Читать книгу Weltenreise - Julia Beylouny - Страница 22

Kapitel 18

Оглавление

Kriemhild

Die Sonne ging über der Buzzards Bay unter. Kriemhild lief am Strand entlang, begleitet von Margrets Geschichte. Fast sah sie, wie Sues kleine Fußspuren sich neben ihren in den weichen Sand schmiegten. Konnte es Schlimmeres geben, als das eigene Baby sterben zu sehen?

Ihre Wehmut wandelte sich in Sehnsucht, als sie sich dabei ertappte, wie sie immer wieder zu den Dünen hinüber blickte. Vor allem zu der Stelle, an der Samuel sonst saß. Zu ihrer Enttäuschung hielt er sein Versprechen, dass sie ihn nie wiedersehen würde, nachdem sie ihm in der Sache mit seinem Vater beigestanden hatte. Sam blieb ihr ein einziges Rätsel. Sie rief sich die Szene mit Amy in Erinnerung. Seine Schwester hatte sich ihr an dem Tag weder vorgestellt, noch irgendwas gesagt. Oder litt Sushi-Sam an Verfolgungswahn? Ein zweiter Justus?

„Hallo, Kate!“

Kriemhild fuhr herum. Jemand rannte auf sie zu. Barfuß – wie sie selbst. Im Dämmerlicht erkannte sie Brooke.

„Hi!“ Kriemhild hieß die Ablenkung willkommen.

„Wie geht es dir? Oh mein Gott, tut es gut, dich leibhaftig und lebendig wiederzusehen! Obschon ich ja zugeben muss, dass ich auf der Party am Pier mächtig eifersüchtig war und mir vielleicht für den Bruchteil einer Sekunde gewünscht habe, du wärest tot, nur damit ich auch eine Chance bei den Jungs hätte. Verzeih mir, ich weiß, ich bin ein Esel!“

„Was tust du um diese Zeit am Strand, Brooke?”

„Ich hatte gehofft, dich hier zu treffen, um ehrlich zu sein. Ich musste den ganzen Tag in der Pension meiner Eltern aushelfen. Erwähnte ich schon, dass Ferien sind? Jedenfalls habe ich mich eben aus dem Staub gemacht. Ich musste dich unbedingt sprechen. Bitte verzeih mir, dass ich dich mit Jason allein gelassen habe. Es war falsch. Ich hätte mir denken können, was er vorhat. Bitte, vergibst du mir?“

Brooke hatte denselben bettelnden Blick wie Jacob bei Tisch. Kriemhild musste lachen und fiel ihr in die Arme.

„Oh, das heißt ja, hab ich Recht? Ja, du vergibst mir? Das ist gut, dann habe ich meine Freundin also nicht verloren.“

„Sei nicht immer so melodramatisch, Brooke! Natürlich war es nicht deine Schuld, was passiert ist. Sag mal, hast du Lust, morgen mit meinem Onkel, meiner Tante und mir rüber nach Martha’s Vineyard zu fahren? Sie wollen mir die Gegend zeigen.“

„Was? Ehrlich? Selbstverständlich komme ich mit! Danke für die Einladung. Das wird ein Tag, den du so schnell nicht vergessen wirst, glaub mir. Und jetzt will ich wissen, wie das mit Sushi-Sam war, als er dich aus dem Meer gerettet hat. Alles. Und vergiss ja die kleinen Details nicht. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Oh, das ist ja wie im Film! Irgendwie romantisch, findest du nicht?“

Kriemhild schmunzelte.

„Nun ja, es war … essentiell. Was soll ich sagen? Ohne ihn wäre ich wohl nicht mehr hier.“

Essentiell? So nennst du es? Wie hast du ihm gedankt?“

„Tja, so richtig eigentlich noch nicht. Wie dankt man denn jemandem, der einem das Leben gerettet hat? Das ist schließlich kein alltäglicher Zustand.“

„Richtig. Ich habe keinen Schimmer. Vielleicht solltest du ihn heiraten. So ist es meistens im Film.“

„Danke, Brooke. Diesen Rat werde ich mir nicht zu Herzen nehmen. So, wie er sich mir gegenüber verhält, wäre es eher eine Strafe für ihn als ein Dank.“

Es wurde dunkler. Ein wunderschöner Mond ging auf und warf einen silbrigen Schein über die Wellen.

„Kate, ich muss heim. Wir sehen uns morgen. Danke, dass ihr mich mitnehmen wollt. Du wirst den Vineyard lieben!“

„Da bin ich mir sicher. Mach’s gut!“

Der nächste Tag begann früh. John wollte die Fähre um neun nehmen. Kriemhild hatte ziemlich schlecht geschlafen und zweifelte an der Idee, das Eiland zu besuchen. Einmal mehr lief der schreckliche Film vor ihren Augen ab. Sie bekam Schweißausbrüche und ihr Herz raste wie verrückt. Um sich zu beruhigen, schloss sie die Augen und atmete tief durch.

Das Erlebnis vom Pier hatte neues Öl auf ein altes Feuer gegossen. Es hätte nicht viel gefehlt und sie wäre ertrunken. Wenn Sam nicht … Samuel. Kriemhild lief ans Fenster und schaute in die Dünen. Er war nicht da. War es die Tatsache seiner Abwesenheit, die ihr den rastlosen, inneren Schmerz einpflanzte?

„Kriemhild, bist du wach?“ Jemand klopfte an ihre Tür. Schnell schob sie den Gedanken an Sam beiseite.

„Ja, Onkel John, ich komme gleich.“

Ein schmaler Streifen am Horizont – Martha’s Vineyard – lag höhnisch im Ozean. Fünfunddreißig Minuten auf einer Fähre! Ein halbes Leben für ein Trauma. Tante Margret trat lautlos herein und legte ihr die Hand auf die Schulter.

„Wie geht es dir, Kind?“

„Es geht. Danke.“ Kriemhilds Blick ruhte auf der Landzunge im Meer.

„Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, dass wir beide schlechte Lügner sind?“

„Du hast Recht, Tante. Um ehrlich zu sein, wenn ich an die Fähre denke kommen alle Erinnerungen an damals hoch. Vielleicht sollte ich besser hierbleiben.“

Margret lächelte und strich ihr über den Kopf.

„Willst du dich nicht endlich einmal deinen Ängsten stellen? Es ist so lange her und du hattest keine Schuld an dem, was passiert ist. Dein Vater würde wollen, dass du wieder hinausfährst. Er hat das Meer so geliebt.“

„Ja, das hat er. Er hat es so geliebt, dass er vergaß, wie unberechenbar es ist.“

Eine Träne trat in ihre Augen. Leise wischte sie sie fort.

„Komm, Kriemhild. Ich koche dir einen Beruhigungstee und dann fahrt ihr gemeinsam rüber. Glaub mir, es wird dir drüben auf der Insel gefallen. Und deine Freundin ist schließlich auch dabei.“

Die Island Queen lag schaukelnd im Hafen. Jeder Schritt, der sie ihr näher brachte, beschleunigte Kriemhilds Herzschlag. Onkel John besorgte die Fahrkarten und Brooke bemühte sich, ihr Wortpensum für den Tag einzuhalten. Zum ersten Mal war Kriemhild ihr sogar dankbar dafür.

„Hab ich schon gesagt, wie nett es ist, dass ihr mich mitnehmt? Nicht, dass ich noch nie zuvor auf dem Vineyard war, aber man sieht jedes Mal neue aufregende Dinge und fragt sich dann verblüfft: Waren die letztes Mal auch schon da? Ist es nicht herrliches Wetter? Schon richtig warm. Ich freu mich auf den Sommer! Wo ist eigentlich deine Tante? Wollte sie nicht mitkommen?“

Kriemhild nickte, ohne das feindselig wirkende Boot aus den Augen zu lassen.

„Sie ist daheimgeblieben, um eine kranke Freundin zu besuchen.“

„Ah, da vorne kommt dein Onkel. Los, wir gehen aufs Schiff. Zum Glück sind nicht allzu viele Touristen hier. Apropos Touristen. Gestern sind fünf Engländer angereist. Trockene Leute, sag ich dir. Eigentlich hätte ich in der Pension aushelfen müssen, aber ich habe meinen Eltern von deiner Einladung erzählt und betont, wie unhöflich es wäre, sie abzulehnen.“

Die Hälfte ihrer Worte prallte einfach an Kriemhild ab. Ihre zitternden Hände ballten sich zu Fäusten. Alles in ihr schrie nach Flucht.

„Bist du okay? Du siehst irgendwie blass aus.“ Brooke legte ihr den Arm um die Schulter und musterte die panischen Züge.

„Geht schon. Mir wird nur immer übel auf dem Wasser.“

„Seekrank, verstehe. Dazu kenne ich auch eine Story.“

Sie erzählte von einer High-School-Bekanntschaft, die sich ständig übergeben hatte, als sie mit einer Fähre unterwegs waren. Genau das, was man in so einer Situation hören wollte. Onkel John lächelte mitfühlend, nahm Kriemhilds Hand und half ihr die schmale Treppe hinauf. Jeder Mann mittleren Alters hatte das Aussehen ihres Vaters. Mit ratternden Motoren setzte sich das Schiff in Bewegung. Jeder Schlag der Schraube traf Kriemhilds Magengrube und all ihre Glieder erstarrten.

Sie verließen den Hafen von Falmouth. Kurz darauf begann eines der Crewmitglieder mit der Durchsage von Informationen über die Insel.

„Das ist nicht so wichtig“, meinte Brooke. „Ich kann dir nachher die wirklich interessanten Dinge erzählen, von denen dieser Fuzzi sicher keinen Schimmer hat. Wusstest du zum Beispiel, dass drüben Der weiße Hai und eine Folge der Gilmore Girls gedreht wurden? Oh, ich liebe die Gilmore Girls! Übrigens: Die Insel verdankt ihren Namen ihrem Entdecker. Er ging 1602 an Land und fand so viel wilden Wein vor, dass er sie gleich seiner Tochter Martha widmete. Wer weiß, vielleicht war Martha ja eine kleine Schnapsdrossel?“

Brooke kicherte spitzbübisch, bevor sie fortfuhr: „Tja, was gibt es noch zu erzählen? Letzten Sommer waren die Obamas hier. Sie mieteten sich ein zwölf Hektar großes Grundstück, dessen Kosten bei etwa 50 000 Dollar pro Woche lagen. Ist das nicht wahnsinnig viel Geld?“

Onkel John lachte leise. Scheinbar dachte er nicht mal daran, Brooke zu widersprechen.

Die Fähre überquerte das Wasser – dank Brookes Geplapper – ohne, dass Kriemhild ihre Ängste richtig ausleben konnte. Trotzdem wagte sie keinen Blick hinab in die Flut. Dort hätte sie vermutlich nichts weiter gesehen als das sterbende Gesicht ihres Vaters.

„Schau mal, dort drüben ist schon Vineyard Haven Harbour.“

Sie folgte Brookes Fingerzeig und fand einen kleinen weißen Leuchtturm, umgeben von rotgedeckten Häuschen. Erleichtert atmete sie auf. Ein idyllischer Anblick.

Die Island Queen ratterte durch eine kleine Bucht, rechts und links von ihr weiße Sandstrände, auf denen die typischen Häuser standen. Die weißen Sprossenfenster blickten sehnsüchtig aufs Meer hinaus, als warteten sie auf die Rückkehr verschollener Seefahrer. Sie hatten die Fahrt überstanden!

Im Hafen selbst lagen unzählige Segelboote und kleine Yachten vor Anker, die Kriemhild allesamt an ihren Vater erinnerten. Nie wieder, hatte sie sich geschworen. Ein Seufzer entfuhr ihren Lippen.

„Siehst du, du hast es überlebt. Er wäre stolz auf dich, was ich übrigens auch bin.“ Onkel John lächelte, was seine Falten noch freundlicher erscheinen ließ.

„Ja, vielleicht wäre er das“, gab Kriemhild zurück. „Danke.“

Es gab so viel zu berichten, als sie am Nachmittag voller Eindrücke zurückkehrten. Margret hörte geduldig zu. Ihre Tante hatte ihnen einen wunderbaren Picknickkorb mitgegeben. Obwohl die vielen Dinge darin vorzüglich geschmeckt hatten, hatten John und Brooke Kriemhild in Oaks Bluff zum Hummeressen eingeladen, nachdem sie unzählige, malerische Orte des Eilands aufgesucht hatten.

„Vielen Dank, Onkel John! Ihr habt mir einen wunderschönen Tag bereitet. Die kitschig bunten Methodistenhäuser … All diese herrlichen Wälder und wilden Strände! Schade, dass du nicht mitgekommen bist, Tante.“

John lächelte. „Es freut mich, dass es dir so gut gefallen hat. Das wurde auch mal Zeit, nach allem, was du hier bisher erlebt hast.“

„Ich bin stolz auf dich, Kriemhild.“ Margret tätschelte ihr die Wangen. „Heute Morgen hatte ich einen Moment lang meine Zweifel, ob du tatsächlich auf diese Fähre steigst. Auch mein Tag war schön. Wisst ihr, Catherine hat sich sehr über meinen Besuch gefreut. Hat der Picknickkorb geschmeckt?“

„Was für eine Frage, Tante! Du bist einfach unschlagbar. Fast wie Brookes Mundwerk!“

Das Klingeln des Telefons unterbrach ihr Gespräch und Margret blickte auf.

„John, würdest du bitte rangehen? Es schellt schon wieder.“

Er nickte und erhob sich, bevor Tante Margret fortfuhr. „Das Mundwerk hat die Delaware von ihrer Mutter, wenn du mich fragst. Ich wette, sie hat dich gut abgelenkt, was die Überfahrt angeht, Liebes.“

„Oh ja! Dank ihrem Geplapper ging alles recht schnell und schmerzlos.“

„Kriemhild?“, rief John aus dem Flur. „Hier ist ein Gespräch für dich, aus Deutschland.”

„Für mich? Ist es etwa Ma?“ Sie sprang aus dem Sessel und lief zu ihm hinüber. „Nein. Wenn ich es richtig verstanden habe, eine Sara.“ Voller Freude riss sie ihm den Hörer aus den Händen.

„Sara! Schön, dass du anrufst!”

„Hi, Kriemhild! Ich wollte mich für die Postkarte bedanken.“ Die Stimme ihrer besten Freundin klang so nah und so vertraut.

„Oh, ist sie schon angekommen? Wie geht es dir, Sara? Schade, dass du nicht hier sein kannst. Du würdest es lieben! Stell dir vor, wir haben den Tag auf Martha’s Vineyard verbracht!“

„Hör zu, Kriemhild …“ Etwas Bedrückendes lag in ihren Worten. „Hier ist jemand, der dich sprechen will. Es … es tut mir leid. Ich wollte das alles nicht aber … er hat gedroht, diese Sache mit Martin vor meinen Eltern auffliegen zu lassen, du weißt schon … Sorry, Süße.“

Ein plötzlich auftretendes Zittern schüttelte den Telefonhörer. Die Freude über Saras Anruf verwandelte sich in einen beklemmenden Schmerz, der Kriemhild die Luft abschnürte.

„Bitte, rede mit ihm, hörst du? Er besteht darauf“, flehte Sara.

Martin! Wieso hatte sie auch mit ihrem Lehrer geknutscht und sich dabei von Justus erwischen lassen? Es folgte ein Rascheln in der Leitung, dann hörte Kriemhild Justus’ Atem ganz dicht an ihrem Ohr. Er klang erregt. Der reinste Albtraum. Sie stand dort wie gelähmt und das Blut gefror in ihren Adern.

„Hallo, Schätzchen“, flüsterte er. „Wieso reagierst du nicht auf meine Kurzmitteilungen? Hast du dein Handy nicht dabei?“

„Hallo, Justus.“ Sie bemühte sich, die Angst in ihrer Stimme zu unterdrücken. „Ich habe … mein Handy ist verloren gegangen.“

„Oh, das tut mir leid. Wo steckst du? Ich muss unbedingt mit dir reden. Ist es wahr, dass du in den Staaten bist?“

Er kontrollierte sie noch immer. Es war sinnlos, zu lügen.

„Ich besuche meine Verwandten. Was willst du, Justus? Ich wüsste nicht, was es zwischen uns zu sagen gibt.“

Er lachte leise. Das grausame, irre Lachen überzog Kriemhilds Arme mit einer Gänsehaut.

„Jetzt bist du mutig, weil du weit genug von mir weg bist“, flüsterte er. „Weißt du, ich vermisse dich. Deinen Geruch, deine Augen, deine weiche Stimme. Was machen die Jungs so in Boston? Pass auf, dass dich niemand anfasst, sonst bekommt er es mit mir zu tun. Ich hoffe, du weißt das.“

Ihre Hand zitterte so stark, dass sie Mühe hatte, den Hörer nicht fallen zu lassen.

Lass mich in Ruhe! Kapiert? Es geht dich einen Dreck an, mit wem ich mich treffe! Wir sind nicht zusammen! Um genau zu sein, waren wir es nie! Also ruf mich nie wieder an und vor allem: Lass Sara in Frieden! Sie hat mit der Sache nichts zu tun.“

„Ja, die kleine, unschuldige Sara. Vergiss mich nicht, Kriemhild. Du kannst dich nicht ewig vor mir verstecken. Ich weiß, dass du mich liebst. Du liebst mich und deine Spielchen treiben mich langsam in den Wahnsinn. Lass mich nicht zu lange warten, Schätzchen.“

Ein letztes begehrendes Schnaufen, dann das Hupen in der Leitung. Kriemhilds Knie gaben nach und sie folgte dem Hörer auf den Boden.

„Um Himmels Willen! Was ist denn hier passiert?“ Margret stürzte in den Flur.

„Justus. Es war Justus. Er hat mir gedroht.“ Kriemhilds Stimme war nur ein Flüstern. „Er hat Sara gezwungen, hier anzurufen und … er hat mir gedroht.“

„Komm her, alles ist gut. Es war nur ein Anruf, weiter nichts. Er kann dir nichts tun, Liebes.“ Margret nahm sie in die Arme und strich ihr über die Haare.

Weltenreise

Подняться наверх