Читать книгу Weltenreise - Julia Beylouny - Страница 27
Kapitel 23
ОглавлениеSamuel
Er wusste schon lange, dass nie der Hauch einer Chance bestanden hatte, ihr zu widerstehen. Seit der ersten Sekunde, als er sie dort unten am Strand bemerkt hatte, war er ihr mit Haut und Haaren verfallen; ob Mensch oder nicht. Jene erste Begegnung hatte sich in sein Herz gebrannt. Sam schloss die Augen und sah Kriemhild wieder vor sich; wie sie durch die Brandung spazierte und ihr Blick dabei voller Sehnsucht über das Meer geschaut hatte. Sie war anders als jedes Mädchen, das er kannte. Ein ruhender Pol in sich, der trotz allem vor Leben und Leidenschaft sprühte. Es gab nicht viele Menschen, von denen er behauptet hätte, dass sie die Welt sahen. Doch Kriemhild sah sie; sah die Schönheit der Natur, die Ruhe und das Flüstern der Wellen, sah das Lichtspiel der Sonne, wenn sie auf- oder unterging. All ihre Sinne waren ausgelegt auf das, wozu sie geschaffen waren: Kleine Wunder zu entdecken und sie dankbar und voller Ehrfurcht in sich aufzunehmen.
Das alles hatte er in der kurzen Zeit an ihr bemerkt, in der wenigen Zeit, die er bisher mit ihr verbracht hatte und die sich mit jeder Sekunde angefühlt hatte wie eine Ewigkeit.
Und dennoch musste Samuel sich über ein paar Dinge klarwerden. Wer hätte gedacht, dass er sich je verlieben würde? Noch dazu in eine von denen! Aber wie würde Jason wohl sagen?
Man will immer genau das, was man nicht haben kann.
Doch in Samuels Fall war der Satz nicht ganz korrekt. Er wollte Kriemhild nicht, weil er sie nicht haben durfte. Er wollte sie um ihrer Selbstwillen.
Sam hatte ihr versprochen, sie nie wiederzusehen. Daran musste er sich halten. Doch mit jedem Tag, der verstrich, spürte er sie stärker in seinem Kopf. Sie war dort. Sie suchte nach ihm. Erst leise, dass er dachte, er bilde sich alles nur ein. Dann nahm die Verbindung zu. Er spürte sie so stark, dass es beinahe schmerzte. Und es war nicht er, der das Band aufnahm. Samuel zog sich zurück, um abzuwarten, was geschehen würde. Vielleicht hoffte er darauf, dass sie ihn vergaß. Dann würde nur eine Wunde in seinem Herzen hinterbleiben, nicht aber in ihrem. Damit könnte er leben.
Doch sie vergaß ihn nicht. Nach etwa einer Woche schmerzte sein Kopf so stark, dass er es nicht mehr aushielt. Er musste Gewissheit haben. Er musste sie sehen, um zu wissen, was sie fühlte, und er musste sie sehen, ohne, dass sie bemerkte, dass es tatsächlich geschah.
Lange zweifelte er an der Methode; sie war nicht wirklich legal. Aber ihm blieb keine Wahl, es gab zu viel, das ihn momentan beschäftigte. Vielleicht würde sich die Sache endlich aufklären und sein Kopf würde freier werden.
Samuel wartete ab, bis er allein war. Seine Eltern und Amy waren so mit der bevorstehenden Hochzeit beschäftigt, dass sie es nicht einmal bemerken würden. Oder sie würden denken, er sei auf der Jagd.
Er ging hinaus zu den Klippen und schaute in die Wellen, die sich am Fuß des Felsen kräuselten. Die Sonne stand nicht mehr allzu hoch am Himmel; in ein paar Stunden würde sie in den Fluten versinken. Bis dahin musste er zurück sein. Die Frage war, ob seine Beine mitspielten. Samuel war so oft von dort oben gesprungen, doch an dem Tag sah er hinab und wusste, dass es nicht nur die zwanzig Meter Steilklippe waren, die ihn von dem trennten, wonach er suchen musste.
Er schloss die Augen und sog die salzige Brise ein, das leise Säuseln, das ihn mehr und mehr einlullte. Ein unbändiges Verlangen ging seinen Sprüngen voraus. Ein Verlangen, seiner wahren Natur nachzugeben und sich in das Element einzufügen, für das er geschaffen war.
Samuel setzte zum Sprung an und trat wenige Sekunden später senkrecht in die Flut. Das Wasser schlug über seinem Körper zusammen. Es belebte seine Lungen; der Geschmack des Ozeans kehrte in all seine Sinne zurück. Das Geräusch unter dem Meer, das ertönte, wenn Wellen gegen den Fels donnerten, befreite seine Gedanken. Er liebte das Gefühl grenzenloser Freiheit. Dort unten war er wirklich frei. Er glitt in die Tiefe hinab, nahe am Grund entlang, der sich unter dem Strom der Gezeiten bis hin zum Graben wellte wie das Wattenmeer. Samuel tauchte durch bunte, sonnendurchflutete Riffe und das kristallene Wasser ermöglichte ihm weite Sicht. Er wusste, wo er zu suchen hatte.
Er ließ den Graben hinter sich. Den klaffenden Abgrund, der hinab in die schwarze Seele der Tiefsee fiel. Weit draußen auf dem Ozean begegnete er einer Gruppe von Blauwalen. Ihre riesigen Leiber wiegten in den Wellen auf und ab. Sie zogen singend und schnarrend an ihm vorüber und für einen Moment lang hielt er inne, um dem alten Lied zu lauschen. Den Geschichten über ihre langen Wanderungen. Melancholische Melodien über ihr Verderben durch den Walfang. Ihr vibrierender Gesang erfüllte jedes Spektrum seines Gehörs; Höhen und Tiefen. Ein faszinierendes Konzert, das kein Instrument der Menschen nachmachen konnte. Wie Sam solche Dinge an der Oberfläche vermisste!
Dann tauchte er tief hinab in ein Labyrinth aus Lavagestein, vorbei an karger Landschaft. Algen streiften seinen Körper. Ein Rochen schwebte über den sandigen Untergrund und wirbelte Millionen kleiner Körnchen auf.
Nicht mehr lange und Samuel hätte die Stelle erreicht, an der die blauen Muscheln wuchsen. Wenn seine Beine ihn nur schneller voran bringen könnten! Ihm blieb nicht viel Zeit bis zum Einbruch der Nacht. Er hatte nur die eine Chance und wenn er versagte, müsste er einen ganzen Monat lang warten, bis zum nächsten Neumond. Denn nur wenn sie bei Neumond geerntet wurden, öffneten sich die Muscheln und ließen ihren kostbaren Schatz im glitzernden Eisblau erstrahlen. Nur dann waren die Früchte reif und genießbar.
Endlich machte Sam sie in der Tiefe aus. Sie wucherten an einer korallenbewachsenen Felswand. Er pflückte ein Dutzend der Muscheln und verstaute sie in einem Beutel aus Seegras, während ihre Schalen aneinander klirrten. Sam musste sie nur noch an einem sicheren Ort verstecken, an dem sein Dad sie nicht finden würde. Doch das war das kleinste Problem.
Wenn er die Perlen erst herausgenommen und geschluckt hätte, würde er über die mentale Brücke einen Zugang zu Kriemhild bekommen. Sie würde denken, es sei nur ein Traum.
Er dagegen hätte endlich Gewissheit.