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Oslo, Ende Mai des Jahres n

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Die letzte Maiwoche brach an und ich bestieg einen Flieger in Richtung Skandinavien. Noch nie zuvor war ich soweit nördlich gewesen. Wenn als Lieblingsbuch der Atlas und der Pass um die Wette kämpften und die ganze Wohnung mit Landkarten tapeziert und mit Globen ausgestattet war, verwunderte es nicht, dass ich auf solche Details bei meinen Reisen achtete. Außerdem war es das erste Mal, dass ich nach Norwegen aufbrach – ein Fleck auf der Landkarte, dem ich bisher nur sehr wenig Beachtung geschenkt hatte und der vermutlich noch weitere 10 Jahre von mir verschmäht geblieben wäre.

Die Gunst der Stunde nützend flog ich schon zwei Tage früher los, um einen Eindruck von Oslo zu bekommen. Immerhin gab es eine neue Stadt zu erkunden! Bis zuletzt hörte ich immer wieder von Leuten, Oslo sei nicht besuchenswert. Da musste ich dagegen sprechen!

Ich war begeistert vom Königspalast, dem Frogner und Vigeland Park mit seinen skurrilen Skulpturen, die aber gleichzeitig etwas Liebenswertes in sich trugen, der Innenstadt, dem umgebauten Hafengelände und natürlich dem Edvard-Munch-Museum. Die Tristesse und Schwermütigkeit dieses Künstlers, widergespielt in so vielen seiner Werke und gepaart mit dem Dauerregen über der Stadt, verliehen sie diesem Besuch eine einzigartige Tiefe, die mir bis heute hängengeblieben ist. „Der Schrei“ ist ein Gemälde, das mich bereits in frühen Jugendjahren zum Nachdenken gebracht hatte, weil es in meinem Schulgeschichtsbuch abgebildet gewesen war. Was brachte die Figur dazu, so inbrunstsvoll zu schreien und doch wirkte sie so stumm? Oder wird ihre Verzweiflung von Wind und Wetter davon getragen? Will sie etwas mitteilen oder ist sie nur heimlicher, stiller Beobachter? Ich sehe es immer als Abbild von einem Alptraum, wo man versucht zu schreien, sich zu wehren und sich auszudrücken, aber aus dem Mund kommt nichts als Stille. Obwohl man mit ganzem Körpereinsatz versucht, sich Gehör zu verschaffen, scheint es beim Gegenüber nicht anzukommen.

Sobald die Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke brachen und das Operngebäude im Glanz erstrahlen ließen, kam die Schönheit dieses sicherlich architektonisch mutigen Wurfes zur Geltung. Mitten in der Gräue des Hafens stach dieses Bauwerk hervor und verzauberte den Besucher mit seinen schrägen Linien, den Spiegelungen und der Einzigartigkeit, wie es aus dem Boden brechend versuchte, Aufmerksamkeit zu erregen.

Als Wintersportfanat durfte ich die Schisprungschanze am Holmenkolm auf keinen Fall unbeachtet lassen. Vier Jahre hatte ich in Innsbruck studiert und es nicht ein einziges Mal auf die Spitze des Bergisel geschafft. Wenn ich jetzt so zurückblicke, hätten Innsbruck und das Tiroler Umland noch sehr viele Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten geboten, aber uns war einfach die Gestaltung der vorlesungsfreien Zeit mit Kaffeehausbesuchen, stundenlangen Gesprächen in der Mensa und einem Leben in Bars nach Mitternacht wichtiger. Machte auch nichts! Alles zu seiner Zeit. So würde ich wenigstens immer einen Grund finden, um in meine Studienstadt, die ich gepaart mit den Erinnerungen daran, über alles liebte, zurückzukehren. Die fünf Studentenjahre hatten mir einige neue Freunde, viele neue Bekannte und unvergessliche Erlebnisse beschert. Ich hatte über die Jahre hinweg somit hervorragend investiert. Mein persönlicher Zinsertrag war in unermessliche Höhen geschnellt – ich kam an Orte, die ich nie vergessen und ich erlebte Abende, an die ich mich nie erinnern würde. Die Bilanz war also sehr ausgeglichen, fand ich.

Allein die Fahrt Richtung Holmenkolm die Hügel hinauf aus der Stadt hinaus, war einen Ausflug wert. Das Grün Norwegens schien mich komplett aufzusaugen und gleichzeitig mit einer frischen Energie zu versorgen, die ich selten wo auf der Welt vorgefunden hatte. Oben angekommen bot sich einem ein herrlicher Blick über die Stadt bis hin zum Meer. Unglaublich – jedes Mal läuft mir ein Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke, dass sich die Schispringer furchtlos – oder zumindest – respektvoll in die Tiefe stürzten, um dann den kurzen Moment des Fliegens für sich in Anspruch nehmen zu dürfen. Wenn ich mich doch nur ein einziges Mal überwinden könnte!

Ich hatte die Temperaturen vollkommen unterschätzt. Ausgestattet mit Kleidern wie bei jeder Geschäftsreise und ansonsten eher sommerlich angehauchter Mode trug ich alles, was der Koffer hergab. Und mir war trotzdem nicht sonderlich warm. Dementsprechend musste der Kaffee in der Sonne nach drinnen verlagert werden. Meine Garderobe würde wohl für die nächste Woche ähnlich aussehen. Mit Freude blickte ich der bevorstehenden Messe entgegen; immerhin würde ich einige neue Kollegen kennenlernen und es war schließlich alles besser, als im grauen Büro zu sitzen.


Wie solche Dinge, die man zum ersten Mal machte und deswegen gut machen wollte, die Angewohnheit hatten, gingen sie zu Beginn meist schief. Auch in diesem Fall. Nachdem ich alles von meiner Vorgängerin übernommen hatte, war natürlich bei der Übergabe einiges untergegangen und ich fand mich mit meinem Kollegen auf einem leeren Messestand wieder. Eine Arbeit, die locker nach einer Stunde erledigt hätte sein können, dehnte sich nun über den gesamten Nachmittag aus. Schweißgebadet und schmutzig konnte ich es nicht erwarten unter die Dusche zu springen und mir anschließend einen Drink zu gönnen.

Gesagt, getan. Wir saßen in der Hotelbar und warteten auf einen weiteren Kollegen. Er war ebenfalls im Verkauf tätig und Norweger. Komischerweise war er mir im ersten Moment sofort unsympathisch. Auch die Gesprächsthemen, die er wählte, fielen für mich eher in die Kategorie ‚Macho in der Midlife-Crisis‘. Die gab es wie Sand am Meer, somit maß ich dem keine weitere Bedeutung bei. Er musste schließlich nicht mein neuer bester Freund werden. Trotzdem fand ich die Abhandlungen darüber, wo er in Oslo seine Exgeliebten sitzen hatte, eine merkwürdige Themenwahl für eine Geschäftsreise. Auch unser gemeinsamer Kollege warf während der Taxifahrt ein, ob er sich denn in der Midlife-Crisis befände. Somit war ich erleichtert, dass offenbar nicht nur ich diesen Eindruck gewonnen hatte. Und abgesehen davon – Midlife-Crisis! Der Typ war maximal Anfang 40. Schon traurig, wenn man da bereits unzufrieden mit seinem Dasein war.

Ich lehnte daher die ersten beiden Abende die jeweilige Einladung ab, in der Hotelbar noch einen trinken zu gehen. Irgendwann kam der Zeitpunkt, da waren einem solche Gespräche einfach zu blöd. Trotzdem stellte ich aber fest, dass untertags Jan’s Interesse eher meiner Person galt, als sich auf die Suche nach neuen Kontakten zu machen. Und was blödelten wir nicht alles vor uns hin! Wir waren in einer grauen Halle gefangen, wo kein Sonnenstrahl den Weg nach drinnen fand.

Bald stellten wir fest, dass wir zu einigen Kollegen die gleiche Einstellung hatten und wir von so mancher Unfähigkeit einerseits überrascht und andererseits auch extrem verärgert waren. So spann sich das Gespräch weiter und ich fand heraus, dass er bereits seit mehr als zehn Jahren bei der Firma tätig war und noch um einiges länger bereits mit seiner Familie Deutschland als Lebensmittelpunkt gewählt hatte. Deswegen überraschte mich seine Frage auch nicht, wie ich mir meine Zukunft vorstellte; immerhin hatte er sich mit einer festen Anstellung, Frau und Kindern eine solide Lebenswelt geschaffen.


Ich weiß nicht, ob ich mir damals soviele Gedanken über meine Zukunft machte. Ich war 28, genoss das Leben in vollen Zügen und die schlimmste Vorstellung für mich war, in die Biederhaftigkeit jener Welt einzutreten, die in Österreich vorzuherrschen schien. Zumindest war das mein Eindruck aus der Ferne.

Am Montag, wenn sich der Alkoholspiegel gegen ein Normalmaß sank, begann ich mich wieder auf das Wochenende zu freuen. Die Zeit dazwischen musste wohl oder übel überbrückt werden, was einem in der englischen Metropole nicht allzu schwer fiel. After-work-drinks, Fitnessstudio, Theater, hervorragende Restaurants und sich mit Freunden treffen, was meist weiteres Ausgehen beinhielt, halfen dabei, Montag bis Donnerstag erträglich zu gestalten, um dann – juhu, endlich Freitag! –wieder durchstarten zu können. Diese Routine wurde unterbrochen von diversen Wochenendkurztrips. Gerade ein Jahr zuvor war ich vier Monate durch Neuseeland und Australien gereist, hatte viele neue Eindrücke gewonnen, Menschen kennengelernt und die Freiheit genossen. Daher war mein Reisebudget für größere Ausflüge etwas eingeschränkt; Europa musste also vorübergehend ausreichen.


Es war mir offensichtlich anzusehen, dass meine Gedanken sehr weit abgedriftet waren. Jan wedelte mit seiner ausgestreckten Hand vor meinem Gesicht herum. Er schien zu merken, dass ich mich mit diesem Thema sehr wohl auseinandersetzte. Er fragte: „Was willst du vom Leben“, und nach einer Pause fuhr er fort, „was erwartest du dir in ein paar Jahren?“ Bereits da zeigte sich, dass Jan ein Mann war, der nicht nur an Oberflächlichkeiten interessiert war. Er hatte eine Art, Dinge zu hinterfragen und sich auch zu merken, die ich noch selten bei jemandem festgestellt hatte. Es schien, als ob er sich dadurch mit mir auf eine Ebene stellte und mir so das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein.

Was wollte ich vom Leben? Hm... gute Frage. Sehr gute Frage. Nur leider hatte ich keine Antwort parat. Musste man die mit 28 haben? Oder überhaupt? Vielleicht bin ich da auch zu kleinkariert, weil selbstverständlich konnte ich eine Antwort darauf geben... im großen Sinn: glücklich sein, Gesundheit für alle Menschen, die mir wichtig waren und für mich selbst und dann glaubte ich, dass sich der Rest von alleine ergab. Oh, und immer eine Reise geplant zu haben, auf die ich mich freuen konnte. Mir war natürlich selbst in diesem Moment sonnenklar, dass das nicht die Antwort war, die den Erwartungen der Gesellschaft an eine Frau in meinem Alter und mit meinem Intelligenzgrad in Mitteleuropa entsprach. Ob mich das störte? Nicht wirklich. Eher ärgerte es mich, dass man sich, sobald man nicht der 08/15-Norm entsprach, sehr oft rechtfertigen musste.

Ich legte also meinen Kopf schief, sah Jan nachdenklich an und erwiderte: „Jetzt noch ein bisschen Spaß haben und dann weiß ich nicht... vielleicht setze ich mich mit 35 Jahren nach Salzburg und bepflanze meinen Balkon mit Tulpen.“ In diesem Moment verzog sich sein Gesicht in eine zuerst ungläubige Grimasse und dann brach er in schallendes Gelächter aus.


Noch am selben Abend gingen wir gemeinsam essen. Unsere Kollegen waren bereits alle abgereist und ich war fix und fertig von den letzten Tagen voller Erlebnisse und meine Vorstellung war, mich auf mein Hotelbett zu legen, ein bisschen fernzusehen und sobald als möglich zu schlafen. Meinen Wunsch geäußert steuerten wir das auf Grund der frühen Stunde noch leere Hotelrestaurant an, wo wir uns bei Fisch und alkoholfreien Getränken austauschten.

Ehrlich gesagt kann ich mich gar nicht mehr so genau erinnern, welche Themen wir durchackerten. Die Firma, die Kollegen, aber auch einiges Privates. So unsympathisch war Jan dann doch nicht! Die Zeit verging wie im Flug und keiner von uns bemerkte, dass sich das Restaurant in der Zwischenzeit gefüllt hatte und dann auch wieder leerte. Erst als Jan’s Frau zu späterer Stunde bereits das zweite Mal anrief, beschlossen wir, dem Abend ein Ende zu bereiten. Auf meinem Weg vor die Hoteltüre, um meine allabendliche Gute-Nacht-Zigarette zu rauchen, blickte ich ihm nach und schüttelte innerlich den Kopf. Andere Mitglieder der Gesellschaft hätten einen netten Abend verbracht, ein nettes Gespräch geführt und den Abend anderwertig ausklingen lassen. Und am nächsten Tag verlor keiner mehr ein Wort darüber. Ich aber hatte stundenlang geredet... und es störte mich kein bisschen...

Ich nahm den letzten Zug, schob die Gedanken beiseite und fiel Stunden später als gedacht in mein nüchternes Hotelbett.


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