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Kapitel 6 Die Meistersinger von Nürnberg

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Was deutsch und echt, wüßt’ keiner mehr, lebt’s nicht in deutscher Meister Ehr’. Drum sag’ ich euch: ehrt eure deutschen Meister! Dann bannt ihr gute Geister.

So heißt es in der Oper Die Meistersinger von Nürnberg von Richard Wagner und mit anderen Worten, aber ähnlichem Sinn formulierte es Daddy. Er hatte immer behauptet, dass ich ganz wunderbar singe, aber ich hatte mit derselben Beharrlichkeit geantwortet: »Das sagst du nur, weil du mich lieb hast.« Eigentlich hätte ich ihn besser kennen sollen, denn unwahre Schmeicheleien sind seine Sache nicht. Aber in dieser Zeit war ich zu verwirrt und dazu trugen meine schlechten Schulnoten bei. Außerdem erinnerte ich mich, wie zurückhaltend Daddy gewesen war, als ich im Alter von 16 Jahren vorgeschlagen hatte, eine Gesangslehrerin zu nehmen.

»Lass dir Zeit«, war damals sein Ratschlag gewesen und heute weiß ich, wie recht er hatte. Nun aber wollte er mich zu einem der größten »deutschen Meister« schicken: Ich sollte bei Professor Kammersänger Kurt Moll vorsingen.

Meine Güte, war ich aufgeregt. Ich bekomme heute noch feuchte Hände, wenn ich nur daran denke. Kurt Moll war zu dieser Zeit schlicht und einfach der beste und erfolgreichste Opernsänger Deutschlands. Dazu eilte ihm der Ruf voraus, ein kritischer Geist zu sein – sicher keiner, der mich loben würde, falls es nichts zu loben gab. Seine Karriere hatte schon in jungen Jahren begonnen, mit zwanzig Jahren sang er bereits an der Kölner Oper. 1970 feierte er bei den Salzburger Festspielen als »Sarastro« in Mozarts Zauberflöte den internationalen Durchbruch, kurze Zeit später eroberte er die USA. Erst vor Kurzem war er aus New York zurückgekehrt, wo er das Publikum an der Metropolitan Opera begeistert hatte, und nun blühte ihm das Schicksal, die kleine Judith Williams aus Oberemmel anhören zu müssen. Mir zitterten die Knie, als ich mich in den Zug setzte, um nach Hamburg zu fahren. Die Familie Moll lebte im Vorort Blankenese und auch wenn ich mittlerweile etwas von der Welt gesehen hatte, gingen mir fast die Augen über, als ich die eleganten Villen erblickte. Zum Glück holte mich Christina, die älteste Tochter der Familie, vom Bahnhof ab; wahrscheinlich hätte ich mich sonst nicht bis vors Haus getraut. Nun aber stand ich da, in der einen Hand meine Tasche, in der anderen die Noten sämtlicher Lieder, die ich jemals gesungen hatte. Die Tür öffnete sich und eine kleine Frau mit liebevollen Augen lächelte mich an. Das war Kurt Molls Ehefrau Uschi. Sie sah sofort, wie aufgeregt ich war und nahm mich in ihre Arme.

»Komm herein«, sagte sie. »Wie schön, dass du da bist. Hast du Hunger? Ich habe gerade gekocht, es gibt Spiegeleier mit Kartoffeln.« Der Duft aus der Küche war der Geruch nach Geborgenheit und nach der perfekten deutschen Hausfrau – also das, was ich schon damals bewunderte.

Uschi Moll führte mich in ihre Küche, setzte mich an den Tisch, bemutterte mich von vorn bis hinten und so langsam legte sich meine Nervosität, bis eine donnernde Stimme ertönte: »Aha, da ist die Sängerin. Das machen wir dann morgen.« Im nächsten Moment stand Kurt Moll vor mir und ich war überwältigt, denn alles an ihm war riesig. Er hätte auch ein amerikanischer Basketballspieler sein können, so groß war er. Meine Hand verschwand in seiner Pranke. Dann war er auch schon wieder weg und ich dachte nur: »Du meine Güte, der will dich gar nicht hören, ich werde die ganze Nacht kein Auge zumachen.« Aber Uschi Moll lachte und sagte: »Nimms ihm nicht krumm, er hat eine harte Schale, aber er ist ein weicher Kerl, glaub mir das.«

Das wollte ich gern, aber es fiel mir schwer. Tatsächlich schlief ich die ganze Nacht nicht, denn immer, wenn ich am Einnicken war, schreckte ich auf: Du darfst auf keinen Fall deinen Text vergessen, hörst du? Davon hängt deine Zukunft ab! Ich war richtig gut darin, mir selbst den größtmöglichen Druck zu machen, was in meinem späteren Leben Folgen haben sollte. Jetzt kam ich mit einer schlaflosen Nacht davon, doch fühlte ich mich entsprechend gerädert, als ich am nächsten Morgen vor dem Opernsänger stand.

»Also, was wollen Sie singen?«, knurrte er.

»Gretchen am Spinnrade.«

»Schubert, aha. Hmhm. Haben Sie nichts Einfacheres?«

Damit brachte er mich aus dem Konzept. Das Gretchen am Spinnrade ist nicht leicht zu singen, das Lied steckt voller Emotionen, aber ich hatte es geübt und geübt und geübt. Also etwas Einfacheres? Ich zerbrach mir den Kopf.

»Vielleicht Die Forelle? Von Schubert?«

Damit war Kurt Moll einverstanden. »Gut. Fangen Sie an.«

Das tat ich und Kurt Moll begleitete mich am Flügel. »In einem Bächlein helle, da schoss in froher Eil, die launische Forelle, vorüber, wie ein Pfeil.« Als ich das Lied beendet hatte – die Schlussworte »und ich, mit regem Blute, sah die Betrogne an« schienen ganz auf mich gemünzt zu sein –, wartete ich nervös auf sein Urteil. Aber es kam nicht.

»Das war ganz schrecklich«, dachte ich, »du singst wie eine quietschende Kreissäge, deshalb sagt er nichts, es fehlen ihm einfach die Worte!«

»Noch was?« In meinen Ohren klang der Ton des Opernsängers mehr als gelangweilt.

»Die Lotosblume.« Konnte er meine Flüsterstimme überhaupt hören?

Wieder schlug er die Tasten an und wieder kam keine Reaktion auf das Lied. Ich fühlte langsam Trotz in mir aufsteigen und als Kurt Moll ein drittes Mal fragte, was ich singen wollte, erwiderte ich: »Gretchen am Spinnrade.« Dieses Mal hatte er nichts einzuwenden und ich begann: »Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer; ich finde sie nimmer und nimmermehr.«

Seltsam, wie gut dieser Liedtext zu meiner Situation passte. Als ich endete, klappte Kurt Moll den Flügel zu.

»Jetzt ist alles aus«, dachte ich, »er hat sich gerade mal drei Lieder angehört, mehr braucht er nicht, um mir zu sagen, dass ich die ganze Singerei vergessen soll.«

Aber ich sollte mich täuschen. Kurt Moll sah mich mit forschendem Blick an und sagte: »Sie kommen nach Köln an die Hochschule, ich nehme Sie in meine Klasse auf.« Dann erhob er sich und verließ das Zimmer. Ich war so starr und steif, dass ich nicht erfassen konnte, was da eben passiert war. Auf einmal stand Uschi neben mir und lachte: »Mein liebes Kind«, sagte sie. »Das war sehr schön, das hast du fein gemacht. Hab keine Angst vor meinem Mann, er ist nur ein großer Teddybär. Jetzt zeige ich dir meinen Garten!«

Sie nahm mich am Arm und führte mich hinaus. Dort befand sich ein perfekt angelegter Gemüse- und Blumengarten. Weiter hinten gab es einen Hühnerstall und Uschi Moll fragte: »Magst du eigentlich Hühner?«

Das musste sie mich nicht zweimal fragen. In mir stecken die Farmergene meines Großvaters. Ich fühlte mich wie im Paradies, als wir vor dem perfekt gezimmerten Hühnerhaus standen. Als Uschi mir vorschlug, eines der Hühner mitzunehmen, hätte ich weinen können vor Freude. Ich dachte, Daddy werde garantiert begeistert sein. Schließlich hatten meine Eltern die Angewohnheit, sich in den seltsamsten Situationen so zu verhalten, als seien sie die normalsten der Welt. Wenn unser altes Auto mal wieder liegen blieb, sagten sie: »Ach, dann haben wir jetzt endlich mal wieder Zeit, zu reden.« Ging das Öl aus und die Heizung blieb kalt, meinte Daddy: »Wie schön. Dann schlafen wir alle in einem Bett und halten uns warm.«

So kam es, dass ich im Zug von Hamburg zurück nach Trier saß und auf meinem Schoß eine Kiste mit einem Huhn und sieben auszubrütenden Eiern balancierte. Meine Mitreisenden starrten mich schweigend an.

»Ich transportiere ein Hühnchen mit Eiern«, unterrichtete ich sie. »Und ich hoffe, dass während der Fahrt keines vorzeitig schlüpft. Sonst müssen wir alle Geburtshilfe leisten.«

Ich fand das lustig, doch das Schweigen hielt an. Am Ende war ich froh, in Trier aussteigen zu können. Zu Hause in Oberemmel sorgte mein Mitbringsel für Gesprächsstoff: Die Amis haben jetzt Hühner von einem Opernsänger.

Ich habe Uschi Moll später nie gefragt, ob ihr die Idee, mir ein Huhn mitzugeben, spontan eingefallen ist oder ob sie tatsächlich gedacht hat, das arme Kind brauche etwas Ablenkung auf der langen Zugreise. Während meiner Zeit an der Musikhochschule war sie wie eine Mutter für mich, versorgte mich mit Kochrezepten und gab mir den einen oder anderen wichtigen Tipp fürs Leben. Als sich ihr Mann 2006 bei den Münchner Opernfestspielen offiziell von der Bühne verabschiedete, sang er die Rolle des Nachtwächters aus Richard Wagners Meistersingern von Nürnberg. Mir kam es vor, als ob sich ein Kreis schließe.

Stolpersteine ins Glück

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