Читать книгу Alles wie immer, nichts wie sonst - Julia Hubinger - Страница 8
KAPITEL 4
ОглавлениеAm nächsten Morgen bekomme ich meine erste Kortisoninfusion. Ich habe mich erst gegen das Kortison gewehrt. Ich nehme eigentlich nicht häufig Medikamente. Sogar die Antibabypille habe ich vor über drei Jahren abgesetzt. Ständig hatte ich nicht definierbare Wassereinlagerungen in den Beinen und im Gesicht. Seitdem ich die Pille nicht mehr nehme und generell versuche, kleine Wehwehchen wie zum Beispiel Kopfschmerzen alternativ, also mit einem Kühlkissen oder mit Zitronensaft in Espresso, zu bekämpfen, geht es mir in Bezug auf die Wassereinlagerungen viel besser. Und jetzt soll ich so etwas Fieses wie Kortison gespritzt bekommen? Das muss doch Gift sein! Allerdings haben hier weder die Krankenschwestern noch die Ärzte Zeit und Muße, sich mit meinem – für sie nichtigen – Problem auseinanderzusetzen. Sie schauen mich verständnislos an, als ich sie frage, ob das Kortison wirklich sein muss.
Ich rufe meine Heilpraktikerin an und sie beruhigt mich. Klärt mich auf, dass ich das Kortison nun besser nehme, da es bei solchen Nervenentzündungen zur Standardtherapie gehört. Sie ist die erste Person, die mir zuhört, meine Bedenken ernst nimmt und mir Mut zuspricht. »Mach das jetzt!«, sagt sie. »Wenn du hinterher gesundheitliche Probleme haben solltest, kümmern wir uns dann darum. Aber wenn wir jetzt nicht mit Kortison behandeln, dann haben sie keine Alternative im Krankenhaus für dich. Deine Symptome können durch das Kortison gestoppt werden und möglicherweise wieder zurückgehen. Du hast eigentlich keine andere Wahl, als es zu nehmen.«
Also wehre ich mich nun nicht mehr und hänge am Tropf. Drei Stunden lang tropft das Kortison in meine Venen. Dabei breitet sich ein metallener Geschmack auf meiner Zunge aus. Mir ist etwas flau, und mein Magen schnürt sich zu. Nach einer halben Stunde am Tropf ist es schon so weit, dass mir beim Gedanken an Essen ganz schlecht wird. Aha, so sind also die ersten Anzeichen des Kortisons. Natürlich hatte ich vor der Infusion wieder Dr. Google zu möglichen Nebenwirkungen des Medikaments befragt. Aber so genau sind sie nicht vorauszusagen. Sie sind zu unterschiedlich. Manche Menschen bekommen Fressattacken, bei anderen sorgt es für eine Magenschleimhautentzündung oder aber auch für Schlaflosigkeit, sogar zu einer depressiven Stimmung kann es kommen. Wieder andere werden davon aufgedunsen, weil sie Ödeme, also Wassereinlagerungen, bekommen. Sehr häufig kommt es zu einer Lichtempfindlichkeit sowie zu schnellem Sonnenbrand. Der Strauß an Möglichkeiten ist also bunt, mal schauen, was bei mir eintreten wird. Fressattacken schließe ich in meinem momentanen Zustand erst einmal aus.
Nach drei Stunden bin ich fertig und kann das Krankenhaus bis zum Abend verlassen. Paul holt mich ab, um den Tag mit mir zu verbringen. Er fragt mich, was ich unternehmen möchte.
»Kaffee, ich möchte endlich mal wieder einen anständigen Kaffee trinken gehen«, ist meine Antwort. Also machen wir das erst einmal. Danach fahren wir in unsere Wohnung, wo es herrlich still ist. Es ist so schön, vom Krankenhausalltag mit seinem kontinuierlichen Lärm eine kleine Auszeit zu bekommen. Ich schaue mir die Fotos von unseren Freunden und der Familie an, die bunt zusammengewürfelt an der Wand über dem Sessel hängen. Dabei denke ich an die vielen Momente, die ich mit jeder einzelnen Person verbracht habe. Damals, als ich noch nicht krank war. Ich versuche, etwas zur Ruhe zu kommen. Und zu fühlen, wie das Leben mit Krankheit ab sofort wohl ist. Aber ich habe keine Ahnung.
Paul fragt mich, ob ich was essen will, aber das Kortison macht mich appetitlos. Mein Magen ist immer noch zugeschnürt. Ich rufe meine Eltern an, und wir verabreden, dass sie am nächsten Tag auf einen Kurzbesuch vorbeikommen.
Dann beginne ich, im Internet nach Therapiemöglichkeiten der multiplen Sklerose zu suchen. Dabei steht für mich von Anfang an im Vordergrund, was ich neben der medikamentösen Therapie selbst machen kann. Ich brauche irgendwie das Gefühl, etwas unternehmen zu können. Meinem Körper möchte ich die optimale Basis zum Kampf gegen die Erkrankung geben. Ich lese viel über die Auswirkungen von Stress auf die MS. Eines verstehe ich schnell: Stress ist nicht gut. Es wird also in Zukunft darauf ankommen, Stress so gut es geht zu vermeiden. Denn Stress kann bei einer multiplen Sklerose schubauslösend sein, und das würde bedeuten, dass neue Entzündungen an den Nerven und neue Symptome auftreten. Da die MS noch nicht heilbar ist, gibt es zahlreiche alternative Therapien, die Wirkung und sogar Heilung versprechen. Eine Garantie, was bei mir wirken wird und ob überhaupt irgendeine Therapie Besserung bringen kann, gibt es nicht.
Zum ersten Mal komme ich mit der geschäftlichen Seite einer unheilbaren Krankheit in Berührung. Denn jede alternative Therapie kostet natürlich auch Geld. Und zwar nicht wenig. Wie viele Argumente es für jede einzelne Therapie geben mag, genauso viele gibt es augenscheinlich auch gegen sie. Sehr schnell stellt sich Frustration bei mir ein. Ich möchte doch einfach nur wissen, was mir hilft. Aber ich finde keine Antwort darauf. Ich ahne noch nicht, dass ich mich mit dieser Frage auf eine Reise begeben und beständig dazulernen werde. Kurzerhand bestelle ich mir zwei Bücher. Eines stellt alternative Therapien bei multipler Sklerose vor, das andere ist die Lebensgeschichte einer Frau, die sich ihre durch die MS eingeschränkte Beweglichkeit wieder zurückerkämpft hat. Mut, ich brauche jetzt Beispiele, die mir Mut machen.
Irgendwann schalte ich den Fernseher ein und bleibe an einem Werbefilm hängen: Es ist ein kurzer Film der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft. Am vergangenen Donnerstag, dem Tag, an dem ich meine Reisetasche gepackt habe und in der Uniklinik vorstellig wurde, war der diesjährige Welt-MS-Tag. Manchmal sind Zufälle wirklich unheimlich. Der Film zeigt Menschen, die mit der multiplen Sklerose schon unterschiedlich lange leben. Zum Schluss wird eine Frau gezeigt, die die Diagnose erst gerade bekommen hat. Ich erkenne mich in ihr wieder und fange an zu weinen. Jetzt gehöre ich höchstwahrscheinlich auch zu der Gruppe MS-Menschen dazu. Ich kann es einfach nicht fassen!
Zum Abendessen muss ich wieder ins Krankenhaus. Das ist ein komisches Gefühl. Ich würde viel lieber bei Paul bleiben. Heute Abend findet der Eurovision Song Contest statt, und wir beschließen, zumindest einen Teil der Veranstaltung gemeinsam im Krankenhaus zu gucken. Wir kuscheln uns in meinem Krankenhausbett zusammen und schalten den Fernseher ein. Jedes Jahr sagen wir uns, dass wir uns den grellbunten Wettbewerb mit seinen skurrilen Figuren, modischen Geschmackverwirrungen und gesanglichen Kuriositäten nie wieder antun, und dann können wir doch nicht anders und schalten ein. Diesmal gefällt mir der deutsche Beitrag sehr gut: Es ist Lena Meyer-Landrut mit Satellite. Schon die Vorauswahl in Deutschland hatte ich verfolgt, und ich bin gespannt, ob sie eine Chance auf die vorderen Plätze hat. Und während wir so da auf meinem Krankenbett liegen, mache ich mein Gedanken-Schicksalsspiel. Das mache ich immer mal. Ich sage mir also: »Wenn Lena Meyer-Landrut gewinnt, dann werde ich ein schönes Leben trotz multipler Sklerose haben. Dann wird alles gut!« Paul erzähle ich nichts davon – ich schäme mich für meine Gedankenspielchen. Ich weiß, dass es eigentlich unsinnig ist, sein Wohl an solchen Spielchen festzumachen. Aber ich kann einfach nicht damit aufhören.
Als alle Sänger ihre Lieder präsentiert haben und es an die Auswertung geht, fährt Paul nach Hause. Ich schaue mir die Ergebnisse daher allein an – und kann es kaum glauben: Lena gewinnt. Und ja, vielleicht ist es bescheuert, aber mir gibt das in diesem Moment einen unheimlichen Auftrieb: Ja, ich habe vielleicht MS, aber ich bin nicht allein! Lena hat gewonnen, und alles wird gut!
Am nächsten Morgen gibt es die nächste Kortisoninfusion, und dann holt mich Paul wieder ab. Der Hunger ist noch nicht wieder zurück, ich kriege nach wie vor kaum etwas runter. Zu Hause stelle ich mich auf die Waage und traue meinen Augen nicht: Ich habe in den vergangenen vier Tagen fünf Kilo abgenommen! Noch vor wenigen Wochen hätte ich mir das sehnlichst gewünscht. Nun weiß ich, wie viele Ängste für diesen Gewichtsverlust verantwortlich sind. Das stimmt mich nachdenklich. So lange und so oft war ich mit meinem Körper unzufrieden. Zu weiblich war er mir, zu viele Rundungen hatte er, und überhaupt wäre ich immer gern fünf bis zehn Kilo leichter gewesen. Was habe ich ihn gegeißelt dafür, wie viele Diäten habe ich ausprobiert! Und war doch immer unzufrieden. Ein Gang auf die Waage konnte mir die Laune für den ganzen Tag vermiesen. Und nun? Nun hatte ich in nur vier Tagen die ersehnten fünf Kilo auf einen Schlag runter. Aber der Preis dafür war hoch. Ich habe in den letzten Tagen Angst um mein Leben gehabt. Eine Angst, die ich so stark und existenziell noch nie gespürt habe. Diese Angst hat mir den Appetit verdorben und wahrscheinlich auch meinen Stoffwechsel angeregt. Außerdem laufe ich seit der ersten Kortisongabe im Halbstundentakt auf die Toilette, weil ich durch das Medikament entwässere. Ja, natürlich freue ich mich über den Gewichtsverlust. Aber ich merke, dass es nicht mehr das Nonplusultra für mich ist. Wie unwichtig das Aussehen doch eigentlich ist! Viel wichtiger ist es, gesund zu sein. Darauf kommt es an und nicht darauf, ob ich ein, zwei Kilo mehr oder weniger auf den Rippen habe. Ja, diese Erkenntnis ist so einfach. Aber auch so elementar. Mir ist, als eröffne sich ein ganz neues Universum für mich.
Zum Mittagessen kommen meine Eltern zu Besuch. Zweieinhalb Stunden sind sie aus dem Ruhrgebiet gefahren, um ihre Tochter zu sehen. Und ich kann ihnen die Sorgen der letzten Tage ansehen. Ganz grau ist meine Mama im Gesicht. Ich merke, wie mich meine Eltern anschauen und versuchen, die multiple Sklerose an ihrer Tochter zu sehen. Sie zu erkennen. Aber man kann sie nicht sehen. Noch nicht – aber vielleicht wird man sie auch nie an mir sehen können. Wir weinen zusammen und können es alle nicht fassen, dass wir uns nun mit so einer Erkrankung auseinandersetzen müssen. Wir tragen zusammen, was wir uns in den vergangenen Tagen über die multiple Sklerose an Wissen angelesen haben. Und halten uns alle an dem Gedanken fest, dass sie so unterschiedlich verläuft. Dass es zwar schwere Verläufe gibt, die sehr schnell im Rollstuhl mit zahlreichen Einschränkungen enden, aber dass es auch sehr viele milde Verläufe gibt. Verläufe, mit denen man fast uneingeschränkt leben kann. Dass man mit der MS sogar Kinder bekommen kann. Dass meine recht milden Symptome ohne größere Einschränkungen auch ein Anzeichen für einen langsamen Verlauf sein können. Schlimmer wäre es gewesen, direkt gelähmt zu sein. Oder blind. Oder der Hirntumor, ALS. Wir halten uns bei den schlimmeren Verläufen und Krankheiten auf. Der Vergleich beruhigt und macht Hoffnung. Klar, natürlich muss man mit so einer Erkrankung immer auf sich aufpassen. Aber ist es nicht generell gut, auf sich aufzupassen? Auf gesunde Ernährung, Ruhe, Bewegung und ausreichend Schlaf zu achten? Daran halten wir uns fest: an dem Gedanken, dass dieser Schub möglicherweise auch der einzige meines Lebens sein könnte. Oder nur einer von sehr wenigen. Dass das nicht das Ende meines Lebensglücks bedeuten muss. Dass ich einen tollen Mann an meiner Seite habe, der mich unterstützt in allem, was ich tue. Wir reden darüber, dass ich noch nie gut mit Stress umgehen konnte und mich nun damit beschäftigen sollte, wie ich zum Beispiel einen besseren Umgang mit dem Druck in der Arbeit finde.
Zusammen schauen wir nach vorne, schmieden Pläne, was ich im Kampf gegen diese Erkrankung machen und erreichen kann. Das macht mir Mut, denn so habe ich nicht das Gefühl, wehrlos einer unheilbaren Krankheit ausgeliefert zu sein. In einem Körper zu stecken, der macht, was er will, ohne Rücksicht auf meine Träume und Pläne.
Am frühen Abend machen sich meine Eltern wieder auf den Weg. Sie sind selbstständig und müssen am nächsten Tag wieder zur Arbeit. Wir vereinbaren, dass wir uns schnell wiedersehen und uns nun erst einmal nicht verrückt machen, bis ich die gesicherte Diagnose haben werde. Aber kann man das überhaupt? Sich bei so etwas nicht verrückt machen? Irgendwie müssen wir nun alle durch die nächsten Tage, die Zeit des Wartens durch. Keine Ahnung, wie wir das schaffen werden.