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3.5 Mehrsprachigkeit

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Migration ist ein reguläres gesellschaftliches Phänomen. Die Flüchtlingsdebatte hat einen prominenten Stellenwert in der Diskussion, wie sich die Gesellschaft verändert. Globalisierung und Digitalisierung führen zu einer Vereinheitlichung und zu einem Näherrücken der Länder. Kultur ist zu einem großen Teil Sprachkultur. Multikulturalität bedeutet ein multilinguales Zusammenleben.

Babylon

Für alle Arbeitsbereiche der Logopädie, also auch für die frühe Aphasiebehandlung, ist es gut, die verschiedenen Sprachen zu ordnen:

• Die Muttersprache (L1) spricht der Sprachnutzer ohne jede Übersetzungsleistung.

• Die Bildungssprache (L2 = Schriftdeutsch) ist vorgeschrieben in der Schule und in Teilbereichen des öffentlichen Lebens und ist teils nicht wählbar.

• Die Umgebungssprache (L3 = z. B. Schweizerdeutsch, teils = L1) ist die erwartbare Sprache der Umwelt.

• Der Begriff Familiensprachen ordnet, wer mit wem in welcher Sprache im häuslichen Milieu spricht,

• Die Landessprachen sind behördlich definiert.

• Eine Fremdsprache ist eine Verkehrssprache zur Verständigung, die in der Schule oder später gelernt wird.

Auch eine Vielzahl von Menschen ohne Migrationshintergrund ist damit mindestens zweisprachig.

Wenn der Grad der Vertrautheit mit der Sprache, die Bedeutung für die Alltagskommunikation und die emotionale Verbundenheit mit der Sprache hoch ist, sollten wir von Primärsprache sprechen. Das kann eine Sprache sein oder es sind mehrere; das kann die Muttersprache sein, aber nicht zwingend. Zwingend ist aber auf jeden Fall, sich im familiären, im partnerschaftlichen, im beruflichen und im öffentlichen Alltag zurechtzufinden. Von daher haben auch mehrere Sekundärsprachen eventuell eine hohe Bedeutung für den Betroffenen und die Mitbetroffenen nach einer Aphasie.

Remissionserwartung

In der Geschichte der Aphasiologie ist immer wieder gefragt worden, wie mehrere Sprachen im Gehirn gespeichert sind (vgl. Eibl 2019a), um daraus abzuleiten, inwiefern der Verlust von sprachlichen Leistungen einer Gesetzmäßigkeit folge. Hierzu gibt es noch heute zwei Thesen, die beide ihre Berechtigung haben:

• Die früh gelernte Sprache bleibt teils eher erhalten.

• Die vertraute, emotional bedeutsame, im Alltag benutzte Sprache bleibt teils eher erhalten.

Die Generalisierung, dass die Muttersprache zwingend die emotional bedeutsamste, die umgebungsrelevanteste, gebrauchshäufigste und die resistentere Sprache bei Menschen mit bi- oder multilingualem Hintergrund sei, ist in jedem Falle nicht haltbar. Möglicherweise gibt es ein übergreifendes Sprachwissen als Basis bzw. Verbindungsklammer für alle erlernten Sprachen (common underlying competence). Dieses Sprachwissen steht der Performanz in allen Sprachen zur Verfügung. Es fungiert als gemeinsame metasprachliche Wissensbasis, die die Primär- und Sekundärsprache(n) unterstützt.

Sprachüberschneidungs-Symptome

Erwartbar sind bezüglich des Sprachabrufs, der in der klassischen linguistisch orientierten Aphasietherapie im Zentrum der Bemühungen steht, Fehlleistungen, die sich durch Sprachvermischung erklären lassen (interlinguale Störprozesse). Zu dieser Vermischung kann es auf phonologischer, semantisch-lexikalischer und morphosyntaktischer Ebene kommen, und es zeigen sich Auslassungen, Ersetzungen, Umstellungen und Hinzufügungen verschiedener linguistischer Einheiten aus zwei oder eben aus mehreren Sprachen.

Parallelität

Nach Paradis (2004) ist davon auszugehen, dass wir im Kontext einer Bilingualität eine parallele Rückbildung (beide Sprachen erholen sich) in drei Viertel der Fälle erwarten dürfen. Bei den anderen Patienten erfolgt die Rückbildung für beide Sprachen unterschiedlich (differentielle Rückbildung). In wenigen Fällen erholt sich nur eine Sprache und die andere Sprache stagniert in der Rückbildung oder die Kompetenz verschlechtert sich, aber eben nur für diese eine Sprache.

Im Rahmen der akuten Aphasien ist davon auszugehen, dass sehr viele Patienten mehrere Sprachen sprechen, dass im deutschsprachigen Raum etwa jeder achte Fall (für Deutschland und Österreich) bzw. jeder vierte Fall (für die Schweiz) von Aphasie Menschen betrifft, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, und dass eine Reihe von diesen Patienten nur bedingt sicher im Lesen und Schreiben ist.

Zusammenfassung

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass eine Unterscheidung der akuten und postakuten Situation des Begriffs »Aphasie«, die bisher in den Lehrbüchern nicht gemacht wird, und eine nochmalige Untergliederung der Akutphase in sehr frühe, frühe und späte Akutphase in mehrerlei Hinsicht therapeutisch bedeutsam ist:

• Die Summe an Symptomatik ist groß, stark fluktuierend und muss unter großem Zeitdruck bewältigt werden. Diagnostik findet erst einmal grob statt. Therapeutische Interventionen und Beratung/Coaching der Primär- und Sekundärbetroffenen stehen im Vordergrund. Erst im Verlauf der späten Phase stellt sich hier eine stabilere Symptomatik ein, die genauer diagnostiziert werden kann und in Absprache mit dem Aphasiker und seinen Bezugspersonen zu Zielsetzungen auf Aktivitäts- und Partizipationsebene führen.

• Auch eine diskrete Symptomatik ist in der Akutphase einer Aphasie zu beachten; es existieren alle Schweregrade. Das heißt, dass auch subjektiv empfundene kommunikativ-dialogische Hemmnisse und Restsymptomatik ernst genommen und behandelt werden sollten.

• Die Klassifikationsfrage sollte inzwischen als obsolet betrachtet werden. Den therapeutischen Fachpersonen geht es um Ressourcen und Defizite mit einer Bewertung von Schweregrad und Arbeitsschwerpunkten sowie um Verständnis der Wirkzusammenhänge und nicht um eine Eindeutigkeit der Etikettierung.

• Die Facetten Basisfunktionen, Sprachabruf und Dialog sowie die Berücksichtigung weiterer Personen außer dem Primärbetroffenen (andere Patienten, primäre Gesprächspartner, Umfeld) spielen in unterschiedlichen Settings (Einzeltherapie, Gruppentherapie, Coaching und Beratung) in jeder Phase eine Rolle.

• Basisfunktionen, Sprachabruf und Dialog sollten im günstigsten Fall interprofessionell v. a. in Kooperation mit Neuropsychologie und Logopädie im Netzwerk Sprache-Kognition-Gedächtnis-Aufmerksamkeit angegangen werden.

• Die frühe Aphasiebehandlung ist ein hochkomplexes Arbeitsfeld, in dem diagnostische und therapeutische Prozesse im multidisziplinären Team des Nebeneinanders, Nacheinanders und Miteinanders gut abzustimmen sind.

• Mehrsprachigkeit verkompliziert nicht wesentlich die Planung für das diagnostische und therapeutische Procedere. Das Verhältnis der umweltbezogen geforderten, der individuell bedeutsamen und der tatsächlich praktizierten Sprachen sollte aber für die Sprachen in der Therapie einbezogen werden.

Wer in der Akutphase der Rehabilitation der Aphasie arbeitet, braucht ein breites fachliches Wissen, das über Sprache und Kommunikation hinausgeht. Dieses fachliche Wissen betrifft teils andere Disziplinen. Je mehr die einzelnen Disziplinen ihre Grenzen auflösen und Einladungen für einen Kompetenztransfer bieten, desto besser funktioniert das Team als Ganzes. Teamprozess, Intervention und Supervision sollten im Klinikalltag von der Klinikleitung unterstützt, fest etabliert und Teil des Qualitätsverständnisses sein.

Frühe Aphasiebehandlung

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