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Prolog

Weiße Rentierflechten, rote, grüne, braune und gelbe Moose, Sonnentau und violettes Fettkraut so weit das Auge reicht. Hier und dort sind ein paar Felsen zu sehen, deren weiße quarzhaltige Stellen wie Sterne am Boden leuchten.

Vereinzelte Birken sind die einzigen größeren Pflanzen in dieser ansonsten baumlosen Landschaft. Die Gegend oben im Fjell ist atemberaubend!

Keine Spur menschlichen Lebens weit und breit. Wo gibt es heutzutage noch einen Himmel ohne Kondensstreifen, der in seinem kräftigen Blau nur von ein paar harmlosen Quellwolken unterbrochen wird?

So weit ist der Horizont, wenn man auf dieser Anhöhe im Norden Norwegens steht, so urtümlich diese Aussicht ohne auch nur ein einziges Dorf, geschweige denn einer Stadt in Sicht.

In der Ferne ist ein kreisender Adler zu sehen, der sich gemächlich mit Hilfe der Thermik nach oben schraubt.

Stolz darauf, allein zu Fuß bis hierher auf diese Anhöhe auf über 1.500 Meter über dem Meeresspiegel gekommen zu sein, stellt Erik seinen Rucksack ab und sieht sich zufrieden um.

Von einem der vielen größeren Felsen, die verstreut in der Gegend herumliegen, hat er einen guten Rundumblick. Abwesend wedelt er mit der rechten Hand, um den Schwarm Mücken, der beharrlich um seinen Kopf kreist, abzuwehren. Ein wenig Wind wäre angebracht, er würde die lästigen Blutsauger davonblasen, die als einzige diese Idylle gehörig beeinträchtigen können.

Erik schließt die Augen und atmet tief die reine, klare Luft ein.

Sein Magen knurrt vernehmbar. Zeit für einen wohlverdienten Snack! Er erinnert sich daran, dass er noch ein paar Müsliriegel hat, die sich irgendwo unten im Hauptfach seines Rucksacks befinden müssten. Bei dem Gedanken daran, endlich etwas zwischen die Zähne zu bekommen, läuft ihm das Wasser im Mund zusammen, denn es war ein weiter Weg hierher gewesen. Erik springt von seinem Felsen herunter, bückt sich nach seinem Rucksack und zieht einen (sogar intakten und noch nicht zerbröselten!) Nussriegel hervor.

Während er sich mit dem Rücken an den Stein, der ihm als Aussichtspunkt gedient hat, anlehnt, schält er seinen Riegel aus der Verpackung. Seine Jacke, die er auf dem Herweg außen an seinem Rucksack befestigt hatte, dient ihm als Sitzunterlage. Mit einem zufriedenen Blick in die Umgebung, beißt er heißhungrig ab.

Beinahe den halben Riegel hat er im Mund, das bisschen Speichel, das sich in seinem Rachen angesammelt hat, reicht nicht aus, um diesen trockenen Happen geschmeidig zu machen. Erik muss husten.

Er schiebt einen Teil in die linke Backe, während er versucht, einen kleineren Teil hinunter zu schlucken. Es brennt in seiner Kehle, als er das noch zu große Stück hinunterzwingt. Es musste eine noch komplette Haselnuss sein, die sich nun schmerzhaft ihren Weg durch die Speiseröhre zu bahnen versucht.

Er muss erneut husten. Einmal, zweimal, ein drittes Mal.

Er schlägt sich mit der Faust auf die Brust, um seiner gepeinigten Luftröhre Erleichterung zu verschaffen, doch dabei verschluckt er versehentlich auch noch das andere Stückchen Nussriegel, das er vorsichtshalber in seiner Backentasche aufbewahrt hat.

Dieser zusätzliche Bissen biegt zu allem Überfluss auch noch falsch ab:

in die Luft- statt in die Speiseröhre.

Sein Husten kommt in heftigen Intervallen, mit Tränen in den Augen ringt er nach Luft. Er stützt seine Hände auf den Knien ab und ein plötzlich aufkommender Würgereiz zwingt ihn, seine gebückte Haltung beizubehalten.

Doch es bleibt bei einem Reiz, nichts erlöst seine gepeinigte Luftröhre. Keuchend und wimmernd ringt er um Atem. Er schlägt sich erneut mit den Fäusten mehrmals auf die Brust und als das auch nichts hilft, umklammert er mit beiden Händen seinen Hals, ja, er tut in seiner Not sogar etwas, vor dem es ihm immer gegraut hat: Er versucht, tief in seinen Mund hineinzugreifen, um zumindest einen Brechreiz auszulösen, wenn er schon nichts zu fassen kriegen sollte. Doch leider ist es zwecklos.

Panik breitet sich von seiner Magengrube aus und lässt ihm den kalten Schweiß auf die Stirn treten. Das Erstickungsgefühl wird allmählich übermächtig. Niemand ist bei ihm, der ihn mit ein paar erlösenden, kräftigen Schlägen auf den Rücken zwischen die Schulterblätter erlösen kann.

Hustend und würgend fällt er auf die Knie. Die Tränen laufen über seine Wangen. Verzweifelt wartet er auf das Aufsteigen der Galle, die ihn endlich erlösen würde.

Die Natur um ihn herum scheint das alles nicht zu interessieren, es ziehen keine düsteren, schwarzen Wolken am Himmel auf, die sein Dilemma dramatisch untermalen. Die Sonne strahlt nach wie vor weiter fröhlich von diesem malerischen Himmel herunter und die vielen wilden fleischfressenden Pflanzen laben sich mit Genuss an der einen oder anderen geschnappten Mücke. Einmal an einem klebrigen Tropfen des Sonnentaus festgehangen, gibt es für die kleinen Insekten kein Entkommen mehr. Genau wie in den eingerollten Blattfängen des Fettkrautes, werden hier die kleinen Insekten bei lebendigem Leibe verdaut.

Von Verdauungsproblemen oder gar einer Beeinflussung ihrer Photosynthese wissen sie nichts.

Die kleinen, unscheinbaren und zerbrechlichen Organismen kennen keine solchen Schwierigkeiten, wie sie der Zweibeiner, der sie gerade so rücksichtslos zerdrückt, im Moment hat.

Was stellt sich dieser seltsame Mensch denn so an? Dieses Wesen, das der so großen und übermächtigen Rasse der Menschen angehört, die doch in jeder Hinsicht stets meint, sich über die Natur stellen zu können?

Ist das intelligenteste Wesen des Planeten Erde nicht in der Lage, das zu tun, was ausschlaggebend dafür war, dass sich vor 4,57 Milliarden Jahren erste primitive Einzeller entwickeln konnten, nämlich zu atmen?

Wenn Sonnentau Gefühle für andere Lebewesen empfinden würde, er täte sich kringeln vor Schadenfreude, dass die Tautropfen nur so flögen! Doch so ist ihm der kniende, dem Erstickungstod nahe Zweibeiner einfach nur egal und er ist froh, wenn er nicht komplett von ihm erdrückt wird.

Eriks Augen sind inzwischen stark hervorgequollen, er liegt zusammengekrümmt auf dem weichen, leicht feuchten Moos. Seine Hände umklammern wie Klauen seinen Hals.

Ihm wird schwarz vor Augen.

Ein letztes Röcheln kommt über seine Lippen, dann ist es still auf der Anhöhe.

Blutige Nordlichter

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