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»Narrativ«, »Diskurs« und »dekonstruieren« – alles nur harmlose Trends?

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Vielleicht sind Sie in letzter Zeit beim Fernsehen, Zeitunglesen oder bei Diskussionen über folgende Begriffe gestolpert: »Narrativ«, »Diskurs«, »konstruiert« und »dekonstruiert«. Der Fraktionsvorsitzende der Thüringer CDU, Mike Mohring, erzählte etwa im Sommer 2019, dass man »das Narrativ, die AfD sei im Osten überall vorn, in Thüringen durchbrochen«1 hätte. In Zeitungsartikeln ist häufig von »sozial konstruierten Identitäten« die Rede oder davon, dass man rassistische Ideologien »dekonstruieren« solle.

Es ist fraglich, ob alle Menschen, die diese Wörter verwenden, tatsächlich wissen, was sie genau bedeuten. Der Verdacht liegt nahe, dass sich viele wie die Menschen verhalten, die sich gerne schicke Brillen mit Fensterglas auf die Nase setzen, obwohl sie keine Sehschwäche haben: Sie wollen besonders gebildet rüberkommen und ihren Aussagen Gewicht verleihen.

Und wie es so ist mit Trendwörtern: Man übernimmt sie relativ unreflektiert. Plötzlich spricht man nicht mehr von einer »Diskussion«, sondern von einem »Diskurs«, sagt nicht mehr »Argument«, sondern lieber »Narrativ«. Wenn etwas »entstanden ist«, kann man auch »konstruiert« sagen, oder man schafft etwas nicht ab, sondern »dekonstruiert« es. Das klingt erheblich schlauer.

Doch klären wir hier erst einmal, woher diese Begriffe kommen. In den 60er-Jahren gab es eine Gruppe von Philosophen, die sich Gedanken darüber machten, wie Macht in unserer Gesellschaft entsteht und wie sie unser Denken und Handeln beeinflusst. Diese Denker gehörten zu einer philosophischen Strömung, der Postmoderne.

Wie etwa der Franzosen Michel Foucault. »Macht ist überall«, ist einer seiner berühmtesten Sätze. Damit meinte er, dass Macht nicht nur durch den Staat ausgeführt wird, wenn er etwa Gesetze beschließt oder Straftäter ins Gefängnis sperrt. Macht ist also nicht etwas, was eine einzelne Person, eine Gruppe, eine Institution oder eine Klasse besitzt und dann auf andere ausübt. Vielmehr zeigt sich Macht in der Art und Weise, wie wir über Dinge sprechen: durch »Diskurse«. Oder stark vereinfacht: durch soziale Normen, die bestimmen, was »gut« und »schlecht«, was erlaubt oder was nicht erlaubt ist und was gesagt oder was nicht gesagt werden darf.

Diese Normen sind niemals absolut, sondern befinden sich im Wandel, behauptete Foucault. So wurde in Deutschland vor einiger Zeit die Homo-Ehe legalisiert, während Homosexualität zu Foucaults Zeiten noch illegal war und als Krankheit verteufelt wurde. Ähnliches gilt für die Rolle der Frau: Für unsere Großmütter gehörte es sich nicht, alleine zu leben, keine Familie zu haben, finanziell unabhängig zu sein oder eine Firma zu leiten. Frauen gehörten zu dieser Zeit an den Herd. Nur dieses Leben galt damals für eine Frau als »normal«, als ihre »natürliche« Bestimmung. Wer gegen solche Normen verstieß, wurde von der Gesellschaft moralisch gemaßregelt. Genau diese Entstehung von sozialen Regeln und das Abstrafen derjenigen, die sich nicht an diese Stereotypen anpassen, bedeutete für Foucault »Macht«.

Wichtig ist bei seiner Theorie aber eines: Die »Diskurse«, die entscheiden, was wir als »gut« und »schlecht« ansehen, werden niemals von einer Gruppe oder einzelnen Personen dominiert. Macht zeigt sich für den Franzosen in einem »System«, das von allen getragen wird. Alle Stereotype, die etwa über Frauen, Männer oder Homosexuelle kursieren, haben keinen Erfinder. Vielmehr entstehen sie einfach dadurch, dass einzelne Mitglieder einer Gesellschaft untereinander Wissen austauschen. Jeder kann also durch Diskurse Macht ausüben, Menschen aus der Norm ausgrenzen und entweder Täter oder Opfer sein.

Foucaults Fazit: Nicht nur die Normen sind ein Ergebnis von Machtverhältnissen – sondern auch das gesamte Wissen, das in einer Gesellschaft über Menschen kursiert. Das geht mit einer Konsequenz einher: der Absage an die objektive Wahrheit.

Ähnliches formulierte Foucaults Kollege, Jean-François Lyotard. Auch er behauptete, dass Wissen nicht als objektiv wahr gelten kann, weil es unter gewissen Machtkonstellationen und politischen Einflüssen entstanden ist. Die Wissensformen nannte Lyotard »Narrative« oder »große Erzählungen«, zu denen er etwa die Aufklärung zählte. Kurz: Auch ganze Denkströmungen und Wissenschaften wie die Schulmedizin oder die Physik verlieren im postmodernen Weltbild ihre Allgemeingültigkeit, weil auch sie nur eine »Konstruktion« historischer Machtausübung sind.

Diese radikale Infragestellung von Wahrheit, Realität, Normen und Wissen fand nicht zufällig in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts statt. Der Glaube an die menschliche Vernunft und das rational denkende Individuum war nach den Genoziden und den Gräueln der Nationalsozialisten und Stalinisten erschüttert. Die Postmoderne wurde deswegen nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Kunst von einer politischen Motivation angetrieben, die eigentlich einer radikal anarchistischen Logik folgt: Man wollte Autorität, Hierarchien, starre Strukturen, traditionelles Wissen und überholte Werte überwinden, indem man bekannte Erzählformen und Kunstgattungen, ja den gesamten Sinn und die Bedeutung von Sprache, Bildern und Wissen zerstörte. Das Ziel: Es sollte die absolute Freiheit der Kunst, der Ideen und des Individuums erreicht werden, indem man die komplette Sinnlosigkeit und das Chaos regieren ließ. Die meisten postmodernen Künstler und Philosophen waren also radikale Punks, die besonders mit einer Idee ein großes Problem hatten: der Idee der einen, absoluten Wahrheit.

Doch dann kam der Philosoph Jacques Derrida, sozusagen der Spielverderber unter den Postmodernen. Denn er brachte in den anarchischen Freiheitsgedanken wieder eine absolute Regel hinein: Er behauptete – stark vereinfacht –, dass es in einer Gesellschaft immer eine herrschende Gruppe gibt, die alle anderen Gruppen ausgrenzt und unterdrückt. Diese Unterdrücker-Gruppe ist so dominant, dass sich die Spuren ihrer Herrschaft über die vergangenen Jahrhunderte so sehr in der Sprache festgesetzt haben, dass wir die Wirklichkeit überhaupt nicht mehr erkennen können. Diese Machtverhältnisse in der Sprache kontrollieren somit alles: die Rituale, die Gesetze, die Moral, die Wissenschaften, Kunst, Literatur, Musik, die Ästhetik, die Politik, also die gesamte Realität, in der wir leben.

Manche postmoderne Philosophen, allen voran Derrida, gaben aber den Glauben an die Erkennbarkeit der Realität nicht auf und erfanden eine spezielle Methode, mit der man sich von dem Einfluss der Herrschenden befreien kann: die Dekonstruktion. Diese Methode ist so etwas wie eine Spurensuche. Ihr Motto: Wir müssen erst die »Diskurse« entlarven, also herausfinden, wer in der Gesellschaft Sprache, Normen und Alltagshandlungen dominiert, um danach die »wahre Bedeutung« der Dinge von dieser Herrschaft freizuschaufeln.

Die Dekonstruktion von Sprache, Wissen und Normen kann durchaus eine Methode sein, um die Auswirkung von Macht während der vergangenen Jahrhunderte zu durchleuchten. Wieso hat sich etwa die männliche Form als generisches Maskulinum durchgesetzt und nicht die weibliche? Wieso spricht man aufwertend davon, »seinen Mann zu stehen«, aber abwertend von »Milchmädchenrechnung«? Wieso gab es während der vergangenen Jahrhunderte so gut wie keine berühmten Bücher, Kompositionen oder Kunstwerke von Frauen? Wieso ist es selbstverständlich, dass Frauen bei der Heirat den Nachnamen ihres Mannes annehmen und nicht umgekehrt?

Das alles sind wichtige Fragen, mit denen sich in den 60ern und 70ern feministische Philosophinnen wie Hélène Cixous oder Julia Kristeva beschäftigten. Sie alle bezogen sich auf postmoderne Philosophen, hielten aber einen wichtigen Grundsatz ein: Sie betrieben Wissenschaft. Das heißt, sie analysierten die Gesellschaft und arbeiteten dabei mit Begriffen, Ansätzen und Methoden der Postmoderne – die sich in ihrem theoretischen und politischen Kern aber vehement gegen jede absolute Wahrheit stellt.

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