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KAPITEL 6

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Drei Tage später fahren wir zu unseren Freunden Melanie und Dominik nach Berlin. Sie kaufen uns unsere zweite Waschmaschine ab, die wir nicht mehr brauchen, seit wir wieder zusammenwohnen. Und da wir in diesen Tagen des Wartens nicht so richtig wissen, was wir mit der Zeit anfangen sollen, bringen wir ihnen die Maschine spontan in die Hauptstadt. Wir vier kennen uns seit der Studienzeit und haben so manche Nacht zusammen durchgefeiert.

Melanie ist im fünften Monat schwanger und fällt mir sofort weinend um den Hals, als wir bei ihnen ankommen. Sie entschuldigt sich bei mir, dass sie durch die Schwangerschaftshormone so emotional sei. Mir tut es allerdings gut, dass sie ihren Gefühlen freien Lauf lässt und sich nicht vor mir verstellt. So heulen wir erst einmal um die Wette, während die Männer die Waschmaschine in die Wohnung tragen. Später sitzen wir im Wohnzimmer, und nun möchte Melanie alles ganz genau wissen. Wie die letzten Tage waren, was ich für Symptome habe, wie es mir geht, wie es uns damit geht. Als ich ihr berichte, dass ich die Diagnose multiple Sklerose noch nicht definitiv habe, sondern auch noch die Möglichkeiten Rheuma oder die Neuromyelitis optica bestehen, sagt sie sofort: »Julia, hoffentlich ist es Rheuma!« Als ich ihr erkläre, dass das wahrscheinlich auch nicht »besser« sei, ist sie genauso erstaunt, wie ich es zunächst war.

Dann kommen die Männer dazu. »Sag mal«, wendet sich Dominik an Paul, »wie geht es dir eigentlich? Wie kommst du damit klar?« Und da fällt mir auf, dass unser Freund der Erste ist, der Paul nach seinem Befinden fragt. Meinen Paul, der mich auffängt und mir Mut macht, dass wir die Erkrankung gemeinsam durchstehen. In den letzten Tagen hat sich alles nur um mich gedreht, und das tut mir nun unendlich leid. Nun sitzen wir zu viert zusammen, und auch Paul kann endlich über seine Gefühle sprechen. Das tut ihm gut und mir natürlich ebenso. »Na ja, ich bin einfach nur froh, dass Julia keine Krankheit hat, an der sie sterben muss.«

Mir schießen sofort die Tränen in die Augen, und ich sehe, dass es Melanie genauso geht wie mir. Dominik schaut erschrocken. Ich glaube, ihnen war gar nicht bewusst, was bei uns alles auf dem Spiel stand. Auch mir wird das in diesem Moment erst so richtig klar.

Paul spricht weiter: »Da standen plötzlich so viele Möglichkeiten im Raum: ein Hirntumor, die ALS oder HIV. Alles Dinge, die eine deutlich schlechtere Prognose für Julia bedeutet hätten, als es jetzt der Fall ist. Dann müssten wir uns wahrscheinlich gleichzeitig auch mit ihrem Tod auseinandersetzen. Und ich bin einfach unheimlich dankbar, dass mir meine Süße nicht durch so eine beschissene Krankheit genommen wird. Jetzt können wir weiterhin nach vorne schauen.«

»Jetzt habt ihr eine Diagnose, mit der ihr umgehen könnt«, sagt Dominik, »ich glaube, ich verstehe, was du meinst.«

»Trotzdem wünschte ich, ich wäre derjenige, der die Krankheit abbekommen hätte«, sagt Paul plötzlich. Ich muss schlucken. »Julia macht sich immer so viele Gedanken. Sie hat zwar eine positive Einstellung und ist eine Kämpferin, aber sie sieht trotzdem auch die schlechten Dinge. Darum mache ich mir Sorgen. Ich glaube, dass es für mich einfacher wäre, mit der Erkrankung umzugehen. Ich mache mir einfach nicht so viele Gedanken wie sie. Außerdem wünschte ich, dass sie nicht krank wäre.«

Wir schauen uns alle an und schweigen. Zu bewegt sind wir von Pauls Worten und der Situation.

Irgendwann sagt Dominik: »Irgendwie habe ich noch nie darüber nachgedacht, dass Melanie und ich einmal krank sein könnten. Jetzt ist es plötzlich so greifbar. Keine Ahnung, wie wir reagieren würden. Man kann ja immer viel darüber nachdenken und sprechen. Aber wie es wirklich ist, wenn man selbst in diese Situation kommt, weiß keiner.«

Während wir so zusammensitzen und über eine Zukunft mit Erkrankung sprechen, krampft meine rechte Hand. Die, in der es auch zuerst kribbelte. Dieser Krampf wird immer stärker. Es ist warm, sehr warm an diesem Tag. Dies gepaart mit der emotionalen Unterhaltung mit Melanie und Dominik verschlechtert die Symptome in meiner Hand derartig, dass ich eine Spastik bekomme. Ich werde unruhig und versuche, irgendeine angenehme Haltung für meine Hand zu bekommen. Aber egal, wie ich sie hinlege, aufstütze oder massiere, es wird nicht besser.

»Was hast du?«, fragt Dominik überrascht, und Melanie schaut verunsichert zwischen mir und Paul hin und her.

»Meine Hand …, ich kann meine Hand nicht mehr locker machen«, stammele ich. In mir kommt Panik auf.

Paul bleibt ganz ruhig, geht zum Kühlschrank und holt eine gekühlte Flasche Bier heraus, die er mir in die Hand drückt. Die Kälte entspannt die Muskulatur, und die Verhärtungen gehen zurück. Er grinst mich an: »Cool down, Süße.«

»Woher wusstest du, dass das hilft?«, frage ich ihn perplex.

»Na ja, weißt du, es gibt doch diese Kältekammern für Rheuma- oder Gichtpatienten. Darin ist es minus hundert Grad kalt, und das tut vielen Erkrankten gut. Ich dachte, ein Versuch in die gleiche Richtung ist es wert.«

»Paul, der Superheld! Wenn wir den nicht hätten«, lacht Dominik.

Mein Retter in der Not. Wieder einmal.

Wir bleiben zwei Tage bei unseren Freunden in Berlin. Melanie zeigt mir das zukünftige Kinderzimmer für ihr Baby, und ich bin ein wenig neidisch auf ihre Unbeschwertheit. Darauf, dass sie sich einfach auf ihr heranwachsendes Kind freuen darf, ohne sich mit einer Erkrankung oder anderen negativen Dingen herumschlagen zu müssen. Gleichzeitig freue ich mich mit ihr und über ihren Bauch, der seit unserem letzten Treffen vor einem Monat schon deutlich gewachsen ist. Damals, als meine Welt noch in Ordnung war.

Melanie und ich hatten uns schon immer viel zu erzählen, wenn wir uns getroffen haben. Das war zwar nicht häufig, aber dann umso intensiver. Wir seien wie zwei schnatternde Enten, sagt Paul immer. Diesmal tut es mir unheimlich gut, dass meine Freundin einfach mit mir »schnattert« und mich fragt, was sie wissen will, ohne sich zu große Gedanken zu machen, was ich möglicherweise von ihr denken könnte. Und auch Dominik nimmt kein Blatt vor den Mund und behandelt mich mit seiner direkten Art wie immer. So werden es zwei Tage, die mich ab und zu die Situation vergessen lassen, in der ich mich gerade befinde, und uns vom langen Warten auf die endgültige Diagnose ein wenig ablenken.

Als wir wieder zu Hause in Frankfurt sind, kommen mich zwei befreundete Arbeitskolleginnen, Lisa und Steffi, besuchen. Sie machen sich Sorgen um mich, das kann ich ihnen ansehen. In der vergangenen Woche haben sie sich oft bei mir gemeldet und wollten wissen, wie es mir geht.

»Mensch, du siehst ja ganz anders aus!«, begrüßt mich Steffi etwas besorgt. »Du hast total abgenommen, geht es dir nicht gut?«

Ich erkläre ihr, dass ich in den vergangenen Tagen nicht viel essen konnte. Dazu die Panik im Krankenhaus und das Kortison, irgendwie hat das für meinen Gewichtsverlust gesorgt. Als wollten sie mich wieder aufpäppeln, backen die beiden Waffeln für mich und fragen mich vorsichtig aus. Auch für sie ist die Situation neu. Insbesondere Lisa ist etwas panisch. Sie hat mitbekommen, wie der Vater ihrer Freundin an einer sehr seltenen neurologischen Erkrankung gestorben ist, die rasant verlaufen war. Sie gesteht mir, dass sie unheimlich Angst um mich gehabt habe, dass es dieselbe Erkrankung bei mir sei.

»Ich habe mich gar nicht getraut, dich zu fragen, was du hast. Ich bin so froh, dass es das nicht ist!« Sie hat Tränen in den Augen. Und so nehme ich sie in den Arm und versuche, sie zu trösten und dabei selbst nicht zu weinen. Ich möchte nicht zeigen, wie zerrissen ich innerlich bin. Wie mich die Situation mitnimmt. Langsam, aber sicher halte ich es nämlich nicht mehr aus, in dieser Ungewissheit zu schweben. Ich möchte endlich sicher wissen, was ich habe. Wie meine Krankheit heißt und mit welcher Diagnose ich mich für den Rest meines Lebens auseinandersetzen muss. Ich muss wissen, mit was ich es zu tun habe. Ob ich weinen muss oder mich freuen kann, dass es »nur« MS ist.

Meine Freundinnen merken, dass ich noch ganz durcheinander bin, und versuchen, mich so gut es geht mit Neuigkeiten von der Arbeit abzulenken. Zwischendurch springe ich immer mal unter die kalte Dusche, denn es ist wieder ein sehr heißer Tag, und das Kribbeln und die Spastik in meiner Hand schränken mich ein. Das kalte Wasser verschafft mir für kurze Zeit Linderung. In der Neurologie hatten sie gesagt, dass ich mich melden solle, falls das Kribbeln wieder stärker werde und neue Symptome dazukämen. Daher rufe ich panisch dort an und erhoffe mir einen ärztlichen Rat. Der Arzt am anderen Ende der Leitung will zwar detailliert wissen, was sich verändert hat, teilt mir dann am Ende aber nur mit, dass man dagegen auch nichts machen könne. Meine Kortisoninfusionen seien schließlich noch nicht lange her. Nun müsse ich abwarten, wie das Medikament wirkt. So langsam, aber sicher wird mir klar, dass das nicht bedeuten muss, dass das Kribbeln und das Taubheitsgefühl oder die Spastik wieder aufhören. Irgendwie haben die Ärzte bisher immer den Anschein bei mir erweckt, als würden meine Symptome durch das Kortison wieder komplett verschwinden. Ich selbst habe noch gar nicht darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, wenn sie doch bleiben.

Mit einem dumpfen Gefühl bleibe ich nach dem Telefonat noch etwas sitzen und starre vor mich hin. So zieht sich der letzte Tag vor meinem Termin in der MS-Ambulanz zur Besprechung meiner Diagnose wie Kaugummi in die Länge und will einfach nicht vergehen. Irgendwann verabschieden sich Steffi und Lisa, und Paul und ich sind wieder allein.

Als wir zu Bett gehen wollen, merkt Paul, wie unruhig ich bin.

»Ich weiß gar nicht, wie ich in der kommenden Nacht zur Ruhe finden soll«, sage ich zu ihm. »Ich habe so eine Angst vor dem Termin morgen. Mir schwirren unglaublich viele Gedanken durch den Kopf, die ich gar nicht geordnet bekomme. Was mache ich, wenn es diese Neuromyelitis irgendwas ist? Was mache ich, wenn es noch nicht einmal ein Medikament gibt, das mir helfen kann? Und was mache ich, wenn ich MS habe und irgendwann im Rollstuhl sitzen muss? Ich bin so unruhig, ich könnte die Wände hochlaufen.«

Paul versucht, mich zu beruhigen. »Lass uns jetzt nicht nachdenken, was sein könnte. Das sind Gedanken, die wir uns vielleicht gar nicht machen müssen. Morgen wissen wir mehr. Morgen wissen wir, womit wir es zu tun haben. Woran wir arbeiten können. Du bist eine starke Frau. Du schaffst das! Das weiß ich.«

»Ich fühle mich aber so gar nicht stark. Ich fühle mich hilflos. Und betrogen. Betrogen um ein unbeschwertes Leben. Ich will mein altes Leben zurück.«

Paul nimmt mich in den Arm und schlägt vor, dass wir gemeinsam eine Liste mit allen Fragen schreiben, die wir morgen mit zum Termin nehmen werden, damit wir in der Aufregung nicht alles vergessen. Und so sitzen wir noch lange zusammen und notieren uns die Punkte, die uns interessieren. Danach geht es mir schon etwas besser. Als wir im Bett liegen, macht Paul kurzerhand eine Entspannungsübung mit mir. Das hat er noch nie gemacht: Er streichelt mir behutsam den Kopf und spricht ganz langsam und leise mit mir. Er erzählt mir eine kurze Traumgeschichte. Zumindest denke ich, dass sie kurz ist, denn ich schlafe schnell erschöpft ein.

Alles wie immer, nichts wie sonst

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