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Wasser und Türme
ОглавлениеAls gebürtiger Kölner und mit Rheinwasser getauft, habe er in seiner neuen Heimatstadt Aachen vor allem Wasser vermisst, sagte Coster. Der Stadt fehle ein ordentliches Fließgewässer, und das größte stehende Gewässer sei ein Weiher. Das wäre um so seltsamer, als Aachen auf Lateinisch aqua, Wasser, zurückgehe, was auf die heißen Quellen verweise, die schon die Römer in Thermen genutzt hatten. Auch das hinter Aachen aus seinem unterirdischen Lauf hervortretende Flüsschen Wurm bedeute eigentlich „warm“, weil es aus den heißen Quellen gespeist werde.
Die Aachener hätten im 19. Jahrhundert den Fehler gemacht, alle Bachläufe ins unterirdische Kanalsystem einzuleiten. Mit dem Versuch, wenigstens den Johannisbach wieder ans Licht zu holen, sei man in den 1990-er Jahren kläglich gescheitert und habe statt eines intakten Bachlaufs nur ein oberirdisch kanalisiertes Rinnsal zustande gebracht, dessen klares Wasser zwar hübsch über die Straße Annuntiatenbach plätschere, aber eigentlich ein Hohn sei. Da könne man jeden Aachener fragen.
Daher, fuhr Coster fort, habe er bei einem Besuch Hannovers dessen Wasserreichtum geschätzt. Als er aber einmal gesehen habe, wie Leine und Ihme über die Ufer getreten waren, habe ihn die lehmigtrübe Färbung des Wassers nahezu entsetzt. Es müssen bei solchen Überschwemmungen Unmengen fruchtbaren Bodens von den Feldern des Umlandes weggeschwemmt werden, eine Form der Erosion, die sicher nicht unterschätzt werden dürfe.
Einmal sei er am Ende einer Fahrt durch die Eifel an einen Fluss gelangt. Wie es schien, war es die Mosel. Da sei eine Bäckerei mit einem Café gewesen, wo er eingekehrt sei. Er habe als einziger Gast unten in der lichten Stube gesessen, bei ihm die Bäckerin. Durch die kleinen Fenster zu seiner Rechten habe er auf die Straße sehen können. Der Raum habe etwas unterhalb des Straßenniveaus gelegen. Plötzlich habe er gewahrt, dass dort gar keine Straße war, sondern auf Augenhöhe und über seinen Kopf hinweg die Wogen der Mosel vorbeirauschten. Er habe selten so prächtige klare Wogen gesehen, und ihr lichtes schimmerndes Grün wäre einzigartig gewesen. Die Wogen wären so hoch gegangen, dass durch die leicht geöffneten Fenster die Gischt hereingeflogen kam. Die Bäckerin habe nur kurz „huch!“ gerufen, doch ihn habe das Schauspiel geängstigt, so dass er die Bäckerin gebeten habe, die Fenster zu schließen, was sie mehr erstaunt als überzeugt getan habe.
„Hören Sie, Coster!“, sagte ich, „ich schätze Sie als integren Mann. Aber das können Sie unmöglich an der Mosel erlebt haben. Solche klaren Wasser führt vielleicht ein Fluss, der aus dem Hochgebirge kommt, und statt Ackerböden nur Felsbrocken und Steine mitreißen kann, die er rundschleift zu Kieseln, die aber sein Wasser nicht trüben. Ich sah derlei nur an der Isar bei München.“
„In meiner Welt ist das auch an der Mosel möglich“, sagte Coster. „In meiner Welt betrat ich bald darauf ein Haus, das sich gewaltig in die Höhe erstreckte. In den unteren Räumen tummelten sich viele festlich gekleidete Menschen. Eine Weile ging ich auf dem Fest umher, dann aber war ich der Menschen überdrüssig und stieg die Treppe hinauf. Hinauf und hinauf, so weit ich konnte. Die Treppe endete an einer Tür. Als ich sie öffnete, stand ich hoch über einem leeren Großraumbüro. Eine kurze Metalltreppe führte ins Büro hinab. Ich erinnere mich, wie hell und laut meine Schritte auf den Stufen klangen, so dass ich Angst bekam, mich würde jemand hören. Plötzlich öffnete sich im hinteren Teil des Raums eine Tür und heraus kam ein finsterer Mann, der einen großen schwarzen Hund an der Leine führte. Der Mann wirkte so bedrohlich, dass ich mich hinter einem Schreibtisch verbarg und stiekum hervorlugend seinen Weg quer durch den Raum verfolgte. Er ging auf eine Wand zu und verschwand mitsamt seinem Hund, ohne dass ich ihn hätte eine Tür öffnen sehen. Nach einer ganzen Weile traute ich mich hervor, ging vorsichtig zur Wand, um zu sehen, wo er verschwunden war. Ich fand eine Holztäfelung, und in einem großen Fach war eine Intarsie. Da war mit verschiedenfarbigen Hölzern ein lebensgroßes Bild des Mannes mit seinem Hund eingelegt. Er starrte mich finster an und wirkte noch bedrohlicher als eben, als könnte er jeden Moment aus dem hölzernen Bild hervortreten und seinen zähnefletschenden Hund auf mich hetzen. Ich erschrak und flüchtete zu der Tür, aus der er gekommen war. Sie führte auf eine Plattform hinaus. Von ihr aus sah ich, dass das Haus noch viel höher aufragte als ich gedacht hatte und hätte steigen können. Denn die Treppe endete wie gesagt im Großraumbüro. Hoch oben in den Wolken schien ein Hubschrauberlandeplatz zu sein. Ich hörte ganz leise das Flapflap eines Propellers. Nebenan ragte eine Kirche auf. Ich stand auf der Höhe ihrer Turmgalerie. Da waren einige Menschen, winkten aufgeregt zu mir herüber und riefen etwas. Aber ich sah nur ihre aufgerissenen Münder. Kein Ton drang an mein Ohr.“
„Was erzählen Sie denn da, Coster?“, fragte ich. „Das alles klingt doch, als hätten Sie es geträumt. Aber das Unheimlichste daran ist, Sie sind meines Wissens ziemlich genau seit vier Jahren tot. Ich habe Ihre Asche mit eigenen Händen auf dem Vaalser Berg verstreut.“
Coster grinste, und ich erwachte.