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Ein beinah perfekter Sommertag
ОглавлениеGut 25 Jahre habe ich in Aachen gelebt. Darum bin ich durchaus an Touristen gewöhnt. Zu jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter hat man sie in der historischen Altstadt um Stadtführer stehen sehen und gaffen. Doch in letzter Zeit schwärmen solche auch durch Hannover-Linden. Sie kommen garantiert nicht von weit her, sind vermutlich überwiegend aus Hannover und wollen mal sehen, wie es ist im angesagtesten Stadtteil Hannovers. Es gibt hier eigentlich nicht viel zu sehen, es geht mehr um Ideelles. Beworben werden die Linden-erleben-Führungen so:
„Erlebt mit uns Hannover-Linden kulturell und lebensnah! Einst Arbeiterviertel mit eigensinnigen Bewohnern avanciert der Stadtteil heute zum Szenebezirk für Nachtschwärmer und Kreative. Diesen Entwicklungen spüren wir auf unseren Führungen durch Linden nach. Auf einem unterhaltsamen Rundgang taucht ihr in Geschichte, Lebensart und Kultur dieses belebten Viertels ein!“
Hallo?! Geht’s noch?
„Unsere City-Guides, die die Touren und Events begleiten, nennen wir liebevoll unsere Stadtgören und Kiezbengel. Sie sind das Herzstück von Living Culture Tours und genau mit der richtigen Prise Verrücktheit gesegnet, die wir brauchen!“
„Do maachen se en Kölle kei Finster för op“, meint in meiner Heimat etwas Belangloses, wenn ich etwa wüsste, wie die erste Briefmarke Deutschlands heißt. Für dieses Wissen öffnen die Kölner nicht mal ein Fenster. Etwas anderes wäre es, wenn ich beispielsweise einer Frau meine Briefmarkensammlung zeigen und stolz den Schwarzen Einser präsentieren könnte. Das würde ich aber nie machen. Wenn ich mich auf schräge Weise interessant machen wollte, würde ich mir eine tote Fliege an den Lidrand kleben, dass es aussieht, als würde die Fliege von meinem Augenwasser trinken.
Es hätte ein fast perfekter Sommertag in Linden sein können. Fräulein Schlicht trug ein hübsches Sommerkleid und hatte mir eine leckere Linsensuppe serviert. Weil sie noch zu heiß war, schrieb ich derweil etwas Belangloses in mein Notizbüchlein. Wenn ich hochschaute, hatte ich die prächtige Fassade eines Gründerzeithauses vor Augen. Im Vorgarten hatten einige Frauen sich zum ausgedehnten Frühstück versammelt. Ich hörte sie plaudern, denn Autoverkehr gibt’s hier nicht, nur ab und zu zieht stoisch eine Straßenbahn vorbei.
„Man kann durchaus schlechter sitzen als hier“, schrieb ich in mein Büchlein und arrangierte die putzigen Salz- und Pfeffergläschen für ein Foto. Plötzlich tauchte eine oben angedrohte „Stadtgöre“ mit einer Touristengruppe auf. Man versammelt sich schräg gegenüber vor dem Café K, und dann schwärmt die „Prise Verrücktheit“ vom Betreiber, dem gelernten Konditor Ralf Schnoor. Der berühmte Mann habe bei „Wer wird Millionär“ die Millionenfrage geknackt, nämlich die nach dem „Schwarzen Einser“, habe die Antwort gewusst, aber der Show wegen noch seinen Telefonjoker angerufen. Als erstes habe Schnoor angekündigt, von der Million seinen Mitarbeitern das Gehalt zu erhöhen und … dass er zu jedem Kaffee eine selbstgemachte Praline kredenzen würde, werde man gleich erleben.
Nach einem Schluck Espresso im Stehen mit Praline bewegte sich die Horde herüber und scharte sich um mich.
„Und hier vor dem Lokal „Fräulein Schlicht“ sitzt ein Mann, der gerade etwas in sein Notizbuch schreibt.“
„Was schreibt er denn?“, fragte ein älterer Mann in beigen Sachen.
„Was schreiben Sie denn?“
„Das geht keinen was an oder glauben Sie, dass ich zum Inventar gehöre, dass mich Fräulein Schlicht dafür bezahlt, vorm Haus zu sitzen und etwas ins Büchlein zu schreiben?“
„Nicht?“
„Nein. Ich esse hier meine Suppe.“
„Vermutlich hat der Mann gar nichts aufgeschrieben, sondern nur Maumännchen gemalt“, rief der Alte hämisch.
„Doch! Ich kann es nur kaum noch lesen. Niedergang der Handschrift, Sie verstehen?“
„Zieren Sie sich nicht so und lesen Sie schon!“
Ich steckte die Nase ins Büchlein und konnte mein Gekrakel kaum entziffern:
„Die Stadtführerin wird von weißen Hornochsen begleitet.“
Mist, verlesen!
„Die Stadtführerin wird von einer weißen Hose begleitet.“
Ach nein, ist wieder falsch!
„Die Stadtführerin ist mit einer weißen Hose bekleidet.“
So ist’s recht. Die Stadtführerin atmet auf: „Vielen Dank, das genügt. Bitte entschuldigen Sie die Störung. Es war nur, weil an Ihrem Auge eine Fliege sitzt, die von Ihrem Augenwasser zu trinken scheint. Das ist ja so interessant!“