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KAPITEL 5

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Ich werde wieder vom Krankenhausalltag geweckt. Krankenschwester Nummer eins kommt herein und bringt mir mein Frühstück: eine Scheibe Brot, die ich mit Butter und zuckriger Marmelade beschmieren kann. Dazu eine Scheibe Käse und einen Apfel. Ich kann wählen zwischen miesem Filterkaffee und Tee und entscheide mich für Tee. Hat eigentlich schon einmal jemand darüber nachgedacht, dass das Essen in Krankenhäusern die Patienten womöglich noch kränker macht? Während ich darüber nachdenke, kommt Krankenschwester Nummer zwei vorbei, genauer eine Krankenschwesterschülerin, und misst meinen Blutdruck, wobei sie die Pumpe so stark aufpumpt, dass ich meinen Arm langsam nicht mehr spüre. Sie wird nervös, als ich sie darauf anspreche, und ist froh, als sie endlich fertig ist. Danach betritt Krankenschwester Nummer drei mein Zimmer und bringt meine dritte und letzte Kortisoninfusion. Wenn sie durch meine Adern durchgelaufen ist, kann ich das Krankenhaus verlassen und muss erst in einer Woche wiederkommen, zu einem Termin in der MS-Ambulanz. Dann wird endlich feststehen, ob es die multiple Sklerose ist, mit der ich mich zukünftig auseinandersetzen und arrangieren muss.

Während ich am Tropf hänge, kommt die Ärztin herein, um mit mir das Abschlussgespräch zu führen. Ich frage sie, welche Krankheiten denn nun noch auf dem Tableau stehen. Sie erklärt mir, dass es auch noch Rheuma sein könne. Aber ob Rheuma oder MS, das mache im Endeffekt keinen Unterschied. Ich lerne, dass auch Rheuma eine unheilbare Krankheit ist und nicht nur alte Menschen an ihr erkranken. Auch Rheuma kann milder oder schwerer verlaufen. Und dann stünde auch noch die Neuromyelitis optica im Raume. Auch sie sei eine bisher unheilbare Autoimmunerkrankung, bei der sich wie bei der multiplen Sklerose das Nervensystem entzünde. Allerdings sei die Forschung bei dieser Erkrankung noch nicht so weit fortgeschritten wie bei der MS. Es gäbe noch nicht so viele Möglichkeiten, um sie zu behandeln. Auch würden prozentual weniger Menschen an ihr erkranken, sodass einfach noch nicht so viel geforscht würde. Na, das sind ja tolle Alternativen, schießt es mir durch den Kopf.

Dann macht die Ärztin noch ein paar Tests mit mir, bei denen sich zeigt, dass das Kortison bereits seine Arbeit verrichtet. Ich hatte schon gemerkt, dass das Taubheitsgefühl in den Armen und Beinen ein wenig zurückgegangen ist. Und auch die Tests zeigen, dass ich schon wieder mehr spüren kann. Das sei ein gutes Zeichen, erklärt mir die Ärztin. Aber es könne noch bis zu ein paar Wochen dauern, bis alles wieder weg sei. Das Kortison wirke bis zu mehreren Wochen nach seiner Gabe.

Zum Schluss bekomme ich von ihr noch den Termin in der MS-Ambulanz in einer Woche, bei dem ich meine finale Diagnose erhalten werde sowie den Arztbrief mit allen Ergebnissen meines Aufenthalts in der Uniklinik für meine Unterlagen. Als die Kortisoninfusion vollständig in meinen Körper gelaufen ist, darf ich das Krankenhaus verlassen.

Paul ist da, um mich abzuholen. Gemeinsam packen wir meine Sachen zusammen, verabschieden uns bei den Krankenschwestern und verlassen das Krankenhaus. Beim Rausgehen sehe ich die Plakate zum Welt-MS-Tag im Eingangsbereich der Neurologie hängen. Daneben hängen noch weitere Aushänge: zum Welt-Hirntumor-Tag, der morgen stattfinden wird. Besser MS als ein Hirntumor, schießt es mir durch den Kopf. Und: Noch mal Glück gehabt!

Dann stehen Paul und ich vor der Uniklinik. Wir wissen nicht, was wir jetzt tun sollen. Und schauen uns voller Fragen an: Wie geht es uns jetzt? Was wollen wir jetzt machen? Wie wollen wir mit dieser Situation umgehen? Wie wollen wir die kommende Woche des Wartens verbringen, bis ich meine Ergebnisse bekomme? Zum Glück ist Paul von seinem Arbeitgeber freigestellt geworden. Er bekommt alle Zeit der Welt, um sich um mich zu kümmern und mir beizustehen. Das zeigt mir, wie ernst auch die Außenwelt meine beziehungsweise unsere Situation bewertet. Anscheinend bin ich wirklich ernsthaft krank. Obwohl ich mich gar nicht so krank fühle – bis auf das Kribbeln und die Taubheit. Niemand kann sehen, dass ich gerade ein paar Tage in der Uniklinik eingecheckt habe und mit großer Wahrscheinlichkeit an multipler Sklerose erkrankt bin. Ich passe wieder in meine Jeans von vor zehn Jahren, und meine Haut ist vom Kortison richtig schön geworden, irgendwie strahlend und so rein. Ich sehe eher so aus, als käme ich gerade von einer Wellnesskur zurück. Das passt irgendwie alles nicht zusammen und ist so surreal! Und es verwirrt mich: Ich weiß einfach nicht, wie ich mich fühlen soll. Ich fühle nämlich gar nichts. Irgendwie bin ich ganz taub innerlich.

Da wir so gar nicht wissen, was wir nun tun sollen, beschließen wir, einfach an nichts zu denken und stattdessen in einem Einkaufszentrum shoppen zu gehen. Außerdem ist es sehr heiß geworden. Und plötzlich vertrage ich die Hitze nicht mehr. Sie macht mich müde, mein Körper kribbelt wieder stärker, und außerdem muss ich wegen des Kortisons aufpassen, dass ich keinen Sonnenbrand bekomme, denn durch das Medikament ist meine Haut sonnenempfindlicher geworden. Dass ich die Hitze nicht vertrage, liegt am sogenannten Uhthoff-Phänomen – aber das lerne ich erst später. Es ist eine vorübergehende Verschlechterung der MS-Symptome bei Hitze oder körperlicher Anstrengung.

Wir fahren also in ein Einkaufszentrum mit Klimaanlage und kleiden mich neu ein. Das macht mir Spaß, aber irgendwie ist es die ganze Zeit so, als würde ich gar nicht wirklich in meinem Körper stecken, sondern mir zugucken. Ich versuche, die multiple Sklerose an mir zu sehen, sie zu entdecken. Sie muss doch da irgendwo sein! Aber sosehr ich mich auch anstrenge: Ich sehe nur eine Frau Anfang dreißig mit ihrem Mann zusammen beim Shoppen.

Auf der Rückfahrt im Auto breitet sich das Taubheitsgefühl plötzlich wieder in meinem Unterarm und meiner Hand aus. Und wird dabei richtig stark, so stark, dass mein Daumen sogar etwas krampft. Ich bekomme Panik und beginne zu weinen. Ich heule und schreie Paul an, weil ich wütend und verzweifelt bin. »Das habe ich nicht verdient! Ich habe doch nichts verbrochen! Warum ich?!« Paul fährt rechts ran, sobald er die Möglichkeit dazu bekommt. Er schaltet das Auto aus, dreht sich zu mir und nimmt meine Hände in seine.

»Julie, meine liebste Julie, bitte höre mir jetzt genau zu: Hör auf, nach dem Warum zu fragen! Denn das wird dich in ein tiefes Loch ziehen. Das wird dich nur verbittert werden lassen. Du darfst das nicht zulassen, denn auf diese Frage wirst du nie eine Antwort bekommen. Verstehst du: nie! Es gibt keine Erklärung dafür. Und damit musst du dich, müssen wir uns abfinden. Je schneller wir das tun, desto eher finden wir einen halbwegs normalen Umgang mit der MS. Desto eher können wir ein glückliches Leben führen. Bitte versprich mir, dass du dich nicht in der Frage nach dem Warum verlierst!«

Ich weine. Ich weine so viel, dass es mich schüttelt. Der ganze Frust kommt aus mir heraus und sucht sich seinen Weg nach draußen. Ich bin so unglaublich verzweifelt. Und gleichzeitig so unglaublich enttäuscht vom Leben, vom Universum und von wem auch immer, der die Pläne für uns schmiedet. Ich würde immer noch am liebsten wegrennen. Wegrennen aus meinem Leben und vor der Krankheit. Aber ich verstehe auch, wovon mein Paul spricht. Dass er recht hat. Es gibt keine Antwort auf das Warum.

»Ja, ich versuche es«, sage ich zu ihm, »ich will es versuchen. Aber es ist jetzt schon so anstrengend. Ich fühle gar nichts. Ich bin so taub. Und es kostet solche Kraft, meine Gedanken zu ordnen. Ich würde am liebsten wegrennen und mit alldem nichts zu tun haben. Es ist so anstrengend, mich damit auseinanderzusetzen. Ich habe ja noch gar keine Informationen, ich weiß eigentlich noch gar nicht, was ich genau habe. Ich weiß nur, dass ich krank bin!«

»Ja, und das ist scheiße!«

Paul nimmt mich in den Arm und beginnt selbst zu weinen.

»Wenn ich könnte, dann würde ich dir die Krankheit abnehmen, Julie. Ich würde das packen, das weiß ich. Aber mir tut es so unglaublich weh, dich leiden zu sehen!«

So sitzen wir noch eine Weile eng umschlungen im Auto mit Warnblinker auf dem Standstreifen der Autobahn.

Alles wie immer, nichts wie sonst

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