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2 Akute Aphasien – ein besonderes Arbeitsgebiet Simone Jehle & Jürgen Steiner
ОглавлениеDas Arbeitsgebiet akute Aphasie ist ein Teil des Arbeitsgebietes Aphasie. Allgemeines Wissen über Aphasie ist die Basis zum Verstehen und Handeln für Aphasietherapeuten in der Akutphase. Grundlagen der Ätiologie, Prognose, aphasische Symptome usw. sollen in diesem Buch nicht dargestellt werden. Hier liegen sehr gute Einführungen vor, die wir voraussetzen (vgl. stellvertretend Tesak 2006; Huber et al. 2013, Schneider et al. 2014).
Informationsbedarf
Die Einführungen zur Aphasie sowie jene Abschnitte der Lehrbücher, Lexika, Handbücher, Kompendien und Leitfäden für die Logopädie, die Aphasie zum Thema haben (vgl. stellvertretend Bartels & Siegmüller 2011; Grohnfeldt 2007; Grohnfeldt 2014), zeigen, dass die Besonderheiten der akuten Phase eher am Rande erwähnt werden. Dies gilt dann auch für die Leitlinien (vgl. Ziegler 2000).
Modelle und Konzepte für die jeweilige Phase der Fallbearbeitung (vgl. Steiner 2020) sowie Qualitätsvorstellungen, die für die postakute Phase wichtig sind, können nur bedingt für die Akutsituation angewandt werden. Tools für die Kontexterfassung, Diagnostik, Therapie und Beratung sowie Evaluation für die postakute Phase sind nur bedingt für die akute Phase relevant. Meier & Wiederkehr (2019) verweisen darauf, dass die Recherche zu Logopädie bezogenen Qualitätsvorstellungen oder Handlungsempfehlungen auf den Ebenen international, national und institutionell für die Akutphase der Aphasiebehandlung sehr bescheidene Ergebnisse zutage fördert.
Orientierung geben Nobis-Bosch et al. (2013). Hier werden die Phasen der Aphasiebehandlung sinnvoll eingeteilt in
• sehr frühe Akutphase (Tag 0–4),
• frühe Akutphase (Tag 5–14),
• späte Akutphase (Tag 15–Woche 4 bzw. 6),
• frühe Postakut-Phase (ab 5. bzw. 7. Woche),
• späte Postakut-Phase (bis 1 Jahr).
Des Weiteren geben Nobis-Bosch et al. (2013) einen ausführlichen Überblick zu klinischen Grundlagen, zur ICF in der Rehabilitation bei akuter Aphasie sowie deren logopädische Diagnostik und Therapie. Das Ganze wird im Rahmen der Therapie durch konkrete Fallbeispiele aller Schweregrade praxisnah abgerundet. Leider wird die alltagswichtige Textebene komplett vernachlässigt. Diese ist im Klinikalltag insbesondere deshalb wichtig, da vermeintlich leichtaphasische Patienten Einwilligungen in invasive Behandlungen oder Diagnostiken selbst unterschreiben müssen, was nicht selten ein komplexes Textverständnis voraussetzt.
Die Intention dieses Buches ist, auf der Grundlage von Nobis-Bosch et al., die Sonderstellung der akuten Aphasie im Allgemeinen und im Besonderen in Diagnostik und Therapie, unter Berücksichtigung der Dreiteilung Basisfunktionen – Sprachabruf – Dialog, alltagsnah und realistisch darzustellen.
In Anlehnung an die Definition der Aphasie in Steiner (2016) lässt sich die Situation der akuten Aphasie wie folgt beschreiben: Aphasie verändert die Lebenssituation eines Betroffenen drastisch. Der plötzliche Eintritt verschiedener, teilweise weitreichender Probleme wird von den Betroffenen und Mitbetroffenen als bedrohlich erlebt. Der Verlust der Sprachfähigkeit ist ein Teil der Problematik. Er ist zu sehen im Gesamtkontext interagierender körperlicher, psychischer und sozialer Beeinträchtigungen.
Teil des Ganzen
Aphasietherapie in dieser akuten Phase ist Teil des Gesamtkontextes zur aktuellen Stabilisierung des Patienten und zur Vorbereitung weiterführender Maßnahmen. Die logopädische Intervention kann je nach Art und Ausmaß sehr unterschiedlich aussehen, je nachdem, auf welchen Ebenen welche Störfaktoren wie interagieren. Diese bilden die Hintergrundprämissen des Handelns. Mit Ebenen der Störfaktoren ist gemeint:
• Basisfunktionen: Sprache abzurufen und mit Sprache zu handeln setzt eine größtenteils intakte Informationsverarbeitung bzw. Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, (geteilte) Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnis einschließlich Kontrollfunktionen (exekutive Funktionen) voraus.
• Sprachabruf: Unterschiedliche Elemente (Phonem, Graphem, Silbe, Lexem, Morphem u. a.) müssen für die Benutzung der Laut- und Schriftsprache in einem Prozess von Auswahl und Reihenfolge verarbeitetet werden. Störprozesse können in verschiedenen Modalitäten (Verstehens-, Hervorbringungs-, Nachahmungs- und Umformungsleistungen) unterschiedlich stark ausgeprägt sein.
• Dialog: Für die Verständigung braucht es den automatisierten Umgang mit verschiedenen linguistischen Einheiten, um sich auf Wort-, Satz- und Textebene bewegen zu können. Für gelingende Gespräche braucht es darüber hinaus Organisation und Kooperation mit einem Gegenüber.
• Begleitstörungen : Nach einem Ereignis, das eine Hirnschädigung verursacht, gibt es eine Hierarchie der Maßnahmen: Die Medizin nimmt den Auftrag wahr, den lebenserhaltenden Maßnahmen und der Verhinderung eines neuen Ereignisses (Schlaganfall) oberste Priorität einzuräumen. Für die Logopädie steht die Aphasietherapie im zweiten Rang, wenn eine routinemäßige Abklärung möglicher Schluckstörungen Hinweise auf eine Dysphagie liefert.
Herausforderung
Die Interventionsplanung der Aphasietherapie in der Akutphase erfolgt unter erschwerten Bedingungen. Gleichzeitig haben Entscheidungen ein hohes Gewicht, weil die Erstdiagnose und der Bericht zur Übergabe für eine eventuelle Weiterbehandlung die Weichen stellen. Die erschwerten Bedingungen zeigen sich durch
• die fluktuierende, komplexe Symptomatik mit vielfältigen neuropsychologischen Begleit-Symptomen; als Standard-Begleitung kann von einem teils instabilen medizinischen Status, einer reduzierten Belastbarkeit und einer reduzierten Aufmerksamkeit ausgegangen werden;
• die schwierige Logistik einer möglichst intensiv zu planenden Intervention vor dem Hintergrund einer variierenden und bzw. oder schwer einschätzbaren Belastbarkeit und täglich anfallenden medizinischen Untersuchungen mit Priorität;
• die limitierte (Zeit-)Dauer des Aufenthaltes, die nur eine orientierende Erfassung von Kontext und Diagnostik als Grundlage für Therapieplanung und -umsetzung ermöglicht;
• den Zeitdruck für das Gesamtteam, der den notwendigen interdisziplinären Austausch erschwert;
• den durch Zeitmangel schwer einlösbaren Anspruch einer guten Übergabe an die Weiterbehandlung;
• die sehr anspruchsvolle Situation, kompetent hinsichtlich kommunikativer Anpassung zu beraten oder auch Hinweise zur Aktivierung für die Mitbetroffenen zu geben, da diese schockbedingt in ihrer Aufnahmefähigkeit eingeschränkt sind;
• die erhöhten Anforderungen hinsichtlich der Dokumentation, die seitens der Kostenträger mit den Kriterien eindeutig und umfassend versehen sind. Der Hintergrund ist, dass Veränderungen erkannt, kommuniziert und dokumentiert werden sollen – zumal Therapeutenwechsel im Kontext der Stroke Unit durch die Maßgabe der täglichen Behandlung die Normalität sind;
• die Schwierigkeit, auch leichte Aphasien mit diskreter Problematik bei oft falscher Selbsteinschätzung des Patienten zu erkennen; gerade hier besteht die Gefahr, dass Betroffene durch das Netz fallen und eine notwendige Weiterbehandlung nicht initiiert oder verzögert wird. Dies gilt auch für passagere Aphasien mit vorübergehender Problematik. Erschwerend kommt hinzu, dass man aus Sicht der Akutphase gar nicht vorhersagen kann, welches Symptom passager sein wird.
Die erschwerten Bedingungen nehmen Einfluss auf das Bearbeiten der Situation durch die Therapeutin, auf das Zusammenarbeiten der Professionen und auf das Verarbeiten der Betroffenen.
Problem der nicht erkannten aphasische Symptomatik
Den zuletzt genannten Punkt möchten wir noch einmal hervorheben. Gerade Patienten, die leicht betroffen sind bzw. deren diskrete Symptomatik sich vor allem durch subjektives Klagen einer Leistungseinbuße zeigt, sollten sehr ernst genommen werden. Unter dem Druck vieler Behandlungstermine bei knapp zur Verfügung stehender Zeit werden solche Patienten aber teils nur oberflächlich untersucht und stellen dann erst beim Wiedereintritt ins Berufsleben fest, dass sie doch erhebliche Defizite haben. Ein Beispiel für solch ein schlecht zu erkennendes Defizit ist eine Störung des Textverständnisses, die kein Akuttest prüft und damit eventuell unerkannt bleibt, aber im Berufsleben sowie Alltag (z. B. Dokumente von Versicherungen) eben hochrelevant sein kann. Gerade diese Patienten sind nur wenige Tage im Krankenhaus und für sie ist aufgrund fehlender, schlecht dokumentierter oder nicht diagnostizierter Defizite keine Anschlussheilbehandlung geplant. Im Entlass-Arztbrief wird Logopädie als nicht (mehr) nötig eingestuft. Wenn der Patient seinem Hausarzt über Probleme berichtet, wird dieser aus Kompetenzgründen zum Neurologen überweisen, der den Patienten erst nach mehreren Monaten zum Termin bittet. Wenn der Neurologe dann Logopädie verordnet, muss er dies durch Revision des Abschlussberichtes tun. Auf jeden Fall geht wertvolle Zeit verloren.
Ein ähnliches Problem kann bei einer karotisassoziierten TIA (transischämische Attacke) oder PRIND (prolongiertes reversibles ischämisches neurologisches Defizit) mit passagerer Symptomatik auftreten. Nicht selten wird dann bei unbeeinträchtigter Spontansprache der Patient mit der Dokumentation keine Aphasie aus der Behandlung entlassen, ohne dass die Schriftsprache getestet wurde. Nachfolgend wird der Patient einer Carotis-OP unterzogen, wobei es postoperativ zum Apoplex kommen könnte. Nachfolgender Untersucher kann nun nicht mit Sicherheit sagen, ob die nunmehr bestehende Agraphie durch die Operation kam oder bereits nach der passageren Aphasie noch bestand, da die Schriftsprache initial nicht abgetestet wurde. Dies wäre allerdings enorm wichtig, um weitere entscheidende medizinisch-diagnostische und/oder therapeutische Handlungen einleiten zu können. Eine weitere Schwierigkeit ist, dass sich manche Störungen zunächst gar nicht objektivieren lassen und nur durch Alltagssituationen ans Licht kommen. Hiermit sind unter anderem Kommunikationsprobleme in Konferenzsituationen gemeint.
medizinisches Wissen als Holschuld
Eine weitere Besonderheit der Arbeit in der Akutphase der Rehabilitation ist, dass spezifisches medizinisches Wissen gefragt ist, das als Voraussetzung für jede Therapie zum Wissensfundus gehören muss. Als Beispiel sei hier der Komplex Tonus, Haltung bzw. Lagerung genannt. Sie spielen bei der Aphasie aufgrund einer eventuell begleitenden Parese häufig eine Rolle. In der akuten Phase ist dieser Komplex aber nicht nur unter anderem zu beachten, sondern von immenser Bedeutung, weil er Wachheit und Aufmerksamkeit beeinflusst und somit Therapie erst ermöglicht. Die Patientenleistung gegenüber vielen Anforderungen ist dann deutlich besser. Zum Wissen über Lagerung gehört auch, dass bestimmte Aktionen zur Lagerung kontraindiziert sein können. Patienten nach der Goldstandardbehandlung des schweren ischämischen Schlaganfalls (siehe Leitlinie der DGN, 2016) oder der mechanischen Thrombektomie (ca. 16.000 von 250.000 Pat. = 6,4 % jährlich in Deutschland) dürfen nicht oder nur in geringem Umfang verändert gelagert werden. Dies gilt in der Regel für die ersten 24 Stunden. Bei Patienten, deren Apoplex einen Sturz auslöste, können in der Folge Wirbelkörperfrakturen bestehen oder abklärungsbedürftig sein. Weitere Patienten erhielten eventuell eine externe Ventrikeldrainage, die nach veränderter Kopflagerung neu kalibriert werden muss. Auch in diesen Fällen gibt es eine entsprechende Kontraindikation. Die Ärzte sollten hier warnende Instruktionen geben; gleichzeitig müssen Logopädinnen und Logopäden davon ausgehen, dass sie in der informativen Holschuld sind. Auch Anleitung zum Umgang mit medizinischen Gerätschaften gehört zu dieser Holschuld. Die Beispiele zeigen, dass in der Akutphase besonderes Hintergrundwissen unabdingbar ist.
Folgende Bereiche, die nicht in die klassische Logopädieausbildung gehören, fallen gemäß den Vorgaben der Deutschen Schlaganfallgesellschaft ebenfalls in den Aufgabenbereich von Sprachtherapeuten, die auf einer Stroke Unit arbeiten. Wenn logopädische Praxen eine Stroke Unit oder auch eine Reha-Klinik als externer Anbieter mitversorgen, ist dies zu berücksichtigen. Die Zertifizierungsrichtlinien setzen entsprechende Fortbildungen und aktuelles Wissen voraus:
• Medizinproduktegesetz,
• Reanimationsmanagement,
• Datenschutz,
• Brandschutz,
• Risikomanagement und
• Hygienemanagement.
Gesteigerte Ansprüche an das Wissen bei gleichzeitig vielen Unwägbarkeiten begleiten somit die logopädische Handlungsplanung. Good Practice bzw. Qualität sind dennoch das angestrebte Ziel. Von Beginn der Rehabilitation an soll Wirkung für die Betroffenen und auch für die Mitbetroffenen erzielt werden. Patientenzentriert vorzugehen heißt nicht nur klassische Therapie, eine qualifizierte Beratung ist gefragt. Die Patienten und Angehörigen haben direkt nach dem Ereignis einen erhöhten Informationsbedarf. Alle Aussagen, Aktionen und im Besonderen Diagnosestellungen, die hier getätigt, dokumentiert und kommuniziert werden, haben Gewicht und prägen über den Arztbrief die Folgemaßnahmen. Fehldiagnosen oder ein falsch-positiver Status keine Aphasie werden übernommen und laufen Gefahr, nicht oder zu spät korrigiert zu werden.
Institutionalisierung
Inzwischen gibt es im deutschsprachigen Raum Stroke Center oder Stroke Units mit einem multiprofessionellen Team. Mit dieser Einführung hat sich die Sterbensrate und die Häufigkeit eines Re-Apoplexes verringert. Hochfrequente medizinische Kontrolle, die Möglichkeit, neurochirurgische Maßnahmen durchzuführen, eine auf die besondere Situation ausgerichtete Pflege und frühe Therapien sind wesentliche konstituierende Merkmale. Die Vorbereitung der Weiterbehandlung wird ebenfalls als wichtige Aufgabe angesehen. Die Logopädie ist obligatorischer Teil des Teams.
In der Schweiz gibt es acht Stroke Center und elf Stroke Units. In Österreich gibt es 39 Stroke Units an 36 Krankenhäusern (Krankenhaus Hietzing mit neurologischem Zentrum Rosenhügel in Wien beherbergt gleich 3 Stroke Units) (BMSGPK 2020). In Deutschland wird zwischen der überregionalen, regionalen und telemedizinisch vernetzten Stroke Unit unterschieden. Mittlerweile gibt es dort 328 zertifizierte Stroke Units (DSG 2019).
Zusammenfassung
Die Diagnostik und Therapie akuter Aphasien kann nicht einfach mit kleinen Ergänzungen versehen bei der Diagnostik und Therapie in der postakuten Phase eingeordnet werden. Das besondere Aufgabengebiet benötigt besondere Aufmerksamkeit, die es in gängigen Lehrbüchern nicht ausreichend erhält. Deshalb kann die Logopädie-Ausbildung eine Vorbereitung auf das Arbeitsgebiet nicht wirklich leisten. Benötigt wird hier ein erhebliches Maß an Zusatzwissen, um kompetent in der frühen Behandlungsphase zu agieren. Dazu gehört auch das Verstehen der medizinischen Gesamtsituation und eine Vorstellung von den Voraussetzungen und Möglichkeiten der anderen Professionen im Team (Pflege, Therapien). Es braucht darüber hinaus ein besonderes Einfühlungsvermögen und eine Haltung, die Sicherheit und Hoffnung ausstrahlt. Vor allem auch, weil die Patienten durch den plötzlichen Einschnitt äußerst belastet sind. Eine Haltung der Sachlichkeit und gleichzeitig des Einfühlens sowie Sicherheit, Klarheit und Transparenz der Aktionen schafft Qualität für die Betroffenen.
Logopädinnen und Logopäden sind Teil eines Teams und müssen sich hier mit anderen Professionen gut abstimmen. Unter anderem ist es erforderlich, dass Untersucher beim Abschluss einer Therapie beschreiben, wie sie zu ihrem Urteil gekommen sind. In der ärztlichen Diagnostik ist dies längst Standard. Kein Neurologe und keine Neurologin würde im Arztbrief nur die Diagnose Apoplex aufführen, sondern auch CT Befunde und Ähnliches beilegen. Dieser Maßstab sollte auch für die logopädische Abteilung gelten.
In diesem Buch liegt der Fokus auf akuten Aphasien, wobei wir nur die Situation der Erwachsenen berücksichtigen. Ebenso gehen wir nur am Rande auf die besondere Situation der Aphasiebehandlung im Kontext der Mehrsprachigkeit ein; hier verweisen wir auf Steiner (2018a). Ausführungen zu medizinischen Hintergründen wie beispielsweise zu Ursachen sind in grundlegenden Werken nachzulesen (vgl. stellvertretend Eibl 2019a).