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Lassen wir John Lennon einfach träumen

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Stell dir eine Welt vor, in der es keinen Besitz, keine Gier, keinen Hunger und keine Grenzen gibt. Nichts mehr, wofür wir töten oder sterben müssten, und auch keine Religionen. Stell dir vor, alle Menschen könnten in Frieden leben. Kannst du das überhaupt?

Das sind Zeilen aus dem Lied »Imagine«, mit dem John Lennon in den 70ern einen Welthit landete. »Du magst vielleicht denken, dass ich ein Träumer bin, aber ich bin nicht der einzige«, heißt es dort weiter. Und der Beatle hat Recht. Denn der Traum von einer perfekten Welt ist nicht nur so romantisch und schön wie Lennons Musik. Er ist auch sehr alt.

Platon war der Erste, der in der Antike einen Dialog schrieb, in dem er sich Gedanken über den idealen Staat machte. Der Engländer Thomas Morus, Staatsmann und katholischer Märtyrer, übernahm dann im frühen 16. Jahrhundert ein paar von Platons Motiven und verarbeitete sie in einer Geschichte. Dort erzählt Morus von dem Seemann Raphael Hythlodeus, der nach einem Schiffbruch an einer versteckten Insel mit dem Namen »Utopia« strandet.

Der Staat und die Gesellschaft, die der Seemann hier kennenlernt, sind perfekt: Denn die Utopia geht so gut auf die Bedürfnisse und das Wohlergehen der Bürger ein, dass alle in absoluter Harmonie miteinander leben. Gleichzeitig betreibt der Staat eine derart progressive und moderne Politik, dass der durch den Feudalismus geprägte Engländer mit offenem Mund herumsteht und sich wie ein Hinterwäldler vorkommt.

Mit dieser Geschichte gab Morus der Idee der vollkommenen Welt ihren Namen: die Utopie. Einige Autoren aus der frühen Neuzeit schrieben dann weitere Utopien, die aber alle an Morus’ Geschichte angelehnt waren. Da gab es etwa die »Nova Atlantis« von Francis Bacon, in der die Bewohner neue Pflanzenarten züchten, unvorstellbare Experimente durchführen und an sagenhaften Erfindungen arbeiten. Auch in der Utopia berichtet Hythlodeus von feuerfesten Häusern und modernen Waffen. Kurz: Die Utopien gehen immer mit der Sehnsucht nach Innovation, Fortschritt, Zukunft und neuer Technologie einher, weswegen Utopia auch die Vorlage für die moderne Science-Fiction bot.

Und auch in der Popkultur findet man die Utopie wieder. Im Film »The Beach« entdeckt Leonardo DiCaprio auf einer thailändischen Insel eine Community, die ein paradiesisches Leben ohne Sorgen führt. Und die linke Rap-Gruppe »K. I. Z.« erzählt in dem Lied »Hurra, die Welt geht unter«, wie sich Berlin nach einem Atomkrieg in eine pazifistische Idylle verwandelt.

Aber kann die Utopie auch umgesetzt werden? Nehmen wir mal an, es wäre möglich. Dann würden wir auf folgende Probleme stoßen:

Erstens: Wie soll der perfekte Staat genau aussehen? Man bräuchte nicht nur ein besseres politisches System, sondern auch eine neue Kultur, neue Normen, Rituale und Bräuche, neue politische und gesellschaftliche Mechanismen, die so aufeinander abgestimmt sind, dass niemand benachteiligt wird und keine Armut, Kriege und Ungleichheiten entstehen. Aber wie soll das funktionieren? Ist der Staat eine Demokratie? Eine Monarchie? Ist er kapitalistisch oder sozialistisch organisiert?

Das zweite Problem: Wer besitzt das Wissen über das perfekte System, das die Aufgabe unserer bestehenden Ordnung lohnenswert machte? Und wie können wir sicher sein, dass der neue Staat nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Realität funktioniert? Und: Wer entscheidet über den Systemwechsel? Das ganze Volk, seine politischen Vertreter oder nur eine kleine Gruppe besonders intelligenter Wissenschaftler?

Diese Probleme werden in den Geschichten von Morus bis K. I. Z. einfach gelöst: Es wird beobachtet, was in der Gesellschaft schiefläuft und warum die Menschen leiden. Dann werden die Gründe für das Leid auf simple Ursachen verkürzt – die man danach ganz einfach aus der Welt schafft.

Und egal, ob es sich um Geschichten aus der frühen Neuzeit oder Musikhits handelt – es sind immer dieselben Gruppen, die für das gesamte Leid der Welt verantwortlich gemacht werden: »die Reichsten« oder »das Establishment«. Sind es bei Morus der Adel und die gierigen Kaufleute, die die Armut im England des 16. Jahrhunderts verursachen, sind es bei K. I. Z. die großen Konzerne wie Nestlé, McDonald’s oder die Deutsche Bank, die dem Glück der Menschheit im Weg stehen.

Die Kernbotschaft der Utopien ist also über Jahrhunderte gleich geblieben: Man muss nur das Privateigentum abschaffen und die Reichsten enteignen, um im absoluten Glück zu leben. Aber damit nicht genug. Es müssen auch eine neue Kultur, neue Normen und – vor allem – eine neue Moral her, die sich gegen das Besitzdenken stellt. So sind in Utopia Würfel- und Glücksspiele verboten, weil sie die Menschen zu Gier und Völlerei anregen könnten. Und Reichtümer sind derart verpönt, dass Kinder mit Gold und Edelsteinen spielen, weil sie keine Ahnung haben, was Luxus bedeutet. Auch bei K. I. Z. haben die Kids das Verständnis für die kapitalistische Warenlogik verloren: »Ein Goldbarren ist für uns das Gleiche wie ein Ziegelstein«. Und: »Ein Hundert-Euro-Schein? Was soll das sein? Wieso soll ich dir was wegnehmen, wenn wir alles teilen?«

Auch dem nervigsten Leid unseres Alltags geht es in den Utopien an den Kragen: der Lohnarbeit. Schon Morus ließ seine Utopier nur sechs Stunden am Tag arbeiten, weil sein perfektes System mehr nicht braucht. Kurz: Die Dinge, die in der Gegenwart zu massiven Ungerechtigkeiten führen wie das kapitalistische System, die Lohnarbeit oder die allgegenwärtige Staatsmacht, werden in den Utopien einfach abgeschafft, damit sich das Glück – wie magisch – von selbst einstellt.

So einfach ist das natürlich nicht – was auch Thomas Morus wusste. Deswegen nannte er die Utopie auch so, wie er sie nannte: »Ou«-»Topos« bedeutet auf Altgriechisch »Nicht-Ort«. Für den Engländer war also klar, dass der perfekte Ort nur in einer erfundenen Geschichte oder in einer weit entfernten Welt, etwa auf einer verlassenen Insel, existieren könnte. Und nicht innerhalb der herrschenden Gesellschaft.

Man kann die Utopie auch mit einem Perpetuum mobile vergleichen: Eine Fantasie-Maschine, in der Ursache und Wirkung so genau berechnet sind, dass sie ohne äußere Einflüsse funktioniert. Sie treibt sich also selbst an. Das Perpetuum mobile ist nach physikalischen Gesetzen nicht nur unmöglich. Es ist auch ein geschlossenes System, das sofort in sich zerfallen würde, wenn man in die sich greifenden Zahnräder, Pumpen oder Wasserfälle eingreifen würde.

Das bedeutet: Utopien sind komplett abgeriegelte Systeme, in denen es weder politische noch kulturelle Veränderungen geben darf. Die Utopie muss nicht nur von der Außenwelt abgeschottet, sondern auch vor demokratischer Willensbildung beschützt werden. Denn unterschiedliche Parteien, Meinungen und Weltbilder könnten das fein ausgerechnete, perfekte System aus dem Gleichgewicht bringen.

Und diese Tendenz zeigt sich auch in den Geschichten über den idealen Staat. So gibt es in der Utopia keine Sprachen, Sitten oder Gesetze, die sich voneinander unterscheiden. Alle Städte sind gleich angelegt, alle Acker gleich verteilt und alle Häuser gleich gebaut. Je nach Handwerk tragen die Utopier dieselbe Kleidung, gehen denselben Freizeitbeschäftigungen nach oder werden vom Staat wie Spielfiguren von der einen Familie in die andere, von der Stadt aufs Land oder von der Insel auf Kolonien ins Festland verschoben.

Der Staat kontrolliert also alles: die Demografie, die Wirtschaft, Sitten und Bräuche, die vorherrschende Moral, ja sogar die Sexualität und die Partnerwahl der Bürger. Und obwohl sich die Utopier mit ihrer fortschrittlichen Moral schmücken, zeigen sie kein Erbarmen, wenn Einzelne gegen die Gesetze verstoßen. So werden Gesetzesbrecher in der Utopia entweder versklavt oder mit dem Tod bestraft.

Nun mag man an dieser Stelle zu Recht einwenden, dass sich das vormoderne Bewusstsein der Frühen Neuzeit an einer anderen Auffassung von Humanität orientiert, da sich der Mensch erst im Zuge der Aufklärung als gesellschaftliches Individuum begreifen kann. Der Absolutismus galt zu dieser Zeit – angesichts der zersplitterten Territorialstaaten und der Feudalherrschaft – als politische Errungenschaft. Vor diesem historischen Hintergrund mutet die oben beschriebene Politik der »Utopia« tatsächlich modern an.

Mir geht es aber um einen allgemeinen Wesenszug der Utopie: darum, dass aus dem utopischen Denken zwangsläufig eine Monokultur resultiert, in der es keine Demokratie, Freiheit und Vielfalt geben kann. Denn der perfekte Ort kann nur dann perfekt bleiben, wenn alles auf ewig genau so bleibt, wie es ist: vermeintlich »perfekt«.

So schön die Utopie in unseren Träumen, in Literatur, Kunst und Musik also aussieht, so innovativ und modern die Vision einer perfekten Welt daherkommen mag – eines ist leider immer sicher: Würde man die Utopie in die Realität umsetzten, würde unsere Gesellschaft sofort in die Knechtschaft führen. Genauer: in eine gleichgeschaltete Gesellschaft, in der es keine politische Vielfalt und keine Freiheit für den Einzelnen geben kann.

Schäm dich!

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