisa und ich uns ab, es möge zu Ostern 1940 zu einer Verlobung kommen. Erst einmal mussten die Eltern gefragt werden. So gab ich mir nach altem Brauch einen Ruck und bat die Eltern um die Hand ihrer Tochter Lisa. Weil ich kein unbeschriebenes Blatt mehr für die Eltern war, konnte man schon „ja“ sagen, auch wenn meine finanziellen Verhältnisse gleich null waren. Die Ausbildung war ja noch nicht abgeschlossen, immerhin war ich Diakonsschüler. Man lachte uns deshalb nicht aus. Auch später auf unserer Heiratsurkunde ist „Diakonsschüler“ vermerkt. Warum? Gründe kamen Jahre danach. Also, die Verlobungsfeier wurde auf den 24.3.1940 gelegt, vorher wurden die Ringe angeprobt und bestellt. Mein Freundschaftsring mit dem Kreuz wurde eingeschmolzen und mit einer Zugabe von Gold oder allerlei Ringen wurden die Ringe von Onkel Paul, der Goldschmied war, hergestellt. Das eingeschmolzene Kreuz hat später immer in unserer Ehe die entscheidende Rolle gespielt.

Zu Ostern bekam ich vom Kattenhofer Hof Urlaub, und mit unserem Kirchengang zur Martinskirche begann die Feier. Lisa hatte noch vorher bis in die Nacht Kuchen gebacken. Dabei habe ich versucht zu helfen und bei dem Ausstechen der Pasteten ein Glas zerbrochen. Zu Mittag gab es ein gutes Essen und Wein. Viele Tanten und Onkel waren gekommen, um dem jungen Paar und den Eltern zu gratulieren. Von meiner Seite konnte leider keiner kommen, dafür von Lisas Seite so reichlich, dass ich durch diese große Verwandtschaft nicht durchsteigen konnte. Wenn man mir Zeit lässt, würde ich es auch mal schaffen, damit zurecht zu kommen.

Der Alltag kam wieder, und womit jeder Mann rechnen musste: Natürlich kam prompt der Einberufungsbefehl. Immerhin hatte ich Glück, denn nun hieß es, ich müsse mich am 6.05.1940, 18.00 Uhr, in der Böhm-Kaserne einfinden. Bevor es losging, waren mir noch ein paar Tage im Rauhen Haus vergönnt. Viele Brüder fehlten, andere protzten mit ihren Offiziersuniformen. Mir selber war es alles schnuppe: Hoffentlich ging diese ganze Chose bald vorüber. Wir aber sollten uns täuschen. Hitler ließ Norwegen und Dänemark besetzen und wer ahnte dies: Am 10. Mai 1940 ging der Feldzug gegen Frankreich los, darum die vielen Einberufungen. Der Emil Hitler brauchte Kanonenfutter. Natürlich blieb für uns kleine Leute vieles im Dunkeln. Wir als frisch gebackene Verlobte kosteten die Zeit bis zur Einberufung aus. Manchen Abend saßen wir in der Laube und sprachen über unserer gemeinsames Leben und was wohl werden würde. Hoffentlich ging alles bald vorüber. Wer ahnte aber, was in der Zukunft noch alles auf uns zukommen sollte. Unser Spruch war damals: „Der Herr ist unser Meister, er ist unser König und wird alles herrlich hinausführen.“ Wir haben es auf unser kleines Leben hin ausgelegt, auch wenn es heilsgeschichtlich auf das Evangelium von Jesus Christus hinführt. Wir aber hatten den Mut, uns mit einzuschließen. Im Rückblick auf unser beider Leben ist es tatsächlich zu der wunderbarsten Führung gekommen.

Hugo Wietholz – ein Diakon des Rauhen Hauses – Autobiographie

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