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Der vereitelte Aufbruch
ОглавлениеAls Ole am Mittwochmorgen das Gut bei Schönberg erneut am Ende des schmalen Waldweges auftauchen sah, war er enorm angespannt. Denn in den zurückliegenden Tagen hatte er sich immer wieder gefragt, wen er wohl mitnehmen wird und wie er mit ihr zurechtkommt, wenn er sie in den nächsten Tagen oder gar Wochen ununterbrochen, Tag und Nacht um sich haben wird. Wobei er jedes Mal ein wenig verlegen wurde, wenn er an die Nächte und die beengte Schlafsituation denken musste. Und nicht zum ersten Mal fragte er sich, wieso er nicht einfach nein gesagt hatte. Schon jetzt fühlte er sich gestresst, weil er schon jetzt seine mittlerweile lieb gewonnene Einsiedelei vermisste. So hielt er gedankenverloren direkt vorm Haupteingang, bevor er dreimal langgezogen die Hupe betätigte. Dann stieg er aus und lief um seinen Camper herum, um die Seitentür zu öffnen. Doch hatte er sie gerade erreicht, als er hinter sich eine nicht ganz unbekannte Stimme sagen hörte: „Tschulle, ich habe heute Morgen leider wieder mal verpennt und bin daher noch nicht ganz fertig für den Aufbruch. Magst du daher vielleicht noch kurz mit reinkommen und mit mir frühstücken?“
Fast wie in Trance drehte er sich daraufhin zu der Stimme hin, die daraufhin fortfuhr: „Ach, ich bin übrigens Lotta, hatte ich Sonntagmorgen ganz vergessen zu sagen, und du bist Ole, der Freund von Peter, richtig?“.
Ole wollte zuerst seinen Augen nicht trauen, als er die Person zur Stimme erkannte. Denn in der Tür stand tatsächlich sein blonder Engel, welcher ihn noch leicht verschlafen anlächelte und sich dabei erneut durch ihr kurzes, zotteliges Haar fuhr, jedoch wieder nur mit mäßigem Erfolg. Wobei sie dieses Mal ein gelbes ärmelloses T-Shirt trug, auf dem vorne in Glitzerrot ein spanischer Spruch aufgedruckt war, sowie einen kurzen, schwarz/rot karierten Minirock, eine Netzstrumpfhose und schwarze, leicht rötlich glänzende, schwere Stiefel. Beim Betrachten ihres heutigen Outfits bemerkte er sofort, dass sie fror und der fehlende Abdruck eines BHs unter ihrem engen T-Shirt, ließ ihn kurz an ihr erstes Treffen zurückdenken, weshalb er sich ein schelmisches Grinsen verkneifen musste.
„Und ich freue mich riesig, dass du mich mitnimmst!“, trat sie auf ihn zu, und küsste ihn kurz auf jede Wange einmal. Dann drehte sie sich um und ging wortlos zurück ins Haus.
Immer noch wie in Trance folgte Ole ihr, während er sich über seine eigene Kurzsichtigkeit ärgerte: Klar, die spanischen Bücher und Briefe! Als er wieder zu ihr aufsah, entdeckte er zu seiner großen Überraschung, auf der Rückseite ihres T-Shirts, einen ebenfalls nicht ganz unbekannten blinzelnden Smiley, der fröhlich seine Zunge herausstreckte. ‚Na, was hat denn das zu bedeuten?‘, stutzte er gerade verwundert, doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, waren sie schon in einer großen Wohnküche angekommen.
„Willst du vielleicht auch etwas essen?“, drehte sie sich fragend zu ihm um, wobei sie gerade Kaffee aus einer dampfenden Kanne in einen großen Becher umfüllte, welchen sie ihm dann ungefragt in die Hand drückte. Als er nonverbal, mittels Kopfschüttelns, verneinte, setzte sie sich an einen großen Tisch, der die Mitte des Raumes komplett einnahm und an dem locker 20 Leute Platz finden würden. Vor ihr auf dem Tisch stand eine große Schüssel mit Vollkornmüsli und ein identischer, aber halb leerer Pott Kaffee.
Während Lotta sich aus der Schüssel bediente, füllte Ole sich aus einer Karaffe vom Tisch eine gute Portion frische Milch in seinen Kaffee und verbrühte sich dennoch die Zunge, als er den ersten Schluck nahm. „Man, ist der heiß, aber echt lecker!“, sog er gut hörbar kühlende Luft ein und sah überrascht zu ihr auf.
„Ja, das ist er wirklich!“, lächelte sie mitfühlend zurück. „Weißt du, ich habe die Plantage vor ein paar Jahren mal besucht. Das war echt interessant dort, denn die rösten da immer noch selbst und ganz schonend. Daher hat er auch ganz wenig Säure, was man an den hellbraunen, nicht glänzenden Bohnen dort drüben im Glas erkennt. So etwas bekommt man wirklich selten zu kaufen!“, bekam Ole daraufhin eine unerwartet detaillierte Antwort.
Die Gedanken, die ihm daraufhin auf seiner leicht angebrannten Zunge lagen, schluckte er lieber mit dem nächsten vorsichtigen Schluck Kaffee hinunter. Stattdessen betrachtete er kurz das besagte Glas, bevor er versuchte, den verlegenen Small Talk weiter in Gang zu halten, umso mehr über seine zukünftige Mitfahrerin zu erfahren: „Oh, da kommst du aber rum! Maya sagte mir, du lebst auf den Kanaren. Was machst du denn da so?“
„Mm richtig, ich lebe dort“, nickte sie zustimmend und kaute dabei ihr Müsli genüsslich zu Ende, bevor sie ihren Satz beendete, „und zwar zusammen mit meinem Clan. Meine Eltern und ich betreiben dort ein kleines Restaurant, im Hafen von Valle Gran Rey.“ Dann steckte sie sich einen weiteren Löffel Müsli in den Mund, kaum dass sie geendet hatte.
„Oh echt, und Valle Gran Rey liegt auf?“, fragte er mehr mechanisch, während sich seine Stirn immer mehr in Falten legte, da ihm die ganze Situation gerade sehr verkrampf und befremdlich vorkam. Außerdem schwirrten ihm andauernd die Bilder von vorletztem Sonntag in seinem Kopfkino herum.
Lotta hingegen war sichtlich entspannter, während sie genüsslich zu Ende kaute. Erst dann beantwortete sie seine Frage: „Valle Gran Rey liegt im Westen von La Gomera.“
„Ah, La Gomera?“, grübelte er kurz laut, wobei er nicht den blassesten Schimmer hatte, wo sich diese Insel genau befindet, da er den Namen zum ersten Mal hörte. Doch wollte er sich dies nicht anmerken lassen. Daher sagte er schnell: „Dann sind deine Eltern und du also dorthin ausgewandert, wie spannend. Ich meine, du bist doch Deutsche, oder?“
Wieder kaute sie erst ihr Müsli genüsslich zu Ende, bevor sie ihm antwortete, was ihm ziemlich unruhig werden ließ. „Nein, ich bin dort geboren und somit Spanierin. Eine deutsche Staatsangehörigkeit haben meine Eltern nie für mich beantragt, warum auch.“
„Oh, dann sind deine Eltern also schon vor deiner Geburt ausgewandert. Man, das war bestimmt gar nicht so einfach! Ich selbst habe auch schon öfters mal darüber nachgedacht, wie es wäre auszuwandern. Jedoch fehlte mir bis jetzt immer die Initialzündung oder vielmehr, einfach der Mut.“
„Na ja,“, antwortete sie dieses Mal gleich, jedoch mit noch halbvollem Mund, „übers Auswandern habe ich eigentlich noch nie nachgedacht“, dann stockte sie, wobei zu Ende kaute. Erst dann fügte sie mit nun leerem Mund an: „Doch habe ich das Fernweh wohl von meinen Eltern geerbt. Daher reise ich in der Nebensaison auch gerne mal herum. Meist besuche ich dabei ein paar Freunde, sowie jetzt“, lächelte sie ein wenig schelmisch, bevor sie ihr Gesicht verzog: „Nur ist die Nebensaison für Norddeutschland leider die völlig falsche Jahreszeit. Denn an dieses feucht kalte Wetter zu dieser dunklen Jahreszeit gewöhne ich mich einfach nicht. Seitdem ich hier bin, friere ich und werde langsam depressiv. So müssen sich also Menschen fühlen, die nur sehr wenig die Sonne zu Gesicht bekommen!“
Bemüht nicht erneut auf ihr enganliegendes T-Shirt zu starren, tat er stattdessen überrascht: „Oh, du hast Freunde hier. Wie kam es denn dazu?“, legte er wie nebenbei seine Hand auf die ihre, um sie so am weiter essen zu hindern.
„Na, weil ich mit Dieter und Bianca aufgewachsen bin, bevor sie zurückmussten. Und über sie habe ich vor ein paar Jahren Maya kennengelernt und seitdem chatte ich regelmäßig mit ihr. Außerdem hilft sie uns seit 2 Jahren in der Hauptsaison im Restaurant. So wie auch in diesem Jahr wieder, wenn Bianca ihre Praxis für zwei Monate schließt, um in Goa ihre ayurvedischen Kenntnisse zu vertiefen. Tja, und da war ich halt irgendwann neugierig, wie sie und die anderen hier so leben.“
Während er noch über ein paar Begriffe nachdachte, die sie eben fallen gelassen hatte, fragte er ausweichend: „Und, wie lange warst du hier?“
Doch leider hatte er währenddessen seine Hand von ihrer genommen und sie gedankenverloren dazu genutzt, sein Kinn abzustützen, woraufhin sie genüsslich die nächste Fuhre Müsli zu Ende kaute, bevor sie antwortete: „Für Norddeutschland im Winter viel zu lange, zwei Monate, um genau zu sein!“
„Was, zwei Monate!“, stieß er überrascht aus, während er sich unauffällig bemühte, ihre Hand wieder einzufangen und dabei unschuldig anfügte: „Man, das ist aber echt lange, wurde es dir da nicht irgendwann langweilig?“
„Nö, ich habe doch während der ganzen Zeit für Nicole auf den kleinen Jonas aufgepasst. Ach, Jonas!“, schluchzte sie auf einmal, während sie ihre Hand einfach unter seiner herauszog, um sich eine Träne aus dem Augenwinkel zu wischen. „Entschuldige bitte, wenn ich an ihn denke, bin ich immer ganz gerührt. Denn der Kleine hat leider ein doofes Handicap. Da er sich bei der Geburt mit der Nabelschnur fast selbst stranguliert hatte!“, schaute sie ihn traurig an. Dann ergriff sie den verwaisten Löffel vom Tisch und füllte diesen mit der nächsten Fuhre Müsli, welche sie für ihn wie in Zeitlupe zum geöffneten Mund führte.
Den Löffel mit den Augen kritisch verfolgend, nickte er dennoch mitfühlend, wobei er wohlwollend feststellte, dass dies wohl die vorletzte Fuhre gewesen sein musste, da die Müslischüssel so gut wie leer war. Als daraufhin ihr gesagtes seine Aufmerksamkeit erreichte, kam er mit den ganzen Namen nicht mehr mit: „Oh, das ist ja großer Mist und wer ist jetzt Nicole?“
„Nicole ist die Tochter von Bianca, Jonas Mutter. Bis letzte Woche war sie in ihrem Ashram in Indien, um bei ihrem Guru zu meditieren“, klärte Lotta wenig später den Sachverhalt auf und fing an die Schüssel mit dem Löffel auszukratzen.
„Ah,“, stutzte er erneut, um das gesagte einzuordnen, während er ihre Bemühungen kritisch verfolgte. „Na, und da bist du quasi eingesprungen?“, fügte er dann jedoch schnell an, als sie gerade dazu ansetzte, den Löffel mit dem Restmüsli zum Mund zu führen.
„Klar, irgendwer musste sich doch um den kleinen Jonas kümmern und außerdem passt das doch sehr gut, da Maya ja bei Bianca beschäftigt ist“, sah sie ihn kurz irritiert an, bevor sie mit dem weitermachte, was sie eigentlich vorhatte.
,Logisch!‘, nickte er ebenfalls irritiert und kratzte sich dabei am Kopf, während er nachdenklich sein Gesicht verzog. Denn einen Ashram, Guru und Goa kannte er bis jetzt nur aus Reportagen im Fernsehen und auch dort waren ihm diese Dinge immer ein wenig suspekt.
Lotta, für die dies jedoch ganz normal war, sah ihn daraufhin kritisch an: „Wenn ich dich so ansehe, siehst du aber auch gerade recht verspannt aus. Vielleicht würden dir auch mal ein paar Atemübungen oder meditieren guttun!“, womit sie unbewusst eine Grenze bei Ole überschritt. Denn was andere Leute in ihrer Freizeit so trieben, interessierte ihn nicht. Zumindest so lange nicht, solange sie ihn nicht damit behelligten.
„Danke, gute Idee!“, raunte er daher bemüht freundlich, wobei er am liebsten aufgesprungen wäre, um jetzt sofort und ohne sie seine Reise zu beginnen.
Doch, ehe Ole handeln konnte, sah Lotta ihn fragend an: „Maya erzählte mir, du wolltest auf den Weg nach Barcelona, an der Mittelmeerküste entlangfahren. Das habe ich doch richtig verstanden, oder?“
Für diesen Themenwechsel dankbar, entspannte er sich wieder: „Ja, das hatte ich eigentlich vor! Aber ich kann dich wohl schlecht durch halb Frankreich zerren, oder?“
„Nicht, wieso denn nicht?“, starrte sie ihn auf einmal empört an. „Ich freue mich doch schon seit Tagen darauf! Denn Frankreich kenne ich bis jetzt nur vom Eisenbahnfenster aus und selbst von dort aus hat mich die Landschaft völlig fasziniert. Wie muss es dann erst direkt an der Mittelmeerküste sein?“, fingen ihre Augen wieder an zu strahlen.
„Dann macht es dir also nichts aus, mit einem Wildfremden und in beengten Verhältnissen durch Frankreich zu gondeln?“, wollte er ihre Aussage dennoch nicht ganz glauben.
„Nein, wieso?“, betonte sie diese Frage langgezogen und verwundert. „Und so fremd sind wir uns doch gar nicht! Na, da war es wohl Karma, dass Maya dich gerade in mein Bett gebettet hatte. Sag mal, glaubst du eigentlich an Karma?“
Ole verkniff es sich lieber erneut, das zu sagen, was ihm gerade auf seiner leicht verbrannten Zunge lag. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass sich sein Gesicht verfinsterte, denn er hasste es, wenn er das Gefühl bekam, verkuppelt zu werden. Stattdessen sagte er bemüht neutral: „Nö, daran glaube ich besser nicht. Ansonsten wüsste ich nämlich nur zu gerne, was ich den bloß in meinen vorherigen Leben alles so falsch gemacht habe?“
„Ja aber, das ist doch völlig egal! Denn da hast du doch gar keinen Einfluss mehr drauf. Viel wichtiger ist es doch, dass du deine gegenwärtigen Lebensumstände akzeptierst und das, was du in deinem jetzigen Leben unternimmst, um dieses mit positivem Denken und Handeln zu verbessern!“, beugte Lotta sich zu ihm vor und sah ihn durchdringend an.
Unsicher kratzte er sich erneut am Kopf, denn das war jetzt eindeutig genug Spiritualität für einen Tag. Dennoch fiel ihm in diesem Moment nichts Besseres ein, als zu sagen: „Tja, dann muss ich wohl mal pilgern gehen!“
„Ja klasse, warum nicht!“, stimmte sie begeistert zu, bevor sie nach einer Weile nachdenklich anfügte: „Doch, das ist eine echt tolle Idee. Das wird deinem Karma bestimmt sehr guttun und der Camino de Santiago in Spanien soll Anfang Mai am besten zu bewältigen sein“, wobei sie das Wort Spanien betonte und seine rechte Hand ergriff.
„Okay, dann lass mich dich aber vorher erst einmal in Barcelona abliefern. Wenn es dich also nicht stört?“
„Nein, und wie ist es mit dir,“, sah sie ihn offen an, „stört es dich vielleicht, wenn ich dich begleite?“, dabei schob sie ihm ihre leere Müslischüssel entgegen und sah ihn erneut durchdringend an.
„Nein, sonst wäre ich doch nicht hier!“, versuchte er ihrem Blick Stand zu halten, während seine Gedanken Achterbahn fuhren. Darum fügte er erst kurze Zeit später an: „Ein bisschen Abwechslung und ein paar neue Sichtweisen werden mir bestimmt guttun. Aber dir ist schon klar, dass mein Camper kein Gästezimmer hat.“
„Klar, kein Problem! So schlimm war dein Schnarchen ja auch nicht!“, lachte Lotta, was die Situation wesentlich entspannte.
Jedoch machte der Gedanke daran, ihn wieder etwas verlegen: „Nun gut,“, stammelte er daraufhin, „ich hatte mir tatsächlich überlegt, die Mittelmeerküste entlang, runter bis nach Spanien zu fahren. Nach Monaco vielleicht, dann weiter zur Côte d’Azur und dann immer weiter der Nase nach möglichst nah an der Küstenlinie entlang“, zählte er seine geplante Reiseroute auf, während er beobachten konnte, wie Lottas Augen wieder zu strahlen anfingen.
„Man, Monaco und Frankreichs Mittelmeerküste um diese Jahreszeit, hört sich großartig an! Hoffentlich ist es schon warm genug zum Baden. Gütige Göttin, wie schön!“, jauchzte sie, wobei sie freudig erregt aufsprang. „Gut, dann packe ich mal meine Sachen und verabschiede mich noch schnell von den anderen“, ging sie um den Tisch herum und gab ihn dankbar einen dicken Kuss auf die Wange. „Ich bin gleich zurück!“, rief sie, während sie zur Tür hinauslief.
Als Ole allein in der großen Wohnküche war, nahm er noch leicht benommen den letzten Schluck Kaffee, aus seinem riesigen Kaffeebecher, wobei er bemerkte, dass dieser vermeintlich milde Kaffee dennoch eine recht anregende Wirkung auf seine Verdauung hatte. ,Na Super!‘, stand er grummelnd auf, um ein Klo auf diesem riesigen Anwesen zu suchen.
Zu seinem Glück befand sich direkt gegenüber der Küche eine Tür, mit einem bunten WC-Zeichen. Erleichtert ging er hinüber und klopfte vorsichtig dagegen. Denn hier einfach eine Tür aufzureißen, war ihm nach seiner Erfahrung von Samstagabend viel zu heikel. Kurz verharrte er und als er von drinnen nichts vernahm, öffnete er die Tür und staunte erst mal kurz. Denn das Badezimmer war riesig, mindestens so groß wie die Wohnküche, nur viel verwinkelter, da es durch freistehende Wände und Pflanzen geschickt unterteilt wurde. Ganz hinten, hinter einer Abtrennung, fand er nach kurzem Suchen die ersehnte Toilette, wo er sich erleichtert niederließ. Doch wie in einem seiner Albträume vernahm er kurz darauf eine Kinderstimme, die laut ausrief: „Hui, dahat aber einer viel Luft im Bauch! Da solltest du besser die Lüftung einschalten.“
„Ähm ja, danke für den Hinweis!“, riss Ole überrascht die Augen auf. „Weiß du ich hatte geklopft und habe nichts gehört, entschuldige bitte!“, stammelte er, während er am liebsten, samt Kloschüssel, im Boden versunken wäre.
„Logisch, ich hatte doch die Zahnbürste im Mund, darum!“, gab das Kind daraufhin genervt zurück. Und als ob dies nicht schon peinlich genug ist, hörte er kurz darauf, wie die Tür geöffnet wurde und wie noch jemand den Raum betrat. „Ach Jonas, bist du immer noch nicht fertig? Wir müssen doch los oder willst du dich nicht mehr von Lotta verabschieden?“, sagte eine junge weibliche Stimme.
„Doch will ich! Aber ich musste doch erst noch Lottas Freund sagen, dass er die Lüftung betätigen soll, wenn er auf dem Klo sitzt. Ist doch richtig oder Mom?“, hörte Ole den Jungen antworten, von dem er nun wusste, dass es sich um Jonas handelt. Als er daraufhin dachte, dass es nicht mehr schlimmer kommen könnte, während er noch immer wie erstarrt auf dem Klo thronte, vernahm er auf einmal Lottas Stimme: „Ach, hier seid ihr beiden! Ich habe euch schon überall gesucht. Leider muss ich mich jetzt schneller von euch verabschieden als gedacht, denn Ole ist schon da und wartet in der Küche auf mich und daher…“
„Nein, wartet er nicht. Er ist da hinten auf dem Klo und hat die Lüftung nicht betätigt!“, fiel Jonas Lotta ins Wort.
„Oh, das konnte er aber auch nicht wissen. Ansonsten hast du natürlich Recht. Okay, dann lass uns jetzt mal besser in die Küche gehen, damit wir uns in Ruhe verabschieden können“, sagte Lotta freundlich und Ole konnte daraufhin hören, wie alle kurz darauf das Badezimmer verließen.
Etwas später kehrte Ole, noch etwas beschämt, in die Wohnküche zurück, wo er Lotta weinend, auf einem alten Biedermeier Sofa sitzend vorfand, welches vor einem bodentiefen Fenster stand. Vor ihr auf einem antiken Nierentisch entdeckte er eine Kinderzeichnung, mit einer groben figürlichen Abbildung von ihr. Dies erkannte er sofort an den wilden kurzen, blonden Haaren und dem Minirock, in Verbindung mit dem schweren Stiefeln. Neben Lottas Abbild, die gerade mit erhobenem Arm winkte, stand ein bunter Koffer vor einem großen Auto, der wohl Oles VW-Bus darstellen sollte. Darüber stand mit kindlicher Schrift geschrieben: Tschüss, dein Jonas! Leicht amüsiert, über dieses kindliche Abschiedsgeschenk, sah er zu ihr auf, wobei sein Blick an einen kleinen Stoffbären hängen blieb, den sie in den Händen hielt. Als sie dies bemerkte, hielt sie ihm den nur leicht gestopften, etwa 20 cm großen Stoffbären entgegen, wobei sie schniefte: „Schau mal, den hat Jonas mir eben als Andenken geschenkt!“, dabei rang sie sich ein Lächeln ab. „Ach, ist der nicht süß!“, kraulte sie gedankenverloren den Teddy am Ohr, während sie erneut zu weinen und zu schluchzen begann.
„Mm, ja das ist er“, beäugte er kurz das kleine Stofftier kritisch, bevor er sich schweigend zu ihr aufs Sofa setzte. Dabei bot er ihr etwas gedankenverloren seinen Arm tröstend an, während er zum Fenster hinaus starrte. Erneut haderte er mit sich, ob diese ganze Aktion wirklich eine gute Idee war. Denn diese ganzen offen zur Schau gestellten Befindlichkeiten waren gerade etwas zu viel für ihn. Weinende Frauen an sich und Lotta gerade in speziellen konnte er sich nicht erwehren, weil er ihren Schmerz gerade ebenso physisch verspürte. Unterdessen nahm Lotta sein Angebot an und rückte weiterhin weinend näher zu ihm heran, um sich in seinen Arm zu kuscheln, während sie mit der linken Hand mechanisch über den Kopf des Teddys streichelte. „Weißt du, ich hasse Abschiede!“, schluchzte sie ca. 2 Minuten später, wobei sie anfing, sich mit seinem Hemd ihre Tränen abzuwischen. Dann sah sie ihn mit verquollenen Augen an: „So ein Mist, der Kleine ist mir so richtig ans Herz gewachsen!“
Als er sie daraufhin fester an sich drückte und nur verständnisvoll nickte, bedrängte ihn gleichzeitig erneut das Bedürfnis einfach aufzustehen, um sich nun unmittelbar und ohne sie auf den Weg zu machen. Gleichzeitig wünschte er sich aber, dass dieser Augenblick ewig dauern würde, wo er ihren warmen, drahtigen Körper so nah an sich ran gepresst fühlte. Zwischen diesen beiden Empfindungen hin und hergerissen sagte er nach einer Weile ausweichend: „Ja, das Gefühl kenne ich. Aber wer eine Reise machen möchte, muss nun mal jemanden zurücklassen!“
Zustimmend nickte sie daraufhin und schluchzte noch einmal kurz, bevor sie ihm einen leichten Kuss auf die Wange gab. „Danke, für dein Verständnis! Ich glaube wir werden uns sehr gut verstehen“, drückte sie ihn dabei den Teddy einfach in die Hand.
Verdutzt starrte er daraufhin das kleine Stofftier an, während er ihren Lippen auf seiner nun etwas feuchten Wange nachspürte. Dabei hatte er gerade das Gefühl zu erröten, als ein lautes Krachen und Knarren, gefolgt von einem lauten Fluchen auf Platt von draußen reinschallte.
Mit einer unguten Vorahnung befreite er sich abrupt von Lottas Körper und sprang auf, bevor er zu ihr hinübersah: „Scheiße, das hörte sich ja so an, als ob direkt vor der Tenne etwas zu Bruch gegangen ist!“ Dann rannte er los.