Читать книгу Drei sind keiner zu viel - Jörn Holtz - Страница 6
Der gelebte Albtraum
ОглавлениеAls Ole erst den zweiten Tag wieder auf Arbeit war, rief ihn kurz nach der Mittagspause seine älteste Schwester Doro an. Kurz starrte er überrascht und ungläubig das Display seines Handys an. Denn dies war, abgesehen von der frühen Uhrzeit, schon sehr ungewöhnlich, weshalb er sich auch vorsichtig, sowie mit gespielter Überschwänglichkeit meldete: „Moin Schwesterherz, das ist ja schön, dass du mich mal anrufst!“
„Hallo Ole, nein eigentlich nicht!“, erklang ihre Stimme daraufhin schluchzend in der Ohrmuschel seines Handys. „Denn das was ich dir mitteilen möchte, ist alles andere als schön. Petra geht es seit gestern sehr schlecht, und zwar so schlecht, dass die Ärzte sie vorhin ins künstliche Koma versetzt haben, nachdem sie einen weiteren Schlaganfall hatte“, kam sie wie immer direkt und ohne weitere Formalitäten zur Sache, wenn auch dieses Mal etwas stockend. „Würdest du daher bitte umgehend ins Städtische kommen?“
„Äh ja, geht klar!“, starrte er verwirrt aus dem Fenster. „Doch sag mal, was ist denn bloß passiert?“
„Das wissen die Ärzte noch nicht. Aber es sieht gerade gar nicht gut für sie aus. Daher solltest du dich auch ein wenig beeilen. Vielleicht ergibt sich dann noch einmal die Möglichkeit, dass du mit ihr reden kannst.“
„Sicher, dass wäre toll!“, stammelte er daraufhin mechanisch, auch wenn er es seit Jahren vermieden hatte, mit seinen Schwestern zu sprechen. Dennoch ließ er alles stehen und liegen und raste über die Autobahn zurück nach Kiel.
Im Krankenhaus angekommen, fragte er sich bis zur Intensivstation durch. Dort angekommen, streifte er sich schnell einen weißblauen Kittel über, sowie jeweils hellblaue Papierhauben über die Haare und Schuhe, bevor er das sterile Krankenzimmer betrat, wo einer seiner schlimmsten Albträume ad-hoc Realität wurde. Zuerst meinte er noch, sich im Raum geirrt zu haben, denn die nackte Frau, die dort in der Shavasana Stellung rücklings auf einem metallenen Bett lag, war so immens aufgedunsen, dass er seine zweit älteste Schwester erst auf den zweiten Blick erkannte. Dabei stellte aber auch erschrocken fest, dass ihr Körper überall mit irgendwelchen Geräten verbunden war, wobei nur ihre Genitalien notdürftig mit jeweils einem Handtuch abgedeckt waren. Als sein Kopf diese Information entsetzt verarbeitet hatte, entdeckte er Doro. Sie saß derweilen in sich zusammengefallen am Kopfende des Bettes und hielt die Hand ihrer Schwester, wobei sie unaufhörlich: „Du bist nicht allein, hörst du. Wir sind bei dir!“, murmelte. Als sie Ole durch ihre verquollenen Augen wahrnahm, fügte sie: „Und Ole nun auch!“, hinzu.
Michael, Doros und Petras Halbbruder, war ebenfalls anwesend und hockte mit seiner Frau zusammengekauert am anderen Ende des Raumes auf zwei Stühlen. Freundlich nickte Ole zu ihnen hinüber, während er sich, von der skurrilen Umgebung und der vorherrschenden trüben Stimmung paralysiert, hinter Doro aufbaute und seine Hände auf ihren Rücken legte. Dabei wurde ihm wieder einmal bewusst, dass seine Schwestern eigentlich nur seine Halbschwestern waren, weil sie aus der ersten Ehe seiner Mutter stammten. Aber auf solche Feinheiten hatte er als Kind nie Wert gelegt, trotz allem was mittlerweile zwischen ihnen stand. Dann stimmte er in den mechanischen Sing-Sang von Doro mit ein, wobei sein Blick unruhig im Raum umherschweifte. Dabei verweilte er immer wieder kurz bei den Instrumenten, die die verschiedenen Körperfunktionen von Petra visualisierten. So bemerkte er mit der Zeit, wie ihr Blutdruck und ihre Herzfrequenz langsam sanken, bis ein lautes, durchgehendes Piepen, gefolgt von einer grell blinkenden, orangefarbenen Lampe am Fußende des Bettes, ihn aus dieser Litanei riss.
Ein gedrungener Arzt und eine hochgewachsene Krankenschwester erschienen daraufhin und machten sich ohne Umschweife an ein paar medizinischen Geräten zu schaffen, ohne die Anwesenden eines Blickes zu würdigen. Erst als sie damit fertig waren und eine vermeintliche Ruhe im Krankenzimmer zurückgekehrt war, wandte sich der Arzt mit besorgter Miene und räuspernd an Doro: „Ähm, ihre Schwester hatte gerade ein Nierenversagen und ehrlich gesagt,“, stutzte er kurz, während seine Hände rastlos ineinander rieben, „verstehe ich es immer noch nicht, was hier vor sich geht!“ Dann schwieg er eine Zeitlang nachdenklich, bevor er behutsam fortfuhr: „Denn ehrlich gesagt, bin ich mit meinem Latein gerade so ziemlich am Ende, was ihre Schwester betrifft. Ähm,“, räusperte er sich erneut, „wünschen sie dennoch, dass ich weitere lebensverlängernde Maßnahmen ergreife? Ich meine ja nur, in Anbetracht der beiden Schlaganfälle von heute Mittag. Denn diese sind bestimmt auch nicht spurlos an ihrer Schwester vorbeigegangen, auch wenn ich zurzeit noch nichts Näheres dazu sagen kann“, sah er sie ratlos, aber mitfühlend an.
„Was soll ich?“, schluchzte Doro ungläubig, nach einer Zeit des bedrückenden Schweigens, so als ob sie meinte sich verhört zu haben. „Nein,“, riss sie dann plötzlich entsetzt ihre Augen weit auf, als ihr die Bedeutung der Frage klar wurde, „das kann und will ich nicht allein entscheiden, dass müssen ihre Brüder mitentscheiden!“
Woraufhin Oles gesenkter Kopf erschrocken hochfuhr und er sie entsetzt anstarrte. Doch, ehe er protestieren konnte, ergriff Michael das Wort: „Okay, da wir gerade alle ganz ehrlich zueinander sind“, sah er kurz kopfschüttelnd und mit feuchten, roten Augen erst zu Petra und dann zu den ganzen Maschinen hinüber, die sie am Leben erhielten, bevor er stockend fortfuhr: „Auch ich verstehe nicht,“ stockte er erneut, wobei er hörbarmit seiner Fassung rang, „was hier gerade vor sich geht, wie auch! Jedoch glaube ich, dass es besser für sie ist, wenn sie nicht noch länger leiden muss!“, wobei seine Stimme immer brüchiger und leiser wurde, so dass man ihn am Ende kaum noch verstand. Trotzdem hallten seine Worte einen Moment in Oles Kopf nach, weil er wusste, was nun von ihm erwartet wurde. Doch erst als Doro zustimmend nickte, fand er den Mut: „Dem habe ich nichts hinzuzufügen!“, zu stammeln.
„Okay“, nickte der Arzt milde in Oles Richtung, bevor er langsam und nacheinander in alle Gesichter blickte und ruhig anfügte: „Na, dann wollen wir mal dafür sorgen, dass ihre Schwester schmerzfrei und friedlich von uns gehen kann!“ Daraufhin wandte er sich von ihnen ab und machte sich erneut an den Gerätschaften zu schaffen. Mit dem Satz: „So, nun wird es nicht mehr lange dauern und sie wird bestimmt keine Schmerzen haben“, schloss er seine Arbeiten ab und verließ das Zimmer.
Während Ole kurze Zeit später erneut in den Sing-Sang von Doro mit einstimmte, die den Text in: „Alles ist gut, du darfst gehen. Wir sind bei dir!“, geändert hatte, schweifte sein Blick erneut unruhig im Raum umher. Dabei kam ihm hier alles so surreal vor, dass er sich über sich selbst wunderte, weshalb er nicht schreiend davonlief. Doch aus irgendeinem Grund und trotzt der ganzen schrägen Ereignisse in der Vergangenheit, fühlte es sich für ihn richtig an, hier zu sein, weil er sich zugehörig fühlte. Ja er, der sich seit seiner frühesten Jugend nicht mehr zu irgendjemandem zugehörig fühlte, fühlte sich in diesem surrealen Moment wieder zu jemandem zugehörig, und zwar zu seinen Schwestern. Dabei fühlte es sich für einen kurzen Moment so wie früher an, bevor sie ihn von einem auf den anderen Tag und ohne einen ersichtlichen Grund verlassen hatten.
Während er diesem verloren geglaubten Gefühl nachhing, verstrich die Zeit um ihn herum wie in Zeitlupe. Wobei er sehr genau verfolgte wie der Puls und der Blutdruck seiner Schwester langsam, ganz langsam immer weiter sanken.
Als dann irgendwann keine Vitalfunktionen mehr angezeigt wurden, erschien die Krankenschwester erneut. „Mein herzliches Beileid!“, wandte sie sich kurz an alle Anwesenden. „Und ich möchte auch gar nicht weiter stören. Ich sorge nur mal kurz dafür, dass sie sich ungestört verabschieden können“, schaltete sie erst alle Geräte aus, bevor sie Petras Leichnam von der künstlichen Beatmung befreite. Dann breitete sie ein Laken über ihr aus, so dass Petra mit einem Mal so aussah, als ob sie schlief. Mit den Worten: „Der Arzt schaut gleich noch einmal vorbei“, verließ sie diskret den Raum wieder.
Wie versteinert und mit einem Mal innerlich leer, betrachtete Ole eine Zeitlang seine tote Schwester. Dann wanderte sein Blick abwechselnd zwischen ihr und dem mittlerweile dunklen Nachthimmel im Fenster hin und her. Und der, der bei der Frage: Warum Gott seine Mutter so früh zu sich genommen hatte, seinen Glauben an einen gütigen Gott und alles andere verloren hatte, sah nun zum Himmel hinauf, so als ob er der Seele seiner Schwester hinterher schauen konnte. Dabei stellte er sich vor, dass seine Mutter milde lächelnd auf ihn hinabsah, während sie die Seele seiner verstorbenen Schwester in Empfang nahm. So gelang es ihm, weiterhin allen Schmerz um sich herum auszublenden, während ein warmes Kribbeln an seinen Beinen hinunterlief. Erst das Erscheinen des Arztes holte ihn in die traurige Realität zurück.
Nachdenklich und mit vor dem Bauch gefalteten Händen sah der Arzt eine Weile schweigend auf Petra hinab, bevor auch er: „Mein herzliches Beileid!“, sagte. Dann erst sah er auf und blickte in die Runde: „Wie schon erwähnt, ist es mir immer noch ein echtes Rätsel, was hier gerade geschehen ist und ich weiß natürlich, dass der Zeitpunkt nicht gerade passend ist. Dennoch möchte ich fragen, ob wir nachschauen dürfen, wieso es so unglücklich gekommen ist. Denn damit könnten sie vielleicht zukünftigen Patienten helfen, die sich in der gleichen Situation befinden.“
Herztumor, und zwar ein ganz besonders fieser, da sich dieser im gesunden Gewebe versteckt gehalten hatte, war die Diagnose, die ihm Doro am darauffolgenden Montag telefonisch mitteilte. Da die Chance an dieser Krankheit zu erkranken, einen Sechser in Lotto gleichkam und weil man außerdem ein paar Tage zuvor eine Probe aus Petras Herzen entnommen hatte, hatte der Arzt und seine Kollegen diese Möglichkeit ausgeschlossen. Und so hatte die Seltenheit dieser Krankheit ihm die Schwester geraubt, die er kurz zuvor erst wieder wahrgenommen hatte.
Die Trauer und Wut, die er darüber empfand, raubten ihm ad-hoc das letzte bisschen Kraft, welches er sich bisher noch erhalten hatte. Außerdem sorgten die bizarren Bilder aus dem Krankenhaus, die immer wieder vor seinem geistigen Auge auftauchten, für eine weitere durchwachte Nacht. Weshalb er sich völlig übermüdet und mit Kopfschmerzen am nächsten Morgen erneut auf den Weg zu seinem Hausarzt machte, um sich für den Rest der Woche krankschreiben zu lassen.
Am frühen Nachmittag des darauffolgenden Freitages betrat Ole mit gemischten Gefühlen das Friedhofsgelände in Elmschenhagen. War es doch der Ort, den er seit 25 Jahren mied wie der Teufel das Weihwasser, weil neben den Rest seiner Verwandtschaft auch seine Mutter hier begraben war. Das heißt, die Reste ihrer Gebeine werden hier vielleicht noch irgendwo in der Erde ruhen. Denn sein Vater hatte vor 5 Jahren ihre Grabstelle gekündigt, so dass jetzt wohl ein anderer Grabstein ihre letzte Ruhestätte zierte.
Als Kind wollte er die Erinnerung an seine Mutter unverfälscht in seinen Herzen behalten, weshalb er sich weigerte ihr Grab zu besuchen. Doch dann waren seine Erinnerung an sie, zusammen mit dem Rest seiner Kindheit irgendwann in sein Unterbewusstsein abgerutscht und erst mit Petras Tod wieder etwas an die Oberfläche zurückgekommen.
Als er seine Verwandten begrüßte, die überraschend zahlreich zu Petras Beerdigung erschienen waren, schob er den Gedanken an seine Mutter zur Seite und ging dann in die kleine Kapelle hinein. Dort wählte er einen Platz weiter hinten aus. Zum einen mied er Doros direkte Gegenwart, die in der ersten Reihe lautstark und für jedermann sichtbar um ihre Schwester trauerte. Denn er konnte ihren Schmerz, selbst aus dieser Entfernung noch, körperlich spüren und dieser zerrte an seinen noch nicht wiedererlangten Kraftreserven. Zum anderen fand er, stand ihm ein Platz dort vorne auch nicht zu. Denn er hatte in den vergangenen 23 Jahren, von einigen zufälligen Begegnungen mal abgesehen, gar keinen Kontakt mehr zu Petra gehabt.
Deshalb wartete er in diesem selbst gewählten Exil gespannt darauf, wie sich die Beerdigungszeremonie entwickeln würde. So wurde er gleich zum Anfang von der Trauerrednerin angenehm überrascht. Denn sie fand großartige Worte für Petra und ihren Lebensweg, was ihm jedoch überaus komisch vorkam. Zuerst wollte er dies damit abtun, dass es wohl ihr Job ist. Wusste er doch von Hörensagen, dass ihr erworbenes Handicap ihr das Leben nicht einfach gemacht hatte und dass ihr das langfristige Glück bei den Männern auch verwehrt blieb. Nachdenklich verfolgte er daraufhin sehr genau jeden einzelnen Wortbeitrag und hörte so heraus, dass die Aussagen der Trauerrednerin nicht beschönigt waren. Weshalb er immer betrübter wurde, weil er sich mit einem Mal um die Zeit mit ihr betrogen fühlte.
Zum Ende des ersten Teils der Zeremonie dröhnte auf einmal, auf ihren Wunsch hin: Hells bells von AC/DC, durch die Kapelle, was ihn zuerst entsetzte. Doch während sich im Mittelgang der kleinen Kapelle eine Prozession formierte, an dessen Spitze die Urne seiner Schwester feierlich aus der Kapelle getragen wurde, musste er lächeln. Denn den Gedanken: Auf den Weg in die Gruft, noch einmal dem Mittelfinger zu zeigen; fand er gut. Als er dann eigentlich an der Reihe war, sich in die Prozession einzureihen, blieb er jedoch einfach sitzen und starrte stattdessen auf die vielen Kränze und Gestecke, die er nun barrierefrei betrachten konnte. Dabei haderte er erneut mit seinem Schicksal und den Absichten, die vielleicht irgendeine höhere Macht dabei verfolgte.
Deshalb verließ er die Kapelle erst, als der Rest der Trauergäste schon lange bei dem Urnenfeld angekommen war, welches Petras letzte Ruhestätte bilden sollte. Jedoch entschied er sich spontan dagegen, sich dazu zu stellen. Stattdessen streifte er planlos übers Friedhofsgelände, da er den ganzen neuen Eindrücken einen Raum geben musste. Außerdem hoffte er dabei die Energie seiner hier begrabenen Verwandtschaft zu erspüren, um eine neue Inspiration oder irgendetwas anderes zu erhaschen, was sich jedoch nicht ergab.
Erst als es schon dämmerte suchte er ihre frische Grabstätte auf, wo er sich in der Habach Haltung vor ihren Kränzen aufbaute und diese eine Zeitlang erneut anstarrte. Dabei versuchte er sich an ihre gemeinsame Kindheit zu erinnern, wobei ihm zum ersten Mal nachhaltig bewusstwurde, dass diese, wie viele andere Dinge auch, in den Schatten seines Unterbewusstseins gefallen war.