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Kapitel 2 Erste Gesangserfahrungen

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Nachdem Daddy 1978 sein Studium als Opernsänger abgeschlossen hatte, sahen er und Mommy sich nach einem Engagement um. Nun liegen die nicht gerade auf der Straße. Leider stimmt es nicht, dass alle Opernsänger gutes Geld verdienen. Dafür müssen sie schon zum Superstar werden und nur ganz Wenige schaffen das. Daddy sollte eines Tages diese höchste Stufe der Karriereleiter erreichen, doch am Anfang musste er sich ganz schön strecken. Daher stand außer Frage, als ein Angebot vom Opernhaus Trier eintrudelte, dass wir mit wehenden Fahnen München verlassen würden. Ich war sieben Jahre alt und ahnte nicht, dass es 15 Jahre dauern sollte, bis ich unter ganz besonderen Umständen in die Stadt an der Isar zurückkehrte. Wieder fiel mir der Abschied schwer und irgendwann fragte ich Mommy: »Kann ich nicht dableiben? Ihr könnt mich ja besuchen, wann immer ihr wollt!« Ich stellte mir vor, wie ich bei einer wildfremden Familie unterkriechen würde, zusammen mit meinem Lieblingspudel »Funny Girl«, der seinen Namen nach dem gleichnamigen Film mit Barbra Streisand erhalten hatte. Zu dem gesellte sich Pudel »Arabella«, der so hieß, weil Daddy gerade die Werke von Richard Strauss einstudierte. Warum sollte ich nicht mit den beiden Hunden an dem Ort bleiben, den ich kannte und liebte? Noch ahnte ich nicht, dass dieser erste Anflug von Heimatlosigkeit und Einsamkeit mich noch viele Jahre lang begleiten sollte.

Meine Eltern besaßen zu dieser Zeit einen alten VW-Bus, in den all unsere Habseligkeiten passten. Daddy störte es nicht, dass auf der Beifahrerseite ein tellergroßes Loch im Boden war, doch Mommy bekam es mit der Angst zu tun.

»Lewis, kannst du das Loch nicht zumachen?«, fragt sie.

»Natürlich, Sweetheart«, antwortet Daddy. Liebevoll legte er ein Stück Pappe darüber sowie eine Gummimatte und betrachtete zufrieden sein Werk. Später, als wir den VW-Bus ausluden, fand Mommy den bis oben gefüllten Mülleimer, den er eingepackt hatte.

»Man muss deinen Daddy nehmen, wie er ist«, seufzte sie. »Er singt wie ein Gott, doch von Autos und Umziehen hat er keine Ahnung.«

Unsere neue Heimat war Konz an der Mosel. Hier sah es anders aus als in München: Weinberge, so weit das Auge reichte, von denen manche so steil waren, dass mir schwindelig wurde. Das Städtchen mit seinen fünfzehntausend Einwohnern war nur ein paar Autominuten von Trier entfernt und Luxemburg erreichte man in einer Dreiviertelstunde. Es wäre eine Idylle gewesen, hätte es nicht die Eisenbahn gegeben: Durch seine strategische Lage an drei wichtigen Linien besaß Konz gleich vier innerstädtische Bahnhöfe und alle Züge fuhren an unserem Haus vorbei. Doch egal – wir hatten wieder ein Dach überm Kopf, lebten nur ein paar Meter von der Mosel entfernt und hatten einen Garten hinterm Haus, in dem Mommy Gemüse anpflanzen wollte. Noch war aber Winter und das Geld reichte nur, um die Küche einzuheizen, alle anderen Räume blieben kalt. Wobei »kalt« die Dinge nicht richtig beschreibt: Das Haus in Konz habe ich als Eisschrank in Erinnerung. Da mittlerweile die Ärmel meines Wintermantels nur noch knapp bis an die Unterarme reichten, fiel das auf. Helmut Philipp, ein Steuerberater und Opernfan aus Konz, beobachtete, wie der Mantel kürzer und kürzer wurde. Eines Tages sprach er meine Eltern an. Als Opernkenner kannte er die Gehaltsklasse von Daddy. Ich weiß nicht, was sie besprochen haben, doch eines Tages holte mich Helmut Philipp von der Schule ab, lud mich in ein Fisch-restaurant ein – es war das erste Mal, dass ich in einem Restaurant aß – und führte mich anschließend ins beste Modegeschäft von Trier. Dort kaufte er mir einen Wintermantel. Letztes Jahr konnte ich mich endlich für seine Großzügigkeit bedanken.

Auch in Konz standen nur wenige Möbel im Haus, dafür hatten wir ein Klavier, dass Daddy jemandem für hundert Mark abgekauft hatte. Ich liebte den geschwungenen Korpus des Instruments und seinen warmen Klang. Mein Lieblingsplatz war darunter. Dort verbrachte ich meine Tage, während Daddy übte: In diesen heiligen Hallen kennt man die Rache nicht aus der Zauberflöte von Wolfgang Amadeus Mozart, Ha, wie will ich triumphieren aus der Entführung aus dem Serail, die Arie des Kaspar aus Carl Maria Webers Freischütz, den Baron Ochs auf Lerchenau aus Richard Strauss’ Rosenkavalier und, und, und. Irgendwann kannte ich alle Bassarien auswendig, was mir Jahre später während meines Gesangstudiums nicht weiterhelfen sollte, weil ich keine einzige Sopranarie kannte. Wahrscheinlich wurde ich in dieser Zeit zum »Daddykind«. Ich liebte es, ihn singen zu hören – seine Stimme hatte bereits diese magische Anziehungskraft, der ich nicht widerstehen konnte – und hing ständig an seinem Rockzipfel.

Als ich acht Jahre wurde, geschah etwas Wunderbares. Meine Patentante Judith lud mich nach London ein. Das Beste war: Ich durfte allein fliegen. Meine Eltern brachten mich zum Luxemburger Flughafen und ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Das fühlte sich wunderbar an: Judith, die Welt gehört dir! Ich fühlte mich so richtig erwachsen und zu jedem Abenteuer bereit.

Meiner Tante Judith habe ich vieles zu verdanken. Ohne sie wäre ich vielleicht nicht einmal da. Schließlich hat sie es geschafft, meine Eltern zusammenzubringen, was nicht einfach gewesen ist. Das geschah in der Zeit, als Mommy und Daddy noch in Salt Lake City lebten, ohne von-einander zu wissen. Mommy studierte Schauspiel an der Universität von Utah, und Auftritt Tante Judith: sie unterrichtete dort die Schauspielklasse.

»Ich habe sofort gedacht: Deine Mommy wäre die Richtige für meinen verrückten Bruder«, erzählte sie mir später mit einem Lächeln. »Für den war ja sonst keine gut genug, doch Gaye hatte dieses gewisse Etwas. Ich wollte unbedingt, dass sich die beiden kennenlernen.«

Mommy sah das ein bisschen anders. »Puh«, dachte sie, »bei diesem Kerl muss die Schwester die Dates ausmachen. Das kann ja nichts werden.«

Zunächst behielt sie recht. Meine Eltern telefonierten ein einziges Mal miteinander, danach meldete sich Daddy monatelang nicht mehr. Dann wollten sie sich doch wieder treffen und er versprach, Mommy abzuholen. Sie wohnte damals mit zwei Studentinnen in einer Wohnung und als Daddy dort ankam, war sie noch nicht fertig. Damals wusste er noch nicht, was wir mittlerweile alle wissen: Mommy ist der unpünktlichste Mensch auf der Welt. Der Running Gag meiner Schulzeit war: Die kleine Judith wartet auf ihre Mama, die erst Stunden später auftauchen wird. Doch damals gab es die kleine Judith nicht und an diesem Abend dachte sicher auch keiner der beiden an sie.

»Ich musste mich zwei geschlagene Stunden lang mit der alten Vermieterin unterhalten«, erinnert sich Daddy noch heute. »Und warum das Ganze? Weil deine Mom erst ihr Kleid fertig nähen musste. Als sie dann die Treppe herabkam, war es auch noch lila. Ich dachte: ›Oh Gott, was für ein furchtbares Kleid – und was für eine wunderbare Frau.‹ In diesem Moment wusste ich: Die werde ich heiraten – wenn sie was anderes anzieht.«

Vor der Hochzeit stand der Gang zu den Schwiegereltern in spe an. Daddy flog nach Montana, um seine Eltern »gut vorzubereiten«. Mommy kam nach und wunderte sich nach einer Woche, warum das Thema Hochzeit nie angesprochen wurde. Vielleicht sollte sie das tun? Während eines Abendessens legte sie das Besteck zur Seite, räusperte sich und sagte: »Wie ihr wisst, hat mir Lewis einen Antrag gemacht. Lasst uns doch mal über die Hochzeit sprechen.«

Im nächsten Augenblick hätte man eine Stecknadel auf den Boden fallen hören können. Dann stand Großmutter auf und sagte nur: »Welche Hochzeit? Es gibt keine Hochzeit!«

Als mir Mommy später die Geschichte erzählte, fragte ich empört: »Wie konntest du ihn nach dieser Blamage überhaupt noch nehmen?« Ich erinnere mich, wie sie mit der Schulter zuckte und antwortete: »Ich liebte ihn und wenn man das tut, kommt es nicht auf ein paar Fehler an. Liebe ist größer als Eitelkeit.«

Trotzdem muss es für sie schmerzhaft gewesen sein, nach dem unglückseligen Abendessen allein nach Salt Lake City zurückzufliegen. Wieder ging ein halbes Jahr ins Land, ohne dass Entscheidendes geschah. In dieser Zeit war sich Daddy wohl über vieles nicht klar: Sollte er Gesang studieren? Oder Journalist werden? Oder Tierarzt? Wie sagt man so schön: Liebe ist, wenn man die Nähe des anderen braucht, um sich glücklich zu fühlen. Genau das war der entscheidende Grund, der Mommy und Daddy am Ende doch noch zueinander führte. Und wenn sie heute auf über 44 Jahre Ehe zurückblicken, kommen ihnen hin und wieder zwei andere Sprichwörter in den Sinn: Aller Anfang ist schwer – doch Ende gut, alles gut.

Den Grundstein zu ihrer Verbindung hatte also Tante Judith gelegt. Daddy und Mommy zogen nach Deutschland und einige Zeit später verließ auch sie die Vereinigten Staaten. Swinging London hieß ihr Ziel, der Olymp der Jugend, die Modemetropole, dort, wo eine gewisse Mary Quant gerade den Minirock erfunden hatte. Das war eine andere Nummer als das mormonisch geprägte Salt Lake City. Tante Judith war Schauspielerin und Coach für Dialekte und hatte Leute wie Robert Redford, Dustin Hoffman und Brad Pitt in New York unterrichtet, als sie den Briten Brian Cooper kennenlernte, einen renommierten Journalisten, dessen Vater die Nürnberger Prozesse als Kriegsberichterstatter vom Anfang bis zum Ende begleitet hatte. Brians Heimat wurde auch ihre.

Nun war also London mein Ziel und Tante Judith tat alles, damit ich die Tage dort nie vergesse. Sie führte mich zum Buckingham Palace, wo wir die Zeremonie der Wachablösung beobachteten – ich mit offenem Mund. Im Tower of London sahen wir uns die Kronjuwelen an und als wir vor der Krone »Imperial State Crown« standen, scherzte Tante Judith: »2.868 Diamanten stecken darin, darunter einer der größten der Welt. Wenn die Queen diese Krone auf dem Kopf trägt, braucht sie keinen Geldbeutel, wenn sie sich was kaufen will.« Jetzt bekam ich den Mund gar nicht mehr zu! Wie aufregend die Welt doch war! Dann nahm mich Tante Judith mit zu einem Teehaus, zeigte mir Big Ben und den riesigen Hyde Park und als ich nach einer Woche nach Hause flog, nahm ich mir vor, irgendwann, wenn ich groß war, auch so eine Krone zu tragen.

Zu Hause herrschte jetzt noch mehr Trubel. Seit einem Jahr war meine Schwester auf der Welt und sicher nicht nur, weil ich nach dem Auszug aus dem Haus von James King meine Eltern gepiesackt hatte, wie sehr ich mir ein Geschwisterchen mit kleinen Füßchen und rosa Zehen wünschte. Jetzt war Elisabeth Alexandra da – dieses Mal wurde der Name nicht mehr geändert – und von heute auf morgen verwandelte ich mich in eine Löwenmutter. Wehe, wenn jemand ihr was zuleide tat! Wie zum Beispiel Felix, der freche Nachbarsjunge von gegenüber. Er wagte es tatsächlich, Elisabeth einen Regenwurm in die Windel zu stopfen! Ich lief zu Mommy und mit der Ernsthaftigkeit eines siebenjährigen Mädchens sagte ich: »Entweder du kümmerst dich darum oder ich erledige das.« Schon damals konnte jeder spüren: die Familie war mir heilig und ich würde sie verteidigen, komme was wolle. Meine Mommy sah mich an und lachte: »Du hast den Kampfgeist deiner Ahnen. Wusstest du eigentlich, dass sie Pioniere waren? Deine Vorfahren gehörten zu den ersten Siedlern Amerikas!«

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