Читать книгу Alles wie immer, nichts wie sonst - Julia Hubinger - Страница 7

KAPITEL 3

Оглавление

Ich werde zum MRT meiner Wirbelsäule abgeholt. Es wird untersucht, ob in meinem Rückenmark weitere Läsionen sind. Das MRT, die Magnetresonanztomografie, macht die Läsionen sichtbar. Das Ganze wird etwas über eine Stunde dauern. So lange liege ich in einer beklemmend engen metallenen Röhre, die unter ohrenbetäubendem Lärm scheibchenweise Bilder von meinem Rückenmark macht. Dabei darf ich mich nicht bewegen, sonst verwackeln die Bilder, und alles war umsonst. Erst gibt es eine Runde Bilder ohne Kontrastmittel und dann eine Runde Bilder mit Kontrastmittel, das mir gespritzt wird, während ich in dieser Röhre liege. Ich habe Musik auf die Ohren bekommen, da der Lärm des MRTs wirklich immens ist. Bis zu hundert Dezibel laut sind die Klopfgeräusche, die bei einem MRT erzeugt werden. Leider so laut, dass ich die Musik, die ich zur Ablenkung bekommen habe, gar nicht richtig hören kann. Dafür wird mir in dieser Enge der Röhre gerade das ganze Dilemma meiner Situation bewusst: Ich liege hier drin, weil ich höchstwahrscheinlich an multipler Sklerose erkrankt bin. So eine verdammte Scheiße! Vor Wut beginne ich wieder zu weinen. Die Tränen laufen mir an meinen Wangen herab bis zum Hals und kitzeln mich dort. Aber ich darf sie nicht wegwischen, sonst verwackeln die Bilder. Und dann muss ich noch mal hier rein. Das will ich auf gar keinen Fall! Ich fühle mich elendig und tue mir selbst leid. Warum? Warum ich? Warum muss ich diese beschissene Krankheit haben? Warum muss ich überhaupt krank sein?

Die letzten fünf Jahre habe ich von meinem Herzensmann getrennt gelebt. Gezwungenermaßen, da uns unsere beruflichen Wege nach dem gemeinsamen Studium erst mal in verschiedene Städte führten. Minimum dreihundert Kilometer lagen in den vergangenen Jahren immer zwischen uns. So packten wir all unsere Liebe in die Wochenenden und pendelten stets zwischen zwei Städten. Sogar geheiratet hatten wir in dieser Zeit. So sicher waren wir uns, dass wir trotz Entfernung zusammenbleiben wollten. Erst vor acht Monaten hatten wir beschlossen, dass es so nicht mehr ging. Dass wir, wie im Studium, endlich wieder gemeinsam an einem Ort sein wollten. Paul hatte deswegen extra seinen Job gewechselt. Wir suchten uns ein schönes Nest in Frankfurt und kamen endlich zur Ruhe. Auch weil ich endlich nach langer Suche in einem guten Job angekommen war. Ein Job, der mir endlich eine Perspektive und nette Kollegen bot. Und jetzt, gerade mal fünf Monate nachdem sich endlich alles gefügt hatte, muss ich diese verdammte Scheiße bekommen? Warum nur? Warum passiert mir das jetzt? Das ist so ungerecht! Je mehr ich mich darüber aufrege, desto mehr bekomme ich Panik in dieser Röhre. Ich will hier auf der Stelle raus! Raus aus der Röhre, raus aus diesem Körper, raus aus diesem Scheißleben! Ich höre, wie die Krankenschwester mich durch die Klopfgeräusche fragt, ob alles in Ordnung sei. Sie kann mich über einen Bildschirm sehen und merkt, dass ich panisch werde.

Irgendwie muss ich mich beruhigen, sonst endet das hier in einer Panik- oder Wutattacke, die mich nicht weiterbringt. Diese verdammten Bilder müssen ja gemacht werden. Müssen sie? Was wäre die Alternative? Wegrennen! Genau, ich gehe einfach. Niemand zwingt mich schließlich, hier in der Uniklinik zu sein. Niemand zwingt mich, mich dieser Diagnose und dieser Krankheit zu stellen. Ich muss das nicht machen. Bisher habe ich doch auch gut gelebt. Das bisschen Kribbeln, damit komme ich doch klar! Damit lässt es sich leben. Dafür brauche ich keine Diagnose, keine Medikamente, keine Arztbesuche. Aber bringt das etwas? Was, wenn die Krankheit fortschreitet? Kann ich vor ihr weglaufen? Nein, das kann ich nicht. Denn ich habe sie ja. Also, zumindest höchstwahrscheinlich. Und Paul? Er wird es gar nicht gut finden, wenn ich mich der Situation verweigere. Wegrennen kommt für ihn nie infrage. Er stellt sich jedem Problem und kämpft. Ich weiß, dass er mit mir zusammen kämpfen wird. Er wird an meiner Seite stehen und jede Möglichkeit verfolgen, um mir zu helfen. Und ich liebe ihn sehr, meinen Paul. Von der ersten Sekunde an. Ich kann mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Ohne ihn geht es nicht. Also muss ich auch für ihn stark sein. Ich muss da jetzt durch. Keine Ahnung, wie ich das anstellen soll. Aber es muss einfach gehen.

Und so denke ich an unsere Hochzeit vor zwei Jahren zurück. An unser Fest mit allen unseren Freunden und unseren Familien. Ich gehe Schritt für Schritt den Tag im Kopf noch einmal durch. Denke an jeden Moment. An all die schönen Überraschungen und daran, wie viel Liebe an diesem Tag zu spüren war. Darüber komme ich in der metallenen Röhre mit ihrer furchtbaren Lautstärke zur Ruhe. Am Ende lullen mich die Klopfgeräusche richtig ein. Ich bin wie in Trance und schlafe fast. Plötzlich sind die Geräusche ganz fern, und ich komme zum ersten Mal in den vergangenen vier Tagen irgendwie runter.

Bis hierhin bin ich durch die Hölle gegangen. Ich habe eine existenzielle Angst gespürt, die ich in meinem Leben noch nicht kannte. Nun weiß ich, was ich sehr wahrscheinlich habe. Und ich weiß, wie sehr ich leben möchte und was ich auf jeden Fall noch erleben möchte, nämlich ganz viele schöne Momente mit meinem Mann. Dabei schweben mir keine großen Dinge vor. Keine fernen Reisen, teure Anschaffungen oder Ähnliches. Nein, ich möchte einfach noch Zeit mit ihm haben. Zeit, um das Uns zu genießen. Ich möchte mit ihm durch mein Leben tanzen. Und dafür möchte ich noch ganz viel Lebenszeit haben. So wie es ausschaut, werde ich die auch noch bekommen. Vielleicht mit ein paar Einschränkungen. Aber ich werde sie haben. Und mehr ist jetzt nicht wichtig.

Alles wie immer, nichts wie sonst

Подняться наверх