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3.3 Beeinträchtigter Sprachabruf als Teilsymptomatik bei akuten Aphasien
ОглавлениеDer Begriff Sprachstörung bezieht sich auf Störungen des intrapsychischem Sprachabruf (als Sprache in meinem Kopf) und auf Störungen der interpsychischen Verständigung (als das dialogische Miteinander). Auf der intrapsychischen Ebene sind Wort (W), Satz (S) und Text (T) die realen Einheiten der Verständigung. Phoneme, Morpheme, Lexeme und Konstituenten sind abstrakte Einheiten der Analyse und entfernen sich von der realen Kommunikation (vgl. Steiner 2016).
Absage an linguistische Feinanalysen
Aus dieser Perspektive sind linguistische Analysen in der frühen Phase der Aphasiediagnostik und -therapie eher verzichtbar. Dies entspricht auch der momentanen Empfehlung der Leitlinien für Aphasie (DGN 2012). Für die erste Orientierung bezüglich des Sprachverlusts braucht man keine abstrakt definierten linguistischen Feinheiten. Wir können uns auf die realen Einheiten der Verständigung konzentrieren. Die Fragen sind dann
• aus symptomatischer Sicht: Wie können die Beeinträchtigungen in den drei Verständigungseinheiten Wort, Satz und Text in zwei Sprachsystemen (Laut- und Schriftsprache, LS und SS) über vier Abrufmodalitäten (Perzeption, Produktion, Imitation, Transformation) sinnvoll beschrieben werden? Transformation meint dabei laut Lesen und Diktat schreiben als Transfer-Sprachleistung von Laut- zu Schriftsprache.
• aus diagnostischer Sicht: Wie interagieren die Beeinträchtigungen in den beiden Sprachsystemen und welche Ressourcen stehen in den vier Abrufmodalitäten zur Verfügung?
• aus therapeutischer Sicht: Wie können wir die Ressourcen in den vier Abrufmodalitäten ordnen für ein Sprachtraining und welche ersten Strategien zur Verständigung lassen sich ableiten?
Wenn man therapeutisch zurück zur Äußerung will, genügen gröbere Bruchstücke für das Konstruieren von Sinn zwischen den Dialogpartnern. Ein klassisches Sprachtraining im Sinne der traditionellen Aphasietherapie sollte auch in der Akutphase durch das therapeutisch begleitete Erproben von Strategien zur Verständigung für Primärbetroffene, Sekundärbetroffene bzw. für die primäre Gesprächsdiade ergänzt werden.
relevante Fragen an die Symptomatik
Die Ordnung der Symptomatik in einem zu bearbeitenden Einzelfall orientiert sich an folgenden zehn Fragen, die für die Therapieplanung, für die Prognose und für die Kommunikation im Rehabilitationsteam bzw. für die Schnittstelle der Übergabe in die Nachbehandlung bedeutsam sind:
• Äußerungsmöglichkeiten: Kann sich der Patient verbal, paraverbal oder nonverbal mitteilen und, wenn ja, mit welchem Erfolg?
• flüssig versus nicht-flüssig: Ist die Spontansprache durch flüssige Mitteilungselemente gekennzeichnet oder durch unflüssige, suchende, stockende Fragmente und in welchem Maß sind diese verstehbar? Wir sehen es als eher unglücklich an, hier einen genauen Cut-off-Wert festzulegen, der flüssig von nicht-flüssig abgrenzt (bei Wallesch 1993, 60 Silben pro Minute; bei Peuser 1978, 100 Wörter pro Minute). Wir würden uns hier auf den subjektiven Eindruck verlassen, der beschrieben werden sollte. Jargon sollte aber deklariert werden.
• Laut- und Schriftsprache: Welche Möglichkeiten hat der Patient bezüglich der Schriftsprache und ist diese evtl. kompensatorisch für die Verständigung relevant?
• Rezeptiv versus produktiv: Gibt es eine deutliche Diskrepanz zwischen Verstehens- und Hervorbringensleistung? Wenn Sprachverständnisstörungen vorliegen, sind diese so schwerwiegend, dass bereits Instruktionen nicht sicher verstanden werden?
• ESPA (Elision, Substitution, Permutation, Addition): Was wird auf Wort-, Satz- oder Textniveau elidiert (ausgelassen), substituiert (ersetzt), permutiert (umgestellt) oder addiert (hinzugefügt)?
• Paradigmatisch und syntagmatisch: Sind die Probleme bei der Planung und Umsetzung sprachlicher Leistungen eher Auswahl- (paradigmatisch) oder Reihenfolgeunsicherheiten (syntagmatisch)?
• Segmental und suprasegmental: Sind die sprachlichen Fehlleistungen nur den einzelnen Segmenten (Phoneme, Grapheme, Morpheme, Konstituenten) zugeordnet oder betreffen sie auch Rhythmus (Betonung) und Melodie der Sprache als zugrundeliegende Basis?
• Zusammenfassung des Schweregrads: Kann im Moment von einer schweren, mittelschweren, leichten oder von einer noch abzuklärenden Restsymptomatik nach Spontanremission gesprochen werden?
• Zusammenfassung der Hemmnisse und Ressourcen: Welche Probleme stehen im Vordergrund? Welche Fähigkeiten (z. B. Umgang mit digitalen Medien) können für die Rehabilitation genutzt werden? Wie kann das persönliche Umfeld miteinbezogen werden?
• Therapieplanung: Wie lässt sich die komplexe und eventuell diffuse Symptomatik auf drei wesentliche Arbeitsschwerpunkte der Therapie reduzieren?
Ordnung der Schwere der Symptome
In den gängigen Lehrbüchern (vgl. stellvertretend Schneider et al. 2014, Huber et al. 2013 sowie Eibl 2019a) findet sich ein Katalog der Symptome mit der Nennung der entsprechenden Fachbegriffe. Dabei geben einige Symptome einen klaren Hinweis darauf, dass es sich um eine schwere Beeinträchtigung handelt, die, wenn sich in den ersten Tagen keine deutliche Besserung zeigt, auf eine ungünstige Prognose verweisen können. Nachfolgend haben wir die Symptome in die dichotome Einteilung leichtes versus schweres Symptom gebracht. Selbstverständlich ist hier das Kontinuum fließend und keine Trennlinie zu ziehen.
Tab. 1: Liste ausgewählter klassischer aphasischer Symptome, die auf eine leichtere oder schwerere Symptomatik verweisen
prinzipiell leichteres Symptomprinzipiell schwereres Symptom
Agrammatismus
Die sprachlichen Symptome akuter Aphasien sind mit denen der chronischen Phase zu vergleichen, sodass wir hier zur Vertiefung auf die einführenden Werke in die Aphasie verweisen (vgl. stellvertretend Bartels & Siegmüller 2011; Schneider et al. 2014; Huber et al. 2013; Tesak 2006). Ob es tatsächlich typische Symptome gibt, die nur für die Akutphase oder nur für die postakute Phase gelten, ist nicht ganz klar und eventuell auch nicht besonders relevant. Diskutiert wird der Agrammatismus als klassisches aphasisches Akut-Symptom. Aber auch dies ist nicht eindeutig: Während Nobis Bosch et al. (2013) und Springer et al. (2000) dieses Symptom als typisch für die Akutphase bezeichnen und mit einer eher guten Prognose verbinden, postuliert Wallesch (1993) das Fehlen dieses Symptomes in der Akutphase.
Klassifkation?
Die Klassifikationsfrage sollte inzwischen als obsolet betrachtet werden. Die Zuschreibung BROCA, WERNICKE oder eben dann auch »nicht klassifizierbare Aphasie« besitzt keine entscheidende Relevanz für die Therapieplanung (vgl. Steiner 2016 sowie Greitemann 2016). Die Planung einer Aphasietherapie folgt dem Schweregrad, den Symptomen und den Ressourcen. Aus therapeutisch-praktischer Sicht ist das Individualsyndrom mit einer zusammenfassenden Deskription mit Hilfe der oben aufgeführten zehn Ordnungspunkte der Symptomatik bzw. unter Bezugnahme auf die Tabelle 1 oben sinnvoll und entbindet von einer Einteilung in Standard- bzw. Sonderform-Syndrome. Den therapeutischen Fachpersonen geht es um Ressourcen und Defizite mit einer Bewertung von Schweregrad und Arbeitsschwerpunkten sowie um die Wirkungszusammenhänge und nicht um eine Eindeutigkeit der Etikettierung.
Prognose
In der frühen Therapie der Aphasie ist es sehr wichtig, Mut zu machen und Hoffnung zu geben. Aussagen zur Prognose sollten eher vermieden werden oder mit großer Behutsamkeit und dem Hinweis, dass die Prognose zunächst einmal offen sei, gemacht werden. Sicher ist es so, dass Art und Ausmaß der Schädigung bzw. eine Schädigung mit progredienter Komponente, das Ausmaß an Begleitstörungen, ein Verdacht auf eine Depression, Orientiertheitsprobleme, eine Lebenssituation mit einem schwachen sozialen Netzwerk, initialer Mutismus über die ersten drei Tage hinaus und andere Symptome, die auf Schwere verweisen (vgl. Tab. 1), Hinweise sind, die auf einen prinzipiell ungünstigen Verlauf verweisen.