Читать книгу Fremdsprachenunterricht aus Schülersicht - Julia Fritz - Страница 7

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Wir glauben, Erfahrungen zu machen, aber die Erfahrungen machen uns.

(Eugène Ionesco, französisch-rumänischer Schriftsteller)

1. Einleitung

Mit der aus dem Europäischen Jahr der Sprachen 2001 stammenden Forderung „Muttersprache plus zwei“ formuliert der Europarat das sprachenpolitische Ziel der Mehrsprachigkeit möglichst aller BürgerInnen der Europäischen Union. Doch trotz zunehmender Migrationsbewegungen sowie einer wachsenden plurikulturellen und damit plurilingualen Gesellschaft ist in privaten wie auch beruflichen Kontexten eine verbreitete Tendenz des Englischen als lingua franca zu beobachten, die auch in schulsprachenpolitischen Zusammenhängen ihren Niederschlag findet. Zahlreiche Initiativen und Maßnahmen wurden seit 2001 auf den Weg gebracht, um schulisches sowie außerschulisches (Fremd‑)Sprachenlernen zu fördern und die Vielfalt der europäischen Sprachen neben der Dominanz des Englischen zu erhalten. Der Blick auf den institutionalisierten Fremdsprachenunterricht zeigt jedoch, dass diese Forderung in Deutschland auch 18 Jahre später vielfach noch ungelebter Traum ist und die SchülerInnen in der Sekundarstufe I und II im Durchschnitt nur 1,3 bzw. 1,4 Fremdsprachen lernen (vgl. Eurydice 2013:65), sodass Bär (2017:89) von „einer Zweisprachigkeit (bei Berücksichtigung der qualitativen Komponente in vielen Fällen auch […] einer Anderthalbsprachigkeit)“ spricht. So muss in Bezug auf die eingangs dargestellte Forderung „Muttersprache plus zwei“ konstatiert werden, dass entsprechende Bemühungen im schulischen Kontext bislang noch keine zufriedenstellenden Ergebnisse hervorgebracht haben. Doch trotz der Suche nach möglichen Ursachen und Begründungszusammenhängen besteht keine Einigkeit hinsichtlich der Rolle des Fremdsprachenunterrichts.

Wie erfolgreich die Schulen in der Vermittlung von Fremdsprachen sind, ist allerdings umstritten. Einerseits gibt es ernsthafte Zweifel an der Effizienz des gängigen schulischen Fremdsprachenunterrichts (Bleyhl, 2005; Meyer, 2001; Tschirner, 2004), andererseits wurde aber auch vor übertriebenen Erwartungen an die schulischen Möglichkeiten beim Erwerb einer zweiten Fremdsprache gewarnt (Lightbown, 2000). (Niggli et al. 2007:473f.)

Empirische Studien, die sich mit dem Problem der Abwahl der zweiten Fremdsprachen beschäftigen, finden sich insbesondere in der Einstellungs- und Motivationsforschung (vgl. u.a. Düwell 1979; Cronjäger 2009; Venus 2017b). Die bisherigen, vor allem quantitativen Untersuchungen haben das Erleben im Unterricht als einen wichtigen, vielleicht den entscheidenden Faktor für die Erklärung von Einstellungs- und Motivationsunterschieden (vgl. Meißner et al. 2008) herausgearbeitet. Dennoch mangelt es bislang an Untersuchungen zu den Fremdsprachenlernerfahrungen, in denen die SchülerInnen selbst zu Wort kommen.

Hieraus ergibt sich ein Desiderat für qualitative Forschungsarbeiten. Einen tieferen Zugang zu den individuellen Erlebnisweisen und Innenansichten zu ermöglichen, die sich mittels sprachlich eher reduzierter Fragebogenskalen kaum operationalisieren und „abfragen“ lassen, stellt das Ziel der vorliegenden Forschungsarbeit dar. Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf die Rekonstruktion des Unterrichtserlebens von SchülerInnen sowie deren Deutungen und Bewertung am Ende der Sekundarstufe I. Die so gewonnenen Erkenntnisse versprechen die sich bislang offenbarenden Tendenzen quantitativer Untersuchungen inhaltlich zu vertiefen und zu differenzieren. Damit versteht sich das Dissertationsprojekt als Anschlussforschung, die mittels Einzelfallbetrachtungen einen Beitrag leistet, um besser zu verstehen, welchen Einfluss Fremdsprachenlernerfahrungen auf das Lernen einer zweiten Fremdsprache Französisch oder Spanisch nach Englisch sowie die Bezugnahme zum Fach haben.

Wenngleich immer wieder davon die Rede ist, Spanisch verdränge unter den romanischen Sprachen die traditionelle Schulfremdsprache Französisch1, unterliegen Französisch und Spanisch als zweite bzw. dritte Fremdsprachen nach Englisch doch einem vergleichbaren Bedingungsgefüge. Die Einbeziehung von Französisch und Spanisch in die empirische Untersuchung soll so zum einen erstmals Ergebnisse im Bereich des Spanischunterrichts aus Lernersicht und zum anderen neue Einblicke und Erklärungsansätze hinsichtlich der Probleme, die beide Fächer gleichermaßen zu betreffen scheinen, liefern.

Aufbau der Arbeit

Im ersten Teil der Arbeit werden zunächst wesentliche Grundlagen sowie der theoretische Bezugsrahmen umrissen. Um die Spezifik der zweiten Fremdsprachen Französisch und Spanisch zu beleuchten, bietet das erste Kapitel einen Überblick über die aktuellen schulsprachenpolitischen Rahmenbedingungen. Darüber hinaus kommt mithilfe statistischer Daten die Entwicklung der Lernerzahlen zur Darstellung, die sowohl Tendenzen im Verlauf der letzten Jahre als auch über die Jahrgangsstufen hinweg abbildet. Diese machen das Phänomen der Abwahl besonders deutlich, sodass im Anschluss an die nach Fächern getrennten Ausführungen ein Vergleich der beiden zweiten Fremdsprachen am Ende der Sekundarstufe I folgt.

Die vorliegende Studie untersucht den Fremdsprachenunterricht aus Schülersicht. Der Forschungsüberblick (Kap. 3) greift diesen Begriff auf, wobei die Auseinandersetzung mit dem Terminus „Schülersicht“ verdeutlicht, dass diesem je nach Fachdisziplin ganz unterschiedliche theoretische Konzeptionen zugrunde liegen und dementsprechend auch die (empirischen) Zugänge zum Teil stark variieren. Diese Herangehensweisen sowie zentrale Ergebnisse entsprechender Forschungsarbeiten werden vorgestellt und diskutiert. Mit dem Kapitel 3.2 ist der Pädagogik als Bezugswissenschaft ein eigenes Unterkapitel gewidmet, da in der fremdsprachendidaktischen Forschung in Deutschland die Anzahl an Arbeiten zum schulischen Fremdsprachenlernen aus der Perspektive der Lernenden noch überschaubar ist. Vor diesem Hintergrund plädiert auch Trautmann (2007:197) dafür, „erziehungswissenschaftliche und insbesondere schulpädagogische Erkenntnisse stärker als bislang zu berücksichtigen“. Den verschiedenen Zugängen zur Schülersicht in der fremdsprachendidaktischen Forschung (vgl. Kap. 3.3) ist gemein, dass sie die Wahrnehmungen der Lernenden in Bezug auf Fremdsprachen und Fremdsprachenunterricht erheben. Um jedoch die Prozessdimension dieser Wahrnehmungen stärker in den Blick zu nehmen, ergibt sich die Notwendigkeit, die vorliegenden Zugänge um den des Unterrichtserlebens zu erweitern. Der Begriff „Unterrichtserlebnis“ wird in verschiedenen Arbeiten zwar immer wieder genannt, jedoch nicht hinreichend definiert. Um eine theoretisch hergeleitete und begründete Konzeptualisierung als Grundlage für die empirische Untersuchung vorzunehmen, rückt Kapitel 3.4 diesen Begriff in den Mittelpunkt.

Der zweite Teil der Arbeit befasst sich mit den methodologischen und methodischen Grundlagen der Untersuchung. Das Erkenntnisinteresse und die Forschungsfragen (Kap. 4.1) legen eine methodologische Verortung der explorativen Fallstudie im qualitativen Forschungsparadigma nahe, die im Kapitel 4.2 begründet wird. An die Beschreibung des Forschungsfeldes, d.h. der teilnehmenden Schulen (Kap. 4.3), schließt sich eine ausführliche Erläuterung des Forschungsdesigns an, wobei die Methoden der Datenerhebung (Kap. 4.4) und Datenauswertung (Kap. 4.5) sowohl theoretisch hergeleitet und betrachtet als auch in ihrer konkreten Umsetzung im Rahmen der Untersuchung dargelegt werden.

Die empirischen Ergebnisse der vier Fallanalysen, anhand derer das kollektive (Kap. 5.1 und 5.2) sowie individuelle Unterrichtserleben (Kap. 6.1 und 6.2) rekonstruiert werden, kommen im Teil III der Arbeit zur Darstellung. Die Fallrekonstruktionen orientieren sich dabei jeweils an fünf für das Unterrichtserleben und die Bezugnahme zum Fach besonders relevanten Passagen bzw. Themen. Diese zeigen, dass in den Daten auch über die Einzelfälle hinweg bestimmte Muster und Phänomene immer wieder zum Ausdruck kommen. Die fallübergreifende, komparative Ergebnisdarstellung (Kap. 7) greift diese auf, sodass über den Fallvergleich die zentralen, für das Unterrichtserleben der SchülerInnen relevanten Dimensionen herausgearbeitet und unter Einbezug weiterer Fälle des Gesamtsamples illustriert werden.

Im abschließenden Kapitel 8 werden die Ergebnisse der Studie vor dem Hintergrund vorliegender Erkenntnisse zur Schülersicht diskutiert und in aktuelle fremdsprachendidaktische Diskurse eingeordnet. In diesem Sinne wird hier auch der Versuch unternommen, Perspektiven, Desiderate und Fragestellungen für zukünftige Anschlussforschung zu eröffnen sowie Implikationen sowohl für die Unterrichtspraxis als auch für die Lehrerbildung abzuleiten. Der letzte Blick in der Arbeit richtet sich „zurück nach vorn“. Mit der Reflexion des Forschungsprozesses (Kap. 8.2) wird insofern der Versuch unternommen, verschiedene Entscheidungen im Verlauf der Untersuchung einer kritischen Bewertung zu unterziehen und damit gleichzeitig mögliche Fallstricke sowie Lösungsansätze für die weitere Forschung offenzulegen.

Fremdsprachenunterricht aus Schülersicht

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