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Noordwijk, in den Iden des März des Jahres n+1

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Oh Mann, war ich gestresst! Gestresst und kalt war mir auch. März an der Nordseeküste. Ich wusste ja, warum ich den Süden als Urlaubsdestination bevorzugte. Alles war grau in grau, flach erstreckte sich das Land vor uns. Wir waren am Weg von Schiphol Airport nach Noordwijk, einem kleinen Städtchen unweit von Amsterdam. Aufgrund der Jahreszeit konnte ich mich auch an keinen Tulpenfeldern erfreuen, somit blieb nur zu hoffen, dass wenigstens das Hotel seine Reise wert war.

Und das war es. Die Lage, die Architektur und die Innenausstattung ließen an eine Zeit erinnern, wo auch Seebäder wie Brighton und Kolberg ihre Glanzzeiten erlebt hatten. Ebenso fuhr man damals auf Sommerfrische auf den Semmering. Als ich durch die Halle und über die breite Treppe nach oben ging, konnte ich förmlich den Schwung der frühen Jahre des 20. Jahrhunderts fühlen. Gerne hätte ich mich in eine Ballrobe geworfen und die Champagnergläser klirren lassen. Solche Orte voll mit Geschichte brachten mich immer zum Träumen und als ich die Tür meines Hotelzimmers im obersten Stock aufschloss, bat sich mir ein atemberaubender Ausblick. Der Nordseestrand und die Brandung glitzerten im Licht der untergehenden Sonne und mir war, als konnte ich die Möwen kreischen hören.

Ich atmete tief ein. Die nächsten vier Tage würden anstrengend werden. Viele neue Gesichter, aber auch viel Arbeit. Immerhin sollte unsere Jahreskonferenz für über 500 Teilnehmer ein voller Erfolg werden. Der Schweiß würde tropfen, die Füße würden schmerzen und die Müdigkeit würde ab einem gewissen Zeitpunkt unerträglich werden, aber der Moment, in dem ich mich am Ende einer Veranstaltung hinsetzte, auch der letzte Druck abfiel und ich mir selbst auf die Schulter klopfen konnte, war es immer wert. Und so auch diesmal. Die Teamarbeit funktionierte gut, wir lagen mit unseren Vorbereitungen in der Zeit und auch hatten wir jede Menge Spaß.

Die Gäste und auch unsere Kollegen trudelten langsam ein. Am Montag war ein voller Tag mit Trainings geplant, die Konferenz startete erst am Dienstag Morgen. Somit verteilte sich die Registrierung ein bisschen und uns blieb noch immer genug Zeit, uns um Dinge wie die Abendveranstaltung, die große Bühne und verloren gegangene Pakete zu kümmern. Der ganz normale Wahnsinn also.

Die Liste verriet mir, wer bereits angekommen war und wer nicht. Immer wieder spähte ich Richtung Treppe, ob Jan auftauchen würde. Die letzten Wochen waren mir sein Auftritt und die Abschiedsworte in London nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Auch in diesen Wochen vor der Konferenz standen wir in Emailkontakt.

Einerseits war ich amüsiert darüber, dass mich ein offensichtlich verheirateter Mann Anfang 40, ein Familienvater, spannend fand, auf der anderen Seite hielt ich von diesen Exemplaren relativ wenig und so hoffte ich, dass die Konferenz keine unschönen Überraschungen mit sich bringen würde. Es war ja allseits bekannt, dass gerade solche Veranstaltungen von Alkohol durchtränkt und für die schmierige Anmache wie gemacht waren. In meinem alten Job musste ich ab einer gewissen Uhrzeit immer die Tischhälfte wechseln, um Männern diversen Alters zu entfläuchen. Nicht, weil ich mich für unwiderstehlich hielt sondern weil den meisten der anwesenden Personen ein gewisser Grad an Erziehung fehlte.

Amüsiert deshalb, weil meine Freundinnen und ich feststellten, dass wir offensichtlich in ein Alter gekommen waren, in dem wir für verheiratete Männer immer attraktiver wurden. Oder vielleicht sollte ich das korrigieren - wir stellten fest, dass es offensichtlich für den gebildeteten Mann zwischen 20 und 50 nichts Attraktiveres als eine intelligente Frau Anfang 30 gab, die zusätzlich die Eigenschaft aufwies, lustig zu sein. Diese Spezies, also wir, schien sehr dünn gesät und so kam es, dass jede von uns, gewollt oder ungewollt, damit in Berührung kam.

Ich ging die Stiege zur Rezeption nach unten, um mit dem Personal etwas zu klären und da sah ich ihn aus dem Augenwinkel: Jan kam mit Anzug und Trolley bepackt durch die Drehtür. Schnell drehte ich mich um, stand an der Rezeption und versuchte dem Concierge wild gestikulierend mein Anliegen mitzuteilen. Ich war mir sehr sicher, er hätte auch ohne meine Erklärung, die für einen Vollidioten in der Ausführung zugeschnitten war, alles bestens erledigt. Und dann - da war es: „Hallo!?!“ Ich drehte mich um und blickte geradewegs in Jan‘s gutmütige Augen. Braun waren sie. Hellbraun. Und ab und zu hatten sie einen Grünstich. Meine Mundwinkel wanderten nach oben und ich lächelte. Ab diesem Zeitpunkt war die Veranstaltung eindeutig noch besser.


Am Montag Abend war für unser gemeinsames Teamabendessen ein Tisch im Restaurant am Strand gebucht. Der weiß gestrichene Holzbau war dem Hotel vorgelagert. Trotz der kalten Jahreszeit stellte es ein tolles Ambiete dar. Der Sand wurde bis ins Lokal getragen, alles war mit Kerzenlicht ausgeleuchtet, auch die Holztische und –stühle waren weiß gestrichen. Die Blumendekoration war in rosa gehalten. Meine Gedanken drifteten ab und ich konnte eine leichte Sommerbrise spüren, doch statt des Schals hatte ich über den Bikini nur ein leichtes Sommerkleid geworfen. Die Seeluft lud immer zum Träumen ein. An diesem Strand konnte man unendlich lange Spaziergänge machen, in die Fluten eintauchen und sich spürbar mit jedem Atemzug erholen.

Leider war hier arbeiten angesagt. Nervös blickte ich auf mein Handy, um zu sehen wie spät es war. Ich musste zugeben, dass ich unbedingt zurück in die Hotelbar wollte, weil ich hatte das Gefühl, etwas zu verpassen.

Ich hatte mich zu diesem Zeitpunkt gerade erst warm getrunken; ins Bett gehen war daher mit Sicherheit das letzte, was ich wollte. Amüsiert betrachtete ich die verbliebenen Gäste um mich herum. Die meisten waren Teilnehmer der Konferenz, nur noch vereinzelt konnte ich Kollegen erspähen. Die Hauptverantwortliche der Veranstaltung schien einen Pegel erreicht zu haben, der nicht mehr feierlich war. Die Worte kamen eher langgezogen und etwas verzerrt aus ihrem Mund. Ich musste bei der Vorstellung schmunzeln, dass sie am nächsten Tag diejenige war, die als erstes erscheinen und als letztes gehen durfte. Das schien sie allerdings nicht davon abzuhalten, den Barkeeper herbeizuwinken und das nächste Bier zu bestellen.

Ich gesellte mich zum verbliebenen Rest an die Bar und führte Smalltalk Jan immer aus den Augenwinkeln beobachtend. Plötzlich stand er auf und schien den Abend für sich für beendet erklärt zu haben. Ich merkte, wie für einen Bruchteil von einer Sekunde Enttäuschung sich breitmachte.

Doch anstatt geradewegs auf den Aufzug zuzusteuern, wurde er langsamer und stellte sich neben mich an die Bar. Sichtlich bereits etwas angeheitert grinste er mich an. „Ach, du bist auch noch hier? Musst du morgen nicht arbeiten?“ „Ja, genau wie du!“, kam meine Antwort wie aus der Pistole geschossen. Wir musterten uns schelmisch. ‚Was sich liebt, das neckt sich.‘ ist ein sehr beliebter Spruch und Jan und ich verstanden es, ihn von Beginn an zur Perfektion umzusetzen.

Unsere Runde vergrößerte sich und die Nationalitäten vermehrten sich. Deutsch mischte sich mit Englisch, Schwedisch, Norwegisch und Finnisch. Ich mochte diese internationale Atmosphäre. Dieses Sprachengemisch und die unterschiedlichen Gesten hatten mich schon immer fasziniert. Deswegen war mir immer klar gewesen, dass ich im Ausland leben und auch in meiner Freizeit sehr viel reisen musste. Jan wechselte die Sprachen, wie es ihm gefiel und je mehr Bier seine Kehle hinabrann desto mehr war er in seinem Element. Bei diesem Anblick musste ich schmunzeln, weil mir dieses Verhalten von mir selbst nur allzu gut bekannt war.

Wir begannen über Norwegen, die gemietete Wohnung und unseren geplanten Wandertag zu sprechen, als er mich plötzlich geradewegs heraus fragte: „Schlafen wir da dann gemeinsam in einem Zimmer?“ Zugegeben die Frage war untermalt mit einem breiten Grinsen und somit als Scherz gedacht, trotzdem sahen wir uns für einen Bruchteil einer Sekunde zu lange in die Augen. Ich war in diesem Moment so perplex, dass ich nur einen sarkastischen Gesichtsausdruck und ein noch viel sarkastischeres „Selbstverständlich!“ als Antwort parat hatte.


Jahre später erzählte ich Jan von diesem Abend, er beteuert bis heute, sich daran nicht erinnern zu können und auch zu diesem Zeitpunkt absolut kein Interesse an mir gehabt zu haben. Das rief bei mir als Reaktion immer nur ein Schmunzeln hervor. Er war nicht der Typ Mann, der durch die Welt zog und solche Sprüche auf jegliches weibliches Wesen losließ, das seinen Weg kreuzte. Aber ich hatte gelernt, ihn ab und zu an seine zurecht gelegte Wahrheit glauben zu lassen, weil es ihm vermutlich sein Dasein um einiges erleichterte.

Ich sah mich in der Runde um und natürlich hatte ich es wieder einmal geschafft, unter den bereits letzten acht anwesenden Personen zu sein. Wie könnte es auch anders sein! Ich war noch nie gut darin gewesen, ein Fest früher zu verlassen als nötig, überhaupt, wenn ich nette Gesellschaft und Spaß hatte. In diesem Fall aber war es an der Zeit den Rückzug anzutreten. Mein Weinglas war leer, meine Mitstreiter inzwischen sehr betrunken und ich absolut nicht mehr in der Stimmung ein Gespräch auf diesem Niveau fortzusetzen. Somit schnappte ich meine Handtasche, marschierte zum Aufzug und im Zimmer angekommen stellte ich den Wecker auf sechs Uhr morgens. Das waren immerhin dreieinhalb Stunden herrlicher Ruhe im übergroßen Doppelbett. Ohne weiter über den Abend nachzudenken, fiel ich in einen traumlosen und tiefen Schlaf.


*****


Jui! Ich vergaß anscheinend immer wieder, wie gnadenlos mein Weckton war! Und dabei hatte ich mir schon den angenehmsten ausgesucht! Ich werde nie verstehen können, wie Menschen glücklich und ernsthaft von sich behaupten konnten, für sie reichten fünf bis sechs Stunden Schlaf. Was für ein Unsinn! Wenn ich mich auf Dauer diesem Minimum an Bettruhe hingeben würde, würde mein Umfeld beginnen, mich zu meiden, weil keiner ließ sich gerne mit einem Zombie blicken. Für mich bedeutete es schon eine enorme Steigerung der Lebensqualität, dass ich für meinen jetzigen Job erst kurz vor acht Uhr aus den Federn musste. Unbezahlbar! Umso schmerzhafter empfand ich diese frühe Weckzeit. Man konnte es sich romantisch vorstellen – den Blick auf den Nordseestrand, aber es war stockdunkel. Eher sah ich mein Spiegelbild in der Fensterfront als das Wasser. Und das war nicht gerade berauschend nach dieser kurzen Nacht. Mit ein bisschen Aufwand im Bad und drei Morgenkaffees hatte ich mich soweit hingetrimmt, dass ich den Tag wohl meistern würde.

Wie ich feststellen musste, schien die Nacht für meine zum Zeitpunkt meines Verschwindens bereits sehr angeheiterte Kollegin noch länger gedauert zu haben - sie war weit und breit nicht zu sehen. Das schien aber offensichtlich keinen weiter zu stören, was mich dazu verleitete, eine Notiz in meinem Kopf abzulegen, dass ich mir wohl auch mal das ein oder andere leisten durfte, ohne dass es zu sehr geahndet wurde.

Der große Konferenzsaal mit unserer Bühne, war wahrlich beeindruckend. Sobald das Licht gedimmt wurde und alles in blauem Glanz erstrahlte, das Begrüßungsvideo begann und die ersten Sprecher die Bühne betraten, machte sich bei mir so etwas wie Stolz breit, Teil dieses Ganzen zu sein.

Nachdem die Key-Note-Session vorbei war, konnten wir das erste Mal durchatmen. Der Anfang war geschafft oder besser - es war alles am Laufen. Ich deutete das als gutes Zeichen und es ließ die nächsten 30 Stunden direkt entspannt wirken.

Ich verließ den großen Konferenzsaal und holte mir einen Cappuccino, den ich mir wirklich verdient hatte. Nachdem ich die meiste Zeit an der Registrierung verbrachte, hatte ich einen guten Überblick über das Gesamtgeschehen; auch während der Pausen. Und wer stand da immer wieder in Sichtweite oder wer gesellte sich zu mir und wir plauderten uns durch die Tage? Jan! Es waren bestimmt keine hochgeistigen Abhandlungen, mehr ein paar flapsige Sprüche, Scherze und ein gegenseitiges Aufziehen, aber es gestaltete das Arbeiten um sehr vieles angenehmer und die Zeit verging wie im Flug.

„Na, bist du wieder fit?“, rief er mir quer durch den Raum zu. Er wirkte tiefenentspannt. Wir hatten eine seltsame Art des Vertrauens zueinander. „Kannst du bitte meine Sachen verwahren, bis ich wieder aus den Vorträgen komme?“, fragte er und übergab mir seine ganzen Unterlagen. Postwendend schoss es aus mir heraus: „Bringst du mir dafür etwas vom Mittagsbuffet mit?“ Es war mehr als Scherz gedacht, aber Jan stand nur kurz darauf mit einem Teller gefüllt mit Essen, das ich auch selbst gewählt hätte, vor mir. Damals dachte ich nicht wirklich darüber nach oder vielleicht hielt ich sogar kurz inne und stellte das eigentlich auf nichts basierende Vertrauensverhältnis fest. Schwierig zu sagen, so viele Jahre später...


Obwohl ich wirklich sehr müde war und die zu diesem Zeitpunkt noch flachen Schuhe schon vom vielen treppauf-treppab und immer wieder nach Leuten suchen, schnell hier etwas wegräumen und da etwas herräumen, schmerzten, freute ich mich auf das am Abend anstehende Galadinner. Ich hatte schon immer eine Schwäche für schön zelebrierte Essen gehabt, vermutlich weil ich mit meinen Eltern von klein auf gute Restaurants besuchte und wir auch zu Hause immer darum bemüht waren, gemeinsam zu essen und das an einem ordentlich gedeckten Tisch zu tun, wo die Gläser zusammen und die Servietten farblich zum Gesamtambiente passten.

Grundsätzlich würde ich mich eher als den sportlichen Typ Frau bezeichnen. Mein ganzes Auftreten, das wenige Make-up und mein Kleidungsstil spiegelten mit Sicherheit eher Gemütlichkeit als Glamour wieder. Und doch – wenn ich mich dann auf einen schönen Abend vorbereitete, musste es unbedingt ein Kleid sein, kombiniert mit hohen Schuhen und auch der Rest musste einfach passen. Jede Frau hatte mit Sicherheit ihre Schwäche was Accessoires betraf, für mich waren teure Kleider, die ich viel zu selten trug, meine Achillessehne. Und schöne Unterwäsche darunter.

Ich konnte mich noch bestens daran erinnern, wie ich als Kind meiner Mutter einmal beim Ankleiden zugesehen hatte und sie mir erklärte: „Du musst als Frau darauf achten, nicht nur nach außen hin schön gekleidet zu sein sondern auch das, was sich darunter befindet, sollte dazu passen. Niemand will außen ‚Hui‘ und innen ‚Pfui!‘.“ Und sie hatte vollkommen Recht. Nicht nur, dass mir schöne Unterwäsche gefiel, auch empfand ich mich an Tagen, an denen ich schwarze Spitze trug, um einiges attraktiver wie an Tagen, wo im Halbdunkel am Morgen das herhalten musste, was ich in diesem Moment aus der Schublade fischte. Nicht, dass irgendjemand auf der Straße den Unterschied gemerkt hätte, nein, das war etwas, was ich für mich selber tat. An einem Abend, an dem ich mich um mein Äußeres bemühte, war es mir umso wichtiger zu wissen, dass ein schönes Dessous-Set meinen Körper zierte.

Während ich mich an diesem Abend im Eilverfahren fertig machte, ging mir nochmals der Ausgang des letzten Abends durch den Kopf, doch ich schüttelte die Gedanken schnell ab. Jan war wirklich sehr betrunken gewesen, deshalb sollte ich seine Worte nicht auf die Goldwaage legen. Schließlich war er heute den ganzen Tag völlig normal gewesen. Ich zog meine Lippen noch einmal nach – mein Spiegelbild gefiel mir – lächelte und machte mich auf den Weg nach unten, wo wir alle 500 Gäste in Empfang nahmen.

Während die Konferenzteilnehmer vom Sektempfang in der Lobby schön langsam in den großen Saal strömten, stellte ich mich trotz der hohen Schuhe auf die Zehenspitzen. Boris, einer der ‚brains‘ unserer Firma und ein ganz herzlicher, liebenswürdiger Mann, blieb neben mir stehen und fragte mich, wieviele Heiratsanträge ich denn schon bekommen hätte. Ich war geschmeichelt. Boris schaffte es immer den Frauen gegenüber Charme zu versprühen, ohne dass es billig oder schmierig wirkte.

So stellten wir Frauen Anfang 30 uns eben noch einen Gentleman der alten Schule vor. Ich konnte nichts Falsches daran erkennen, von einem Mann die Tür aufgehalten und in den Mantel geholfen zu bekommen und ab und an auch das ein oder andere Kompliment zu hören. Natürlich sollte es von Herzen kommen und nicht einfach nur so in die Welt hinausposaunt sein, aber nachdem ich auch gerne einem Mann sagte, wenn mir etwas an ihm gefiel, wollte ich es im Gegenzug genauso hören.


So sehr ich mich auch streckte, ich konnte Jan nirgends erblicken. War er etwa an mir vorbeigehuscht und ich hatte ihn gar nicht gesehen? Oder war er gar nicht da? Aber er musste doch kommen, das hier war schließlich ein offizielles Arbeitsessen.

Nachdem sich die Menge bereits gesetzt hatte, mussten wir nun auch als Schlusslicht den Saal betreten. Beeindruckend. Die Zwölfertische waren mit schönem Silber gedeckt, der Blumenschmuck passte zum Gesamtambiente. Das Licht war gedimmt, die Bühne wie untertags in Blau getaucht. Meine Blicke wanderten über die Tische und ich entdeckte noch ganz vorne an der Bühne ein paar freie Plätze. Ich ließ mich neben unserer Projektmanagerin nieder, als ich auf einmal Jan als einer der letzten durch die Türe treten sah. Er blickte sich um. Ich fand es schade, dass er nun irgendwo in der Menge untergehen und wir keine Gelegenheit haben würden, uns zu unterhalten.

Ich hatte mich schon mit meinem Schicksal abgefunden, führte Small Talk, den ich nicht besonders liebte, mit meinem Tischnachbarn, als plötzlich eine Stimme hinter mir sagte: „Darf ich mich zu Ihnen setzen, junge Dame?“ Ich drehte mich um und da stand er. Diese Szene hätte direkt aus ‚Dirty Dancing‘ herausgeschnitten und in mein Leben eingefügt werden können. Jene Szene, wo Patrick Swayze den Saal betritt und meint: „Mein Baby gehört zu mir!“ und tausende Frauenherzen sich erweichen und die Tränen zu fließen beginnen. Natürlich legten wir keinen atemberaubenden Tanz auf der Bühne hin und warfen Tische und Sessel zur Seite –nein - aber wir hatten die nächsten zwei Stunden für uns gepachtet und redeten und redeten und redeten. Dabei sah er mir offensichtlich so tief in die Augen, dass ihm zum ersten Mal auffiel, dass ich Kontaktlinsen trug und ich gleich mal meine Augenfarbe korrigieren musste. Männer!

Während er mit einem Kollegen über die Arbeit fachsimpelte, kam die Sprache auf das Alter der Anwesenden. Als ich Jan sagen hörte: „Also ich bin ja 1966 geboren...“, drehte ich mich aprupt um und erstarrte. 1966??? Schnell rechnete ich im Kopf nach. Das hieß, dieser Mann wurde 46 und war somit um einiges älter als ich gedacht hatte. Um Himmels Willen! Warum waren dann die Kinder noch so klein? Ich nahm gleich mal einen großen Schluck von meinem Weinglas, das Jan unter seine Fittiche genommen hatte und sicherstellte, dass es nie leer wurde. Guter Mann! Trotzdem änderte das nichts an der Tatsache, dass ich mich hier um fünf Jahre verschätzt hatte. Und fünf Jahre waren in diesem Fall einiges! Ich musste ja direkt innerlich schon lachen. Ich, die die letzten Jahre schwerpunktmäßig im jüngeren Terrain gewildert hatte, saß am Tisch mit einem fast 17 Jahre älteren Mann und klimperte mit den Wimpern. Darüber würde ich Stillschweigen bewahren, soviel war sicher!


Nachdem sich die Menge aufgelöst hatte und sich alle Richtung Lobby bewegten, wo ein Casino-Abend veranstaltet wurde, gleitete ich durch die Menge und unterhielt mich hier und dort. Jan’s und meine Wege kreuzten sich mehrmals und wir waren beide dazu angehalten, sofort wieder mit der Konversation an jenem Punkt anzuknüpfen, wo wir beim Galadinner aufgehört hatten, aber ich ließ ihn dann bei einem unserer Verkäufer stehen. Mir war es schon ein bisschen zuviel. Die gestrigen, zugegeben alkoholdurchtränkten Anmerkungen und der heutige Abend inklusive Jan’s wirklichen Alters mussten erst einmal verdaut werden.

Nachdem ich am Strand eine Zigarette zur Entspannung geraucht und der Wind mir ordentlich die Haare zerzaust hatte, begab ich mich an die Hotelbar. Ich konnte Jan noch aus den Augenwinkeln sehen, er schien aber bereits den Rückzug ins Zimmer anzutreten.

Jene Kandidaten, die am Vorabend etwas zu tief ins Glas geschaut hatten, waren nicht mehr zu sehen. So stand ich da mit schmerzenden Füßen und der Konferenzverantwortlichen des Hotels. Um mein Leid zu lindern, zog ich einfach meine Schuhe aus. Ich wusste mich normalerweise sehr wohl zu benehmen, aber mit steigendem Alkoholpegel, der fortgeschrittenen Uhrzeit und auch einer gewissen Gleichgültigkeit sich breitmachend, war es mir zu diesem Zeitpunkt herzlich egal, was der Etikette entsprochen hätte. Anscheinend zog ich aber doch Aufmerksamkeit auf mich, denn plötzlich gesellte sich ein dunkler, gutgekleideter Mann an meine Seite. Wir hatten uns rasch vorgestellt. Es stellte sich heraus, dass Dragan aus Kroatien stammte, aber in London aufgewachsen war. Plaudernd tranken wir unsere Getränke leer und nachdem er mich auf ein neues eingeladen hatte, fragte er mich nach meiner Nummer.

Ich hielt von diesem Ritual nur noch sehr wenig, weil die Sinnhaftigkeit für mich grundsätzlich abhanden kam, wenn Mann die erfragte Nummer nicht benutzte. Und das war meistens der Fall. Dementsprechend vergaß ich bereits fünf Minuten später schon wieder, dass ich sie ihm gegeben hatte.

Es lag definitiv eine Spannung in der Luft, wir flirteten und er gefiel mir. Und was fiel Julia ganz spontan ein??? Ja, ich muss hier von mir selbst in der dritten Person schreiben, um mein Entsetzen über mich selbst auszudrücken! Anstatt weiter nett meinen offensichtlich gerade gemachten Aufriss zu pflegen, winkte ich einmal in die Runde und stapfte mit meinen High Heels in der Hand Richtung Ausgang zum Rauchen. Mit welchem Ergebnis? Richtig! Dragan war weit und breit nicht mehr zu sehen, als ich an die Hotelbar zurückkehrte.

Wann würde ich endlich lernen zu agieren wie andere Frauen? Ein bisschen mit den Haaren spielen hier, ein bisschen Wimperngeklimper da und dann noch ans Ohrläppchen gefasst. Wäre ja eigentlich ganz einfach, aber mir entfielen diese Dinge immer im entscheidenden Moment, weil ich offensichtlich so auch schon genug Spaß am Leben hatte und nicht krampfhaft Ausschau nach einem Mann hielt. Egal, ein bisschen Leid war mir trotzdem um die Gesellschaft und während ich meinen Wein austrank, beschloss ich, mich am nächsten Tag bei Dragan zu entschuldigen.


Gesagt, getan. Schon während der ersten Pause erspähte ich ihn und siehe da, als er am Weg Richtung Konferenzraum war, steuerte er direkt auf mich zu. Wir unterhielten uns eine geschlagene Stunde über London, wer wo in der Metropole zu Hause war und ich brachte meine Entschuldigung an. Nachdem bereits die nächste Pause vorbei war, verabschiedeten wir uns mit den Worten, uns bald in London auf einen Kaffee zu treffen. Wer’s glaubt, wird selig! Ich konnte nur innerlich grinsen und hakte das Thema für mich ab.


Jan schaute immer wieder in den Pausen vorbei. Wir standen da nebeneinander, unterhielten uns und zogen über die Menge her. Was mich an den Gesprächen mit ihm faszinierte, war, dass wir einfach wieder anknüpfen konnten, wie wenn keine Unterbrechung gewesen wäre beziehungsweise, dass selbst, wenn wir herumblödelten, es nicht nur sinnloses Gelaber war. Boris gesellte sich zu uns und wiederholte seine Theorie, ich hätte eigentlich zehn Heiratsanträge bekommen sollen. Neben Jan war mir das peinlich. Für gewöhnlich gab ich auf solche Aussagen eine flapsige Antwort, aber in diesem Fall, konnte ich nur dämlich grinsen. Es lag vermutlich daran, dass ich mir wünschte, Jan sollte derjenige sein, der das behauptete, er sollte derjenige sein, der hin und weg von mir war. Aber so war es offensichtlich nicht, denn ich konnte ihn nur noch mit einem Glas Sekt auf dem Schlussempfang aus der Ferne sehen und dann plötzlich war er weg. Ich wusste zwar, dass er nach Hause flog und am nächsten Tag schon wieder nach London, aber es störte mich gewaltig, dass er sich nicht von mir verabschiedete.

Was zu diesem Zeitpunkt meine Sinne vernebelte, war unklar. Warum sollte er sich ausgerechnet von mir persönlich verabschieden, wenn er sonst auch nur in die Runde winkte? Es wurmte mich gewaltig, noch dazu hatten wir die letzten Tage darüber gesprochen, wie sehr es mich störte, dass in unserer Firma einige Leute offensichtlich nicht jenen Grad an Erziehung erlangt hatten, der sie dazu verleitete, ein einfaches „Hallo!“ vom Stapel zu lassen.

Offensichtlich wurmte es mich so sehr, dass ich ihm diesbezüglich am nächsten Tag vom Flughafen aus eine Email schickte... und ich nahm allen Mut zusammen und fragte ihn, ob wir nicht am Freitag Morgen beim Franzosen am Eck gemeinsam frühstücken wollten.


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