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KAPITEL 2

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Morgens kommt eine Assistenzärztin, die mir Blut abnimmt und mich fragt, wie es mir geht. Sie erzählt mir, dass es die letzte Woche ihrer Assistenzzeit sei. Als ich sie frage, ob sie sich auf die Fachrichtung Neurologie spezialisieren möchte, antwortet sie: »Nein, auf der Neurologie möchte ich auf gar keinen Fall bleiben. Ich möchte eine Fachrichtung, mit der ich den Patienten noch helfen kann.«

BÄM!

Bevor ich richtig über diesen Satz nachdenken kann, ist sie schon beim nächsten Patienten. Weiß sie eigentlich, was so eine Aussage für mich, eine junge Frau Anfang dreißig mit Todesangst, bedeutet? Wahrscheinlich nicht. Dass Ärzte in ihrer Ausbildung fast nichts über die psychologische Komponente in der Vermittlung von Diagnosen lernen, bekomme ich mit aller Härte zu spüren. Besonders deutlich wird das am nächsten Tag bei der Visite. Der Oberarzt rauscht mit einem Gefolge von acht jungen Ärzten in mein Zimmer. Sie stellen sich um mein Bett und starren mich betreten an. Der Oberarzt fragt mich, ohne sich vorzustellen: »Wissen Sie, warum Sie hier sind?«

Ich erkläre meine Symptome. Darauf fragt er mich erneut: »Ja, aber wissen Sie, was Sie sehr wahrscheinlich haben?«

Ist das hier ein Quiz oder was?

»Bisher sprachen die Ärzte von einer Autoimmunkrankheit«, antworte ich leicht eingeschüchtert. Darauf der Oberarzt: »Also, ich spreche das jetzt mal deutlich aus: Das ist höchstwahrscheinlich multiple Sklerose bei Ihnen!«

Multiple Sklerose? Multiple Sklerose! Meine Welt versinkt in einem Nebel. Ich bekomme nicht mehr viel mit.

»Multiple Sklerose?«, frage ich schrill, panisch, ohne zu begreifen, was das bedeutet.

»Sind Ihre Angehörigen hier?«, fragt mich der Oberarzt. Zwei der jungen Assistenzärzte stecken raunend die Köpfe zusammen.

»Mein Mann ist gerade auf dem Weg«, antworte ich matt.

»Wir müssen noch ein paar Tests machen. Aber es ist sehr sicher MS. Da wird noch jemand zu Ihnen kommen und mit Ihnen sprechen.«

Mir ist kalt. Elendig kalt. Daher bitte ich die Ärzte im Rausgehen: »Können Sie mir bitte meine Decke geben?« Und dann sitze ich allein mit der Decke auf meinem Bett in meinem Zimmer auf der neurologischen Station der Uniklinik Frankfurt. Multiple Sklerose. Was bedeutet das eigentlich? Ich habe keinen blassen Schimmer! Ich versuche, das irgendwie zu begreifen. Aber kann man so eine Diagnose überhaupt in einem kurzen Moment begreifen? Multiple Sklerose, hatte das nicht ein alter Bekannter meiner Eltern? Sitzt der nicht im Rollstuhl? In diesem Moment ruft mein Vater an. Er merkt sofort, dass mit mir etwas nicht stimmt.

»Was ist los?«, fragt er mich.

»Gerade waren die Ärzte da. Sie sagen, es ist multiple Sklerose.«

Mein Vater sagt nichts. Ich höre ihn schlucken.

»Papa?«

»Ach was, multiple Sklerose, das kann doch gar nicht sein.« Ich spüre sofort, da wird in ihm der Kämpfer wach, der so eine Diagnose nicht einfach akzeptiert. »Multiple Sklerose? Das glaube ich nicht. Die haben doch sicher noch nicht alle Tests gemacht. Da holen wir aber noch eine zweite Meinung ein.«

Mein Gehirn liegt immer noch in dichtem Nebel. Ich spüre Panik in der Brust, aber ich bin nicht in der Lage nachzudenken, geschweige denn, mich klar zu äußern. Es klopft. Paul kommt ins Zimmer. »Was ist los?«, fragt er. Ich zeige auf das Telefon.

»Du, Papa, Paul ist gerade gekommen. Ich muss jetzt erst mal mit ihm sprechen. Lass uns später noch mal telefonieren, okay?«, stottere ich ins Telefon.

Mein Mann schaut mich fragend an. Ich lege das Handy zur Seite.

»Paul, gerade war der Oberarzt da. Er sagt, dass es höchstwahrscheinlich multiple Sklerose ist. Die machen jetzt noch ein paar Tests, aber sie gehen davon aus, dass es das ist und ich …«

Weiter komme ich nicht, denn ich fange an zu weinen. Ich versinke unter Tränen in Pauls Armen und möchte mich am liebsten so klein machen, dass ich von dieser Welt verschwinde. Multiple Sklerose – was bedeutet das? Es hört sich schlimm an. Das ist eine richtige Krankheit. Mit Rollstuhl! Am liebsten möchte ich nicht mehr da sein, mich mit der multiplen Sklerose nicht auseinandersetzen, mit ihr nichts zu tun haben, sondern mich einfach verstecken vor ihr. Vielleicht vergisst sie mich dann ja. Ich will nicht krank sein! Das bin doch nicht ich. Ich bin nicht Julia, Anfang dreißig und krank. Das ist eine andere Person. Aber nicht ich!

Paul hält mich fest im Arm und versucht, mich zu trösten und zu beruhigen. Ich weiß nicht, wie lange wir so dasitzen. Irgendwann sagt er: »Ich schaue mal, wo die Ärztin ist. Vielleicht kann sie uns mehr dazu erzählen«, und macht sich auf die Suche. Kurze Zeit später kommt er mit ihr zusammen zurück. Wir bombardieren sie mit Fragen – also eigentlich eher Paul als ich. Ich befinde mich immer noch im Nebel. Wir erfahren, dass multiple Sklerose wie Rheuma eine Autoimmunerkrankung ist. Dass sie schubförmig verläuft, noch unheilbar ist. Aber dass es mittlerweile Medikamente gibt, die den Verlauf verzögern können. Dass man daran nicht sterben muss. Und dass sie ganz unterschiedlich verläuft und nicht zwangsläufig im Rollstuhl enden muss.

Die Ärztin klärt uns auch über das weitere Vorgehen auf: Es werden nun noch weitere Tests gemacht, um die Diagnose multiple Sklerose zu sichern und eine ähnliche neurologische Erkrankung, die Neuromyelitis optica, auszuschließen. Außerdem sei in meinem Liquor, der Gehirnflüssigkeit, ein Marker für Rheuma sehr hoch gewesen. Daher müsse man schauen, ob es nicht doch Rheuma sei. Ich werde nun in den nächsten Tagen eine Stoßtherapie mit Kortison bekommen. Das bedeutet, dass ich drei Tage lang hochdosiertes Kortison intravenös verabreicht bekomme, um die Entzündungstätigkeit in meinem Körper zu stoppen. Das soll auch meine Symptome, das Kribbeln und Taubheitsgefühl, wieder verschwinden lassen. Am Nachmittag werde ich noch einen MRT-Termin zum Scannen meiner Wirbelsäule haben und einen Test, um die Leitfähigkeit meiner Nerven zu messen. Am nächsten Tag sollen die Tests, für die ich im Krankenhaus anwesend sein muss, abgeschlossen sein. Dann werde ich jeden Morgen das Kortison bekommen und kann das Krankenhaus danach bis zum Abend verlassen. Nur zum Schlafen muss ich in dieser Zeit ins Krankenhaus kommen. Nach den drei Tagen werde ich entlassen. Die Diagnose wird dann noch nicht zweifelsfrei feststehen, weil noch Ergebnisse von Bluttests erwartet werden, die noch eine Woche brauchen. Daher werde ich einen Termin zur Besprechung der Diagnose in der MS-Ambulanz der Uniklinik bekommen, wenn die Ergebnisse da sind. Aber es ist mit großer Wahrscheinlichkeit MS.

Die junge Ärztin schaut gehetzt auf ihre Uhr und muss zum nächsten Termin. Nun sind wir allein mit diesen ersten Informationen und schauen uns an. Ich bin nicht in der Lage, zu denken oder zu reden. Mein Kopf ist leer. Ich versuche, diese ganzen Informationen zu verstehen. Und bin mit einem Mal unglaublich müde. Das ist einfach alles zu viel. Doch eine Information setzt sich in meinem Gehirn sofort fest: Die multiple Sklerose ist nicht so schlimm. Es gibt Medikamente. Zwar keine Heilung, aber Medikamente. Ich werde nicht daran sterben!

Auch Paul ist in dieser Situation erleichtert. Er hat Tränen in den Augen. Tränen des Glücks. Denn natürlich hat sich mein lieber Mann, mit dem ich seit sieben Jahren durch dick und durch – wie in diesem Moment – extradünn gehe, Sorgen um mich gemacht. Er schaut mich an und sagt: »Oh Mann, ich habe echt große Angst gehabt. Angst, dass du etwas hast, an dem du bald sterben musst. Mit der MS kannst du leben. Das ist doch was! Um alles andere machen wir uns noch Gedanken. Aber jetzt freuen wir uns erst einmal!«

Er nimmt mein Gesicht in die Hände und küsst mich. Dann geht er hinaus, um in Ruhe mit meinen Eltern zu telefonieren, die zweihundert Kilometer weit entfernt vor dem Telefon sitzen und Angst um ihre einzige Tochter haben. Sie können nichts tun und müssen auf unsere Informationen warten. Das muss ein schreckliches Gefühl sein. Während ich darüber nachdenke, schlafe ich auf meinem Krankenhausbett ein.

Irgendwann weckt Paul mich, weil er gehen muss und sich noch von mir verabschieden will. Ich möchte ihn am liebsten gar nicht gehen lassen und beginne wieder zu weinen. Es fällt ihm sichtlich schwer, mich so zurückzulassen. Aber neben seiner kranken Frau muss er sich auch noch um seine Arbeit kümmern.

Obwohl ich ihm versprechen muss, die Zeit während seiner Abwesenheit nicht damit zu verbringen, mit meinem Smartphone im Internet nach der multiplen Sklerose zu recherchieren, mache ich natürlich sofort genau das. Ich kann einfach nicht anders. Ich muss nachlesen, was diese Krankheit eigentlich genau bedeutet. Schließlich hat sich bisher noch kein Arzt Zeit genommen, mir das einmal zu erklären. Und es sieht auch nicht so aus, als würde das in naher Zukunft passieren. Ich bin überrascht, wie viele Themenseiten, Diskussionsforen und Gruppen von Betroffenen es gibt, und klicke mich durch das vielfältige Informationsangebot. Ich erfahre, dass die MS eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems ist. Chronisch bedeutet, dass sie nicht heilbar ist und die Patienten dauerhaft begleitet. Das war mir vorher gar nicht richtig klar. Chronisch krank. Ich finde, das hört sich nach einer Oma-Krankheit an! Nach etwas, mit dem man sich altersbedingt abfinden muss. Nicht nach einer jungen Frau.

Es gibt Medikamente zur Behandlung der MS, aber weder heilen diese die MS, noch halten sie die Krankheit mit Sicherheit auf. Es gibt Patienten, bei denen die Mittel wirken, aber es gibt auch Patienten, die trotz Medikation zahlreiche Schübe bekommen und sie durchstehen müssen. Darüber hinaus haben die Präparate oft zahlreiche Nebenwirkungen und schädigen bei Langzeiteinnahme Niere und Leber. Die MS, so lese ich weiter, tritt meist im jungen Erwachsenenalter zwischen Anfang und Mitte dreißig auf, und es erkranken mehr Frauen als Männer an der MS. Warum das so ist, weiß die Forschung leider noch nicht. Sie äußert sich bei jedem Patienten anders und wird deswegen auch die Krankheit mit den tausend Gesichtern genannt. Sie kann zu schweren Behinderungen führen, aber auch ganz milde verlaufen. Ich lese Erfahrungsberichte von Menschen, die innerhalb eines Jahres nicht mehr laufen konnten und auf den Rollstuhl angewiesen sind. Oder von anderen, die durch die MS mit einer bleiernen Müdigkeit, »Fatigue« genannt, zu kämpfen haben, die offenbar so belastend ist, dass sie nicht mehr arbeiten können. Aber es gibt auch Betroffene, denen es auch nach Jahren noch gut geht und die die Erkrankung fast gar nicht spüren. Auch hier weiß die Forschung noch nicht, woran das liegt. Oh bitte, lass mich zu denjenigen gehören, bei denen die Krankheit milde verläuft, denke ich sofort. Und dann lese ich weiter: Bei der MS greift sich das Immunsystem selbst an und zerstört das Myelin, das die Nerven umhüllt und für die Übertragung der Signale von Nerv zu Nerv verantwortlich ist. Die Reize werden also irgendwann nicht mehr übertragen. Je nachdem, wo das Myelin in Hirn und Rückenmark zerstört wurde, kommt es für die Patienten zu Beeinträchtigungen. Diese können von Taubheit und Sensibilitätsstörungen, wie bei mir, bis zu Blindheit, Taubheit, Inkontinenz, Nervenschmerzen oder Lähmungen führen. Sogar die Merkfähigkeit des Gehirns kann aufgrund der MS nachlassen. Zusammengefasst können also sämtliche Körperfunktionen beeinträchtigt werden, für die die Nerven gebraucht werden. Und die Nerven braucht der Körper so ziemlich bei allem, was er tut. Scheiße! Das sind ja tolle Aussichten! Bei dieser Krankheit scheint alles möglich zu sein. Jetzt hätte ich gern Paul an meiner Seite, um diese Informationen zu verarbeiten. Mir war bewusst, dass die multiple Sklerose dafür sorgen kann, dass die Patienten nicht mehr laufen können, aber nicht, dass quasi der gesamte Körper betroffen sein kann und man dann zum totalen Pflegefall wird!

In mir macht sich eine unglaubliche Wut auf meinen Körper breit. Ich weine, ich schreie, ich haue mich selbst. Ich hasse meinen Körper dafür, was er mir gerade antut. Das darf doch alles nicht wahr sein! Warum muss mir so was passieren?

Irgendwann kommt eine Schwester nach mir schauen. Sie hat wohl mein Geschrei gehört. Sie ist schon etwas älter und arbeitet anscheinend schon lange auf der Neurologie. Sie spürt meine Wut und Verzweiflung, nimmt mich in den Arm und redet mit ruhiger Stimme auf mich ein: »Mein Mädchen, das wird schon. Irgendwie. Irgendwie geht es immer weiter! Ich habe schon so viele junge Frauen wie dich hier gehabt. Es gibt immer einen Weg, und es geht immer irgendwie weiter. Das ist dein Mann, der dich immer besuchen kommt, oder?«

Ich nicke verheult.

»Schau mal, du hast so einen tollen Mann an deiner Seite. Der lässt dich nicht allein. Und wenn man nicht allein ist, ist alles schon einfacher. Glaub mir, ich kenne so viele Patienten, die besucht niemand. Die sind ganz allein. Das ist so unglaublich traurig.«

Und dann hält sie mich noch eine Zeit lang im Arm, während ich weiter weine.

Alles wie immer, nichts wie sonst

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