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London, ein Tag im späten Januar des Jahres n+1
ОглавлениеKennt ihr das? Mit einem Mal geht euch ein Licht auf? Auf einmal spulen sich die Ereignisse im Schnelldurchlauf vor dem inneren Auge ab und man klopft sich imaginär mit der flachen Hand auf die Stirn und hat den Heureka-Effekt? Genauso war es bei mir an einem Tag spät im Januar des nächsten Jahres...
Ich saß eher gelangweilt an meinem Schreibtisch und erledigte noch die letzten Angelegenheiten für eine Veranstaltung, die kurz darauf anstand. Mir war durchaus bewusst, dass der Januar nicht unbedingt der Monat der Luftsprünge und der guten Laune war, aber seit ich in das Berufsleben eingestiegen war, gestaltete er sich als besonders trüb. Es war finster, wenn ich zur Arbeit ging, es war finster, wenn ich meinen Arbeitsplatz verließ. Dazwischen musste ich mich im künstlichen Licht umgeben von grauen Wänden mit mehr schlechtem als rechtem Kaffee über Wasser halten.
Wie hatte ich mich als Kind auf den Jahresbeginn gefreut! Das bedeutete Geburtstagsfeier, Schnee vor der Haustür, das hieß verkleiden für den Fasching, später folgte die Ballsaison. Klar, während der Studienzeit bedeutete es auch Lernen, aber nachdem alle im gleichen Boot saßen, empfand ich es nicht als große Belastung. Statt viermal die Woche gingen wir eben nur samstags aus. Dazwischen aber versammelten wir uns in der gemütlichen Bibliothek, wälzten die Bücher, unterbrochen von der ein oder anderen Kaffee- und Zigarettenpause, die oft in Diskussionen und Lachen endete. Das Ziel war aber klar vor Augen und das hieß für jeden, jetzt reinbeißen und dann den Februar in Freiheit genießen. Tristesse hatte ich während dieser Jahreszeit allerdings nie empfunden.
Während ich dasaß und den Regentropfen dabei zusah, wie sie gegen die Fensterscheibe prasselten, bog ein mir inzwischen nicht mehr unbekanntes Wesen um die Ecke und steuerte direkt auf mich zu. Jan! Nach dem üblichen „Hallo, wie geht’s?“, nahm er sich einen Stuhl und setzte sich neben mich. Erst vor wenigen Tagen hatte ich den Veranstaltungskalender ausgesandt und es war klar, dass wir im August eine große Messe in Norwegens Öl- und Gas-Hauptstadt, Stavanger, ausrichten würden. Öl und Gas bedeutete Geld und Geld bedeutete hohe Aufmerksamkeit. Stavanger war eine Kleinstadt, die für eine Woche an die 100.000 Menschen beherbergen musste. Dementsprechend gab es eine Hotelzimmersperre für die meisten Firmen und wir mussten uns nach einer privaten Unterkunft in Form einer Wohnung oder eines Hauses umsehen. Meine Vorgängerin hatte mir den Vorgang bereits im Vorfeld erklärt und ich hatte uns ein Haus mit drei Schlafzimmern gebucht.
Jan war offensichtlich besser informiert als ich, denn er fragte neugierig: „Müssen wir wieder am Sonntag aufbauen? Und die Messe beginnt erst dienstags?“ Nach einem kurzen Check der Veranstalterseite im Internet stand fest, Jan hatte vollkommen Recht: sonntags musste die Arbeit gemacht werden, montags war frei und dienstags würden erst die Tore geöffnet werden. Ich versuchte meinen Grant zu verbergen, schließlich handelte es sich bei diesem Wochenende ausgerechnet um jenes, an dem in England der Montag ein Feiertag war. Großartig! Alle meine Freunde würden entweder das ganze Wochenende feiern oder aber sich irgendwo in Südeuropa am Strand in der Sonne aalen. Und was würde ich tun? Bibbernd in Norwegen sitzen! Meine Stimmung sank von „Januar-Regen-Blues“ auf „Freizeitentgang“ – und das war das Schlimmste überhaupt!
Als hätte er Zutritt zu meiner Gedankenwelt, drehte Jan meinen Laptop zu sich und fing an zu tippen. Als Suchresultat schien „Preikestolen“ auf. Als ich das Bild von diesem einzigartigen Felsvorsprung sah, wusste ich, schon davon gehört zu haben, hatte mich aber nie eingehender damit beschäftigt. Es stellte sich heraus, dass sich dieses Naturwunder nur unweit von Stavanger befand und so einen schönen Tagesausflug darstellen konnte. Jan war ganz begeistert und es sprudelte nur so aus ihm heraus: „Da sollten wir unbedingt hin! Ich war bereits vor Jahren mit einer Freundin da. Ein wirklich toller Ausblick! Und weit ist es auch nicht. Das passt genau für unseren freien Tag. Du bist doch fit?“ Ich nickte nur dazu, versuchte zu lächeln und so zu tun, als ob ich als Österreicherin keinen sehnlicheren Wunsch verspürte, als meinen Tag in den Bergen zu verbringen. Bitte nicht falsch verstehen, ich liebe die Berge, ich schaue auch gerne von ihnen ins Tal, aber nach oben geht es für mich nur auf zwei Arten – mit dem Auto oder mit dem Skilift. Alles andere war nie mein Ding gewesen. Wozu wo hochlaufen, um dann kehrtzumachen und wieder nach unten zu gehen? Diese Logik hatte mir noch nie eingeleuchtet.
Mein schauspielerisches Talent schien unerwartet große Ausmaße anzunehmen, weil Jan ließ nicht locker und spinnte schon die Gedanken weiter. „Wir brauchen ein Auto, um zur Fähre zu gelangen. Ich werde mich erkundigen, wann die Abfahrtszeiten sind!“ Fasziniert vom Eifer meines Kollegen, etwas zu organisieren, wo ich nur teilnehmen musste, ohne die Hauptrolle in der Planung übernehmen zu müssen, gefiel mir. Endlich jemand, der agierte und nicht nur reagierte. Wunderbar!
Wir einigten uns also darauf, das Projekt ‚Preikestolen‘ fix in unsere Geschäftsreise in den hohen Norden mit aufzunehmen. Details konnten wir während des nächsten halben Jahres besprechen. Ich sah meine Fälle schwinden, dieser Wanderung zu entgehen. Aber warum eigentlich nicht? Sonst war ich Neuem gegenüber auch offen! Zu Hause würde ich darüber Stillschweigen bewahren, weil ich konnte schon die verwunderten Blicke meiner langjährigen Freunde sehen, die ganz genau wussten, dass Wandern und mein Name normalerweise nicht in einem Satz fielen.
Jenseits der 25 Jahre hatte ich akzeptiert, dass der Spruch „Sag niemals nie.“ irgendeinen wahren Kern in sich tragen musste und er vermutlich von mit Lebensweisheit versehenen Personen – das wäre dann alles über 70 - erfunden worden war. Was hatte ich nicht inbrünstig alles von mir gegeben, was ich nicht tun würde! Bei der Erinnerung daran, die Gedanken an den Sarkasmus über den Lauf des Lebens und über einen selbst, wie man teilweise hilflos in unvorhergesehene Ereignisse schlitterte, brachte mich des Őfteren zum Schmunzeln.
Jan packte seine Sachen zusammen. Bestimmt musste er zum nächsten Meeting eilen; immerhin war er in der Zwischenzeit zum Vizepräsidenten befördert worden. Nicht, dass das für mich irgendwie von Bedeutung oder wichtig gewesen wäre, aber man merkte, dass er beschäftigter war als sonst. Bevor er um die Ecke bog, drehte er sich noch einmal um und sagte: „Uns kommt es auch so vor, als ob wir uns schon ewig kennen, oder?“ Dann verschwand er.
Und da war er. Der Moment, wo ich plötzlich innehielt. Der Satz wiederholte sich in meinem Kopf. Wie kam jemand darauf, so etwas zu sagen? Lustig. Wir kannten uns ja eigentlich gar nicht. Und wieder sah ich Jan vor mir, wie er sich umdrehte, die linke Hand am Tisch abgestützt, mich ansah und etwas aussprach, worüber er selbst keine Sekunde nachgedacht hatte.
*****
Ich ließ mich auf meinen Sessel fallen und auf einmal löste sich ein Feuerwerk aus Gedanken los, das quer durch meinen Kopf schoss. Plötzlich war ich wieder zurückversetzt in den Juli, kurz nachdem furchtbaren Amoklauf auf einer Oslo vorgelagerten Insel. Ein Blondschopf bog im Büro um die Ecke, grinste mich an und fragte: „Wie geht’s den Tulpen?“ Etwas verwirrt sah ich von meinem Laptop hoch und hatte keine Ahnung, was hier das Thema war. Es bedurfte Aufklärung von Jan’s Seite und eine Erinnerung an unser Gespräch in Norwegen zwei Monate zuvor. Ehrlich! Ich konnte mich in keinster Weise daran erinnern. Es war aber tatsächlich eine schöne Abwechslung, wenn ein Mann sich ein Gespräch ins Detail merkte. Kam schließlich selten genug vor!
Er war also extra in den Marketing-Teil unseres Londoner Büros gekommen, um mich zu sehen. Interessant. Sehr nett, fand ich. Immerhin ein Kollege in dem ganzen IT-Nerd-Haufen, der es schaffte, eine Kommunikation herzustellen, die Aufmerksamkeitsspanne über fünf Minuten aufrechtzuerhalten und dabei auch noch Dinge von sich zu geben, die dem Leben in der Realität, fernab von verschiedenen Programmiercodes, entsprach. Ich fühlte mich schon beglückt, wenn ich bei der Kaffeemaschine am Morgen gegrüßt wurde, anstatt dass sich mein Gegenüber fluchtartig aus der Küche verdrückte. Da war ich in eine mir völlig fremde Welt eingetaucht und selbst nach fast einem Jahr hatte ich mich noch nicht so richtig daran gewöhnt.
Und so war es dann öfters – immer, wenn Jan geschäftlich in London zu tun hatte, kam er mit seinem Kaffee um die Ecke gebogen, nahm sich einen freien Stuhl und wir plauderten über Gott und die Welt; vermutlich weitaus länger als der Kaffee reichte. Komisch oder, dass man gewisse Dinge einfach vergaß oder sie einem nicht auffielen beziehungsweise als wichtig erschienen bis sich auf einmal alles änderte?
Ebenfalls hatte ich komplett ausgeblendet, dass ich diejenige war, die ihm die erste private Email schrieb. Im November hatte ich beruflich in Amsterdam zu tun und kaufte in einem Anflug von vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit auf einem Markt über 50 Tulpenzwiebeln. Immerhin war ich im Land meiner Lieblingsblume, das musste so richtig ausgekostet werden! Es war auch die perfekte Jahreszeit, um den Balkon in Österreich zu bepflanzen.
Während ich in der Vorweihnachtszeit meine Errungenschaft betrachtete und mit meinen Händen in der Erde wühlte, musste ich plötzliche schmunzeln und an Jan denken, dem meine Tulpenliebe offensichtlich im Gedächtnis hängengeblieben war. Kurzentschlossen nahm ich meinen Blackberry zur Hand, machte ein Foto und schickte es an seine Arbeitsemailadresse gemeinsam mit einer kurzen Nachricht, mit der ich ihm und seiner Familie ein frohes Fest wünschte.
Die Antwort kam erst nach dem 6. Januar, mit der er sich bedankte, mir ebenfalls nachträglich „Frohe Weihnachten“ und ein gutes Neues wünschte und mir vorschlug, auf der diesjährigen Jahreskonferenz im März doch etwas trinken zu gehen. Völlig unbeeindruckt erschien mir zu diesem Zeitpunkt die Email als völlig normal - erst beim Rekapitulieren der letzten Monate horchte ich auch an dieser Stelle auf. Der Mann war verheiratet! Aber gut, wer flirtete nicht gerne und solange man sich nur den Appetit woanders holte und zu Hause gegessen wurde, war ja alles in bester Ordnung. Ich war da eindeutig schon wieder zu streng.
Somit war alles völlig harmlos und mir war auch bereits zu diesem Zeitpunkt klar, dass ich auf der Konferenz 18 Stunden pro Tag arbeiten und bei 500 anwesenden Personen vermutlich weder die Zeit noch die Muße haben würde, mit Jan an der Bar abzuhängen. Das teilte ich ihm auch in einer Email mit. Ich konnte mich also wieder entspannen.
Bis zu jenem Zeitpunkt Ende Januar, als Jan sich von mir verabschiedete, wo mir plötzlich alles bewusst wurde und ich offensichtlich auch noch eine Emailkommunikation in Gang gebracht hatte...