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1.) Erster Akt: Lomsdal – Visten Sommer 2016

Weiter, weiter, nur nicht stehen bleiben. Der Rucksack blieb wieder einmal im nassen Geäst hängen, fahrig zog sie an ihrem Schulterriemen und war wieder frei. Ihre schwarzen schulterlangen Locken, die sonst wild in alle Richtungen abstanden, hingen ihr in patschnassen Strähnen in die Augen und behinderten ihre Sicht. Sie wirkte auf den ersten Blick zart und zierlich, doch sie war zäh wie Hosenleder, das hatte sie bereits auf unzähligen Wanderungen durch die Natur bewiesen.

Sie hielt sich ein paar Zweige, die damit drohten, ihre Augen auszustechen, zur Seite und hastete weiter durch den knöcheltiefen Morast. Ihre vor Schmutz starrenden Stiefel verursachten bei jedem Schritt durch den Sumpf schmatzende Geräusche. Zwischendurch gab es glücklicherweise vereinzelte größere Steine, auf denen sie normalerweise lieber balancierte, als sich nasse Füße zu holen, doch mittlerweile kam es ihr eher auf Bequemlichkeit an – also lief sie einfach quer durch den Matsch, statt zu riskieren, auf den spiegelglatten Steinen auszurutschen.

Mühsam versuchte sie, nicht von dem nur schwer erkennbaren Pfad abzukommen.

Sie mahnte sich, sich ausschließlich darauf zu konzentrieren: einfach auf dem Weg bleiben, nicht abkommen.

Das war das Wichtigste, nur darauf kam es jetzt an!

Sie atmete kurz tief durch und schaffte es tatsächlich für ein paar Minuten an nichts anderes zu denken, als an diese Mission. Einmal landete sie schmerzhaft auf dem Hintern und riss sich dabei die linke Hand auf. Blut floss aus einem langen Kratzer unterhalb ihres Handgelenkes. Doch Jani war nicht wehleidig. Sie wischte die Hand in einer nebensächlichen Bewegung an der ohnehin schon vor Dreck starrenden Trekkinghose ab und verschwendete keinen weiteren Gedanken daran.

Kein Grund, sich aufhalten zu lassen.

Das Leben des einzigen Menschen, der ihr wirklich etwas bedeutete, hing von ihr ab. Für ihn würde sie bis ans Ende der Welt durch Moore gehen, sollte es regnen und ihre Beine schmerzen, so sehr sie wollten. Ihr Wille war stärker.

Dicht vor ihr flog plötzlich ein schwarzer Vogel aus dem Gebüsch und flatterte mit lautem Gezeter davon. Janina blieb wie angewurzelt stehen. Mit klopfendem Herzen hielt sie einen kurzen Moment inne, um ihren rasenden Puls zu beruhigen und ärgerte sich eine Sekunde darüber, dass sie so schreckhaft war.

Nur eine blöde Amsel! beruhigte sie sich, wischte sich kurz mit dem Ärmel über das Gesicht und hastete wieder los.

Als der Pfad ein wenig breiter wurde und nicht mehr ihre gesamte Aufmerksamkeit erforderte, kehrten ihre vielen Sorgen mit einer Wucht zurück, die sie straucheln ließ.

Es war tatsächlich passiert. Das Unglück, von dem sie gedacht hatten, es ausschließen zu können, indem sie es einfach ignorierten, war eingetroffen. Sie war nun auf sich allein gestellt. Warum mussten sie auch so viel Pech auf einmal haben? Wie so oft in Janinas Leben hatte sich ein Unglück zum nächsten gesellt ... und dann, dann war auch noch das Pech dazu gekommen!

Wie weit ist es noch bis zur nächsten Straße, verdammt?

Die Straße, dass sie einmal sehnsüchtig nach einer Straße verlangen würde, sie, die den Lärm der stinkenden Autos verabscheute!

Aber nun galt es, so schnell wie möglich zur nächsten Ortschaft zu gelangen. Und an der Straße würde es ihr hoffentlich gelingen, eines der vorbeifahrenden Autos zu stoppen. Viel Verkehr gab es ja nicht gerade in dieser Gegend – mit ein Grund, warum sie überhaupt hierher gekommen waren, Hendrik und sie.

Sie warf einen nervösen Blick auf die Uhr: 21:16 Uhr. Ein weiterer Blick nach oben, in Richtung der wolkenverhangenen Sonne, beruhigte ihre flatternden Nerven. Kein Grund zur Sorge, es war trotz des Regens noch taghell. Das war ein großer Vorteil an norwegischen Sommern. Die Dunkelheit, die im Winter über Monate andauerte und nur von farbenfrohen Nordlichtern erhellt wurde, existierte im Sommer schlichtweg nicht.

Sie erinnerte sich daran, dass sie letzte Nacht etwa gegen 3:00 Uhr morgens so etwas wie eine Dämmerung erlebt hatten, bevor es wieder heller wurde. Eine magisches Ereignis.

Und hilfreich in ihrer aktuellen Lage, denn somit wusste sie, dass ihr noch genug Zeit blieb, um die Straße zu erreichen, und dort gesehen werden konnte – falls denn jemand um diese Uhrzeit auf der E6 nördlich von Trofors, einem kleinen Ort im Norden Norwegens, unterwegs sein sollte. Doch die Zeit drängte trotzdem. Denn jede Minute Verzögerung konnte das Ende für ihren Freund bedeuten.

Manche ihrer Kommilitonen und Bekannten, die von ihrer dreiwöchigen Tour zu Fuß durch den Nationalpark erfahren hatten, hatten ihre Bedenken geäußert.

„So weit ab vom Schuss? Was, wenn einem von euch etwas passiert?“ Aber Janina und Hendrik etwas auszureden, war absolut zwecklos gewesen. Sie waren sich ihrer Sache sicher und hatten beschlossen, ihren Plan durchzusetzen.

Doch nun haderte Janina mit dieser Entscheidung. Hatten die Freunde vielleicht doch recht gehabt? Hätten sie lieber eine andere, sicherere Route wählen sollen?

Janina schüttelte den Kopf, dass die Wassertropfen nur so flogen. Nein, diesem Gedanken wollte sie keine Chance geben! Hendrik und sie hatten alles richtig gemacht.

Der hochgewachsene Norweger, der sich allein mit seinem Kompass in den Fjorden besser zurechtfand, als mit Navi in jeder noch so gut beschilderten Stadt, hatte an alles gedacht. Ihre Reise war bis ins kleinste Detail geplant gewesen, sie hatten trainiert, waren vorab mit Gepäck weite Märsche gegangen und hatten sogar für den - unwahrscheinlichen - Fall, dass ihnen ein Bär begegnen sollte, Pfeffersprays mitgenommen. Wie stolz waren sie vor nun mehr neun Tagen gewesen, als sie nach ihrer ersten Tagesetappe im Zelt lagen und festgestellt hatten, dass sie außer dem Öko - Spülmittel, nichts vergessen hatten. Und wer brauchte schon Spülmittel, wenn man in glasklaren Bächen sein Geschirr mit ein wenig Sand wieder sauber machen konnte?

Janina schluckte, als in ihrem Kopf das lachende Gesicht ihres Partners auftauchte, wie er in seinen Schlafsack gekuschelt neben ihr gelegen hatte.

Mit strahlend weißen Zähnen, braungebrannt, mit weißblonden, verwuschelten Haaren und einem Dreitagebart.

Heute morgen, als das Wetter noch schön gewesen war und sie baden wollten, wie glücklich war sie da gewesen. Mutterseelenallein waren sie, die letzten Wanderer hatten sie vor ein paar Tagen aus der Ferne gesehen.

Wie er sie mit seinen eisblauen und vor Schalk sprühenden Augen, angeblickt hatte, bevor er sich mit Anlauf auf sie stürzte, um sie sich zu schnappen und mit seinem zappelnden, quietschenden Bündel splitterfasernackt in den kalten See zu springen.

Das Wasser war so eisig gewesen, dass sie, als sie schließlich schimpfend und lachend wieder ans Ufer gekrabbelt war, nicht sagen konnte, ob sie aus Schreck, Widerstand oder einzig wegen der verflixten Kälte gekreischt hatte.

Das alles war heute geschehen und kam ihr doch so unwirklich vor, als wäre es ein Traum gewesen.

Sie wurde jäh wieder in die raue und ebenfalls nasse Wirklichkeit zurückgerissen, als sie in einer großen Pfütze den Halt verlor und mit rudernden Armen um ihr Gleichgewicht kämpfen musste, um nicht dort hineinzufallen.

Sie bemühte sich, so gut es ging, ihre Konzentration auf den sogenannten Weg zu richten und trotzdem an die schönen Bilder in ihrem Kopf zu denken – um nicht wieder in Tränen auszubrechen. Die Regenmassen reichten nämlich völlig aus um ihre Sicht zu behindern, da konnte sie verquollene Augen nicht auch noch gebrauchen.

Komm schon, Jani, immer schön weiterlaufen, dann ist er bald gerettet und sobald er sich erholt hat, sind wir wieder draußen irgendwo unterwegs! sagte sie im Stillen zu sich und merkte, wie der Kloß, von dem sie gedacht hatte, er wäre endlich verschwunden, plötzlich wieder da war.

Blinzelnd und mit einem leichten Schluckauf, stolperte sie weiter. Obwohl der Regen nachgelassen hatte, musste sie sich ständig die Augen freiwischen, um etwas sehen zu können.

Ein Blick auf ihr GPS brachte Erleichterung, noch etwa dreihundert Meter, dann hatte sie ihr erstes Ziel erreicht. Im Kopf legte sie sich einen Plan zurecht: Ein Auto anhalten, dem Fahrer grob erklären, was geschehen ist und dabei bloß nicht zu viel erzählen, sonst würde ihre Geschichte wahrscheinlich unglaubwürdig erscheinen und er oder sie würde sie am Ende nicht mitnehmen. Dann darum bitten, in Mosjøen zur dortigen Polizei gebracht zu werden. Denen würde sie ebenfalls ihre Geschichte berichten müssen und sie hoffte inständig, dass man ihr Glauben schenken und umgehend eine Rettungsmannschaft zusammenstellen würde.

Eine schnelle Truppe, die Hendrik rasch einsammeln und ihm vor allem Schmerzmittel verabreichen konnte. Ein Schauer lief ihr bei dem Gedanken den Rücken herunter, dass der Ärmste stundenlang mit Prellungen, Schrammen und mindestens einem gebrochenen Schienbein auf kaltem Stein liegen musste, bis Hilfe kommen würde.

Schlechtes Gewissen poppte auf.

Nein, falscher Gedanke, schalt sie sich. Sie hatte nicht zu ihm herunter gekonnt, es war einfach zu gefährlich gewesen und er hatte es auch energisch verboten!

„Bleib ja da oben, ich halte es hier schon irgendwie aus, aber verlauf dich nicht!“, hatte er zu ihr hoch gerufen und dann mit schmerzverzerrtem Gesicht noch ein herzhaftes „hellvetes dritt!“ hinten angehängt, was zu Deutsch so viel wie „verdammte Kacke“ hieß und mit „hallvettes drrrritt!“ korrekt geflucht wurde. Richtig knurrig musste es klingen, damit es auch authentisch wirkte. So authentisch wie in diesem Augenblick, hatte Janina diesen Fluch noch nie gehört.

Janinas Sorgen blieben. Hatte er sich nicht vielleicht doch schwerer verletzt, als er zugegeben hatte?

Doch sie sprach sich Mut zu, sagte sich, dass sie alles richtig gemacht hatte und es keinen Grund gab, sich etwas vorzuwerfen. Nun würde sie weiterhin alles richtig machen, sich an ihren Plan klammern und ihn retten!

Eine Szene, die sich vor ein paar Tagen ereignet hatte, trat ihr mit einem Mal vor Augen. Hendrik und sie hatten nach einem erfrischenden Bad im See auf der Wiese gelegen und die Wolken über sich betrachtet. Da hatte er sich zu ihr umgedreht, sie mit liebevollem Blick angesehen und ihr eine verirrte Haarsträhne hinter das Ohr geklemmt.

In seiner ruhigen Art und mit seiner tiefen Stimme hatte er zu ihr gesagt: „Janina, einmal ganz allgemein gesprochen: Wenn mir irgendetwas zustoßen sollte, dann wage es ja nicht, auch nur eine einzige Sekunde auch nur daran zu denken, zu verzweifeln oder dich selbst aufzugeben, du musst immer weiter machen, ja? Denn sonst werde ich ...“ Er schien damals bemerkt zu haben, wie durch seine ernste Rede ein Schrecken durch ihre Glieder gefahren war und hatte sich bemüht, ein Lächeln auf seine strenge Miene zu zaubern. „Dann werde ich dich selbst aus Walhalla noch ...“ Scheinbar hatte er überlegen müssen, wie er denn aus dem Totenreich noch irgendetwas erreichen wollte und sie hatte grinsend gefragt: „Wirst du wohl was, du gefallener Krieger? Mit der nächsten Walküre baden gehen?“ Da hatte er sie lachend an sich gedrückt und ihr ins Ohr geflüstert, dass seine Barthaare an ihrem Ohrläppchen gekitzelt hatten: „Jani, versprich mir einfach, dass du niemals aufgibst, mir zuliebe.“

Sie hatte sich an ihn gekuschelt.

„Ja, mein Schatz, mach‘ ich“, hatte sie geantwortet. „Aber für dich gilt das Gleiche.“

Sein Kuss war die einzige Antwort, die er ihr gegeben hatte.

Jetzt, als sie auf sich allein gestellt war, erinnerte sie sich daran, wie unangenehm ihr diese vielleicht auch ungewollt dramatische Rede vorgekommen war. Seltsam, dass so kurz darauf genau so ein Fall eingetreten war, in dem sie Hartnäckigkeit beweisen musste.

Sie fröstelte.

Ein weiterer Blick auf das GPS bestätigte ihre Vermutung: nur noch ein paar Minuten durch den knöcheltiefen Schlamm bis zur Straße.

Mit zitternden Beinen erreichte sie den Straßenrand.

Sie hatte großes Glück.

Es gelang ihr, das erste Fahrzeug, das aus nördlicher Richtung kam, anzuhalten – es hätte auch nur weiterfahren können, wenn es über sie hinweg gefahren wäre, denn sie hatte all ihren Mut zusammengenomm-en und sich mit dem festen Vorsatz, nicht einen Millimeter zur Seite zu weichen, mitten auf die linke Spur gestellt.

Der beleibte, etwas schmuddelig wirkende Norweger, der sie zuerst verwundert aus seinem Holzlaster betrachtet hatte, bremste, öffnete die Tür und verhielt sich arttypisch, indem er sie sie in überraschend gutem, jedoch stark akzentuiertem Englisch ansprach.

Hier kannte jeder jeden, wen man nicht kannte, der war nicht von hier.

Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei ihr um eine Touristin handelte, war einfach die größte. Also benutzte man die Allerweltssprache. So einfach war das.

Doch Janina studierte zufälligerweise indogermanische Sprachen und als sie ihm in fließendem Norwegisch eine knappe Schilderung ihrer Lage gab und ihn inständig darum bat, zu der nächsten Polizeistation gebracht zu werden, hob er verblüfft die Augenbrauen.

Der zottelige Elch stellte sich als Peer vor und bot ihr mit einer einladenden Geste an, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Er versprach, sie zur nächsten Ortschaft mitzunehmen, bot ihr einen Schluck aus seiner Thermoskanne an, den sie kopfschüttelnd ablehnte und fuhr los.

„Es ist nun nicht mehr weit, wir sind in einer Minute da“, brummte Peer wohl schon zum hundertsten Mal in seinen zauseligen angegrauten Bart.

Janina nickte und bemühte sich, ihm dankbar zuzulächeln, doch das misslang ihr wohl kläglich, denn der dicke Mann auf dem Fahrersitz richtete seinen Blick rasch wieder auf die Straße.

Ihre Sorge um Hendrik war einfach zu groß, um ein anständiges Lächeln zustande zu bekommen.

Auf der Wache angekommen, bekam sie aus den Augenwinkeln mit, wie der LKW-Fahrer sich hastig einem fassförmigen Polizisten zuwandte, den er allem Anschein nach kannte, was sie nicht weiter wunderte.

Aufgeregt sprach er auf den Beamten ein, während sie von dem anderen Herrn, offenbar dem leitenden Kommissar, in sein Büro gebeten wurde. Peer warf immer wieder neugierige Blicke in ihre Richtung. Glücklicherweise waren die beiden weit genug von ihr entfernt, sodass sie nicht mitanhören musste, was genau über sie gesprochen wurde. Es war ihr auch egal, was dieser hinterwäldlerische aber hilfsbereite LKW-Führer zu erzählen hatte. Sie hoffte nur, dass die Polizei ihr Glauben schenken würde.

Doch diese Sorge war unbegründet. Kommissar Johnsen hörte ihr aufmerksam zu und schritt, nachdem sie geendet hatte, sofort zur Tat.

Er hatte sie nur ein einziges Mal unterbrochen, als sie ihm die Geschehnisse berichtete:

bei der Nennung des vollen Namens ihres Freundes.

Sie musste ihn wiederholen, damit er sichergehen konnte, sie richtig verstanden zu haben. Anschließend stellte er ihr wenige, gezielte Fragen und versprach ihr, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um ihrem Freund zu helfen.

Johnsen bat sie, im Vorraum zu warten, bis alles in die Wege geleitet war und sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, trat sein Kollege und bester Freund Thor Weyn an seinen Schreibtisch.

„Habe ich das richtig erlauscht? Hendrik Hendriksen? So soll ihr Freund heißen?“ Weyns Stirn hatte sich in tiefe Falten gelegt.

„Ja, der Name ist in der Tat ungewöhnlich. Aber wenn er aus der Stadt kommt …“

Johnsen hatte die Hände vor der Brust verschränkt und dachte nach.

„Glaubst du ihr oder nicht?“

Der Kommissar wog nachdenklich den Kopf hin und her.

„Sie macht einen ziemlich erschöpften Eindruck. Aber ich halte sie für völlig klar im Kopf ... ich denke, ich glaube ihr. Es ist durchaus plausibel, dass sich ein Unfall der Art ereignet haben könnte, wie sie ihn beschrieben hat. Und was Namen angeht … es gibt weitaus bescheuertere.

Sie ist nicht von hier und so wie sie aussieht, mag es durchaus stimmen, dass sie mehrere Stunden bei dem Sauwetter durch die Pampa gelaufen ist.“

Weyn nickte zustimmend.

„Wenn wirklich jemand verletzt irgendwo im Fjell liegen sollte, müssen wir auf jeden Fall etwas unternehmen. Wir dürfen das Risiko nicht eingehen, dass dort draußen jemand verreckt!“

Entschlossen erhob Johnsen sich von seinem Stuhl.

„Also los, an die Arbeit, Thor!“

Nicht ohne eine gewisse Aufregung stellten die beiden in kurzer Zeit eine achtköpfige Mannschaft zusammen.

Eine Rettungsmannschaft mit Helikopter und allem Drum und Dran. So viel Betriebsamkeit hatte das Präsidium schon lange nicht mehr erlebt. Beinahe freute man sich darüber. Endlich war hier mal etwas los!

In einer Region, in der gerade einmal 9662 Menschen lebten, gab es nicht allzu viele Unfälle; Morde geschahen in dieser friedlichen Region noch seltener. Das war der Grund, weshalb der Kriminalhauptkommissar Jørn Johnsen auch ̶ oder besser gesagt: hauptsächlich ̶ andere, nicht kriminalistische Einsätze, leitete. So furchtbar sich die Geschichte der jungen Frau auch anhörte, Johnsen freute sich geradezu darauf, im Helikopter zu sitzen und endlich etwas Spannendes zu tun.

Natürlich musste Janina mitfliegen, sie war ja die Einzige, die die Stelle kannte, an der Hendrik verunglückt war. Nervös klebte sie an der Fensterscheibe und starrte stumm durch die Regentropfen, die in Bächen am Glas herunterrannen auf die Moorlandschaft unter sich.

Immer wieder legte ihr Johnsen, der neben ihr Platz genommen hatte, beruhigend eine Hand auf die Schulter und Janina gab sich die allergrößte Mühe, annähernd gefasst zu wirken, so wenig sie es in ihrem Inneren auch war.

Um ihre vor Nervosität pausenlos zitternden Finger zitterten vor den anderen zu verbergen, versteckte sie die Hände in ihren Jackentaschen.

Ihr gegenüber hatte der Arzt Platz genommen. Er sollte vor Ort Erste Hilfe leisten und Hendrik während des Weiterfluges ins Krankenhaus versorgen.

Sein Anblick beruhigte Janina jedoch keineswegs. Misstrauisch hatte sie den Mann mit den schlecht geschnittenen Haaren, die an den Schläfen bereits sehr licht wurden, beäugt, als er auf Johnsens Anruf hin am Helikopterstartplatz erschienen war.

Der Arzt hatte ein Gerstenkorn an seinem rechten Augenlid und eine knarzende Stimme wie eine rostige alte Tür. Beim Rasieren hatte er sich geschnitten und ein weißes Pflaster zierte sein faltiges Kinn. Zumindest Pflaster kann er schon mal korrekt aufkleben, dachte Janina und wunderte sich sogleich darüber, dass sie in dieser Situation zu solchen Anflügen an Sarkasmus in der Lage war.

Sie wendete angeekelt den Blick von ihm ab und hoffte, dass seine medizinischen Fähigkeiten besser waren als seine Rasierkünste. Zumindest sollten sie ausreichen, um Hendriks Schmerzen bis zum Erreichen des Hospitals wenigstens einigermaßen zu lindern.

Trotz der tiefhängenden Wolken und der veränderten Perspektive aus der Luft, erkannte sie die Stelle sofort wieder. Es war am Ostufer des Hundalvatnet, eines großen Sees Luftlinie nur etwa zehn km von Mosjøen entfernt. Luftlinie, wohlgemerkt. Sie jedoch hatte den verschlungenen Weg über teils nicht erkennbare Pfade bis zur E6 zwanzig km südlich dieses Ortes nehmen müssen, also mehr als das Doppelte! Gute acht Stunden hatte ihr Gewaltmarsch gedauert. Nun war es bereits nach Mitternacht, doch Dank der Wintersonne war es immer noch hell.

„Da!“, rief sie aufgeregt, als sie eine krumme Birke wiedererkannte und tippte wie wild an die Glasscheibe, wo sie mit ihrem Finger Abdrücke hinterließ.

„Hier unten!“

Sie zappelte aufgeregt auf ihrem Sitz herum. Jede Spur von der Erschöpfung, die sie im Präsidium überkommen hatte, war plötzlich von ihr abgefallen.

Hier war sie, die Stelle, an der sie ihren Rucksack ausgeleert und nur das Allernötigste mitgenommen hatte, um schneller fortzukommen. Der fast leere Rucksack hatte so gut wie nichts mehr gewogen. Sie hatte nur ihr GPS, ein (leider nutzloses, da sie hier keinen Empfang bekommen hatte), ihr Handy, ihre Feldflasche und für alle Fälle den Kompass drin gelassen. Und diversen Kleinkram, für den sie sich einfach nicht die Zeit genommen hatte, ihn auszusortieren und den sie einfach drin gelassen hatte.

Der Pilot nickte, steuerte den Helikopter über den Abgrund hinaus und ging nun unterhalb davon vorsichtig, Stück für Stück, die steile Klippe entlang, immer weiter hinunter.

Alle Augen richteten sich gespannt auf den Klippenrand, an dessen oberen Ende ein weißer Sack zu erkennen war. Das war die große Tüte, in dem sie ihren Rucksackinhalt verborgen hatte.

Dann sahen es alle Insassen des Helikopters gleichzeitig: Auf einem Felsvorsprung, auf dem vielleicht drei Männer sitzend Platz gefunden hätten, war ein grüner Haufen zu sehen.

„Das ist sie! Da! Ich habe ihm die Plane heruntergeworfen, damit er nicht so nass wird! Darunter muss er liegen, er hat das Zelt in seinem Rucksack, er hat sich bestimmt darin eingewickelt!“

Johnsens sah die junge Frau an, deren Stimme sich vor Aufregung überschlug.

Er legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm.

„Wir werden uns jetzt vorsichtig an die Felswand herantasten“, erklärte er „und dann jemanden abseilen, der Ihren Freund an einem Rettungsseil befestigt. Dann kann er an Bord hochgezogen werden. Es wird nicht mehr lange dauern, bis er hier bei uns ist.“

Sie war ihm dankbar für seine Worte, die ihre Angst ein wenig linderten, konnte sich jedoch schwer beherrschen, still zu sitzen.

Der Pilot hielt seine Maschine auf Höhe der Felsoberkante in der Luft und bugsierte sie noch ein Stück näher heran.

Der Hubschrauber befand sich nun dicht an der Felskante. Alle Augen richteten gespannt sich nach unten.

Etwa vier bis fünf Meter unterhalb einer schief gewachsenen Birke, neben der die Tüte mit dem Inhalt ihres Rucksacks lag, lag die besagte Plane. Obwohl der Helikopter sich etwa dreißig Meter über ihr befand, knatterte sie ungestüm im Rotorenwind. Die Zeltplane wölbte und wand sich wie ein lebendiges Wesen, doch sie flog nicht davon.

Sie wurde nur an einer Ecke festgehalten, auf der ein schwerer Stein lag, den Hendrik wohl unter größter Anstrengung auf sie gewälzt haben musste. Janina versuchte unter dem sich bewegenden Plastikhaufen Hendriks blonden Schopf auszumachen, doch sie konnte ihn nicht erkennen.

Der Hubschrauber vollführte eine gekonnte kleine Wende, um in die richtige Position für die geplante Rettungsaktion zu gelangen. Dadurch entstand ein stärkerer Luftzug, infolgedessen auch der große Stein das sich wehrende Ungetüm nicht mehr halten konnte und es freigab.

Mit Schrecken sah Janina ihre blaue Plane auf den See hinuntersegeln.

Das dunkelgrüne Zelt, das unter der Plane verborgen gewesen war, lag noch an Ort und Stelle. Wie eine grüne Roulade umwickelte sie ein längliches Gebilde.

Hendrik hatte sich vermutlich in drei Schichten gepackt: zunächst in den Schlafsack, dann hatte er darüber das Zelt gebreitet und anschließend die Plane.

Schnell wurde der Rettungsassistent, der bereits während des Anfluges seine Abseilweste angelegt hatte, an der ausgeklappten Seilwinde heruntergelassen. Er verschwand mit einer eleganten Bewegung innerhalb eines Lidschlags durch die Hubschraubertüre. Kurz bevor er den Vorsprung erreicht hatte, kam er wieder in Janinas Gesichtsfeld. Es herrschte gespanntes Schweigen unter den Besatzungsmitgliedern, als er auf dem schmalen Sims landete.

Als seine Füße den Boden erreichten, rang er für einen Augenblick schwankend um sein Gleichgewicht. Die Besatzung hielt den Atem an. Der Rotorenwind war stark, doch der geübte Rettungsassistent rutschte nicht ab, sondern fand mit ausgestreckten Armen wedelnd, sein Gleichgewicht wieder. Als er sich hinkniete, um das Zelt anzuheben, traten Janina Schweißperlen auf die Stirn. Sie konnte Hendriks Kopf nicht sehen, denn der Sanitäter verdeckte ihr den Blick mit seinem Rücken. Sie wünschte sich einen Scheibenwischer, um die großen Regentropfen, die ihr die Sicht behinderten wegzuwischen. Endlich drehte sich der Mann auf dem Sims. Jani beobachtet unter höchster Anspannung, was er als nächstes tat.

Nachdem der Sanitäter das Zelt auf seinem Inhalt untersucht hatte, stand er wieder auf. Er hob die Hand zu seinem Headset und erweckte zunächst den Anschein, dass er etwas in sein Mikrofon sagen wollte, doch dann senkte er den Arm wieder und griff mit beiden Händen nach der Zeltwand. Mit Schwung zog er daran, sodass Hendriks Rucksack, der das Zelt gehalten hatte, zur Seite rutschte und es freigab. Nun kam zum Vorschein, was darunter verborgen gelegen hatte.

Janina presste sich an die Scheibe, doch im selben Moment wurde der Hubschrauber von einer Windbö ins Schwanken gebracht und der Felsvorsprung verschwand für einen Moment aus ihren Augen.

Dann war ein leises Raunen an Bord zu hören.

Jetzt konnten alle Insassen sehen, wie der Assistent mit einem erhobenen Arm das Zelt im Wind flattern ließ, mit der anderen Hand hielt er sich am Felsen fest. Zu seinen Füßen lag ein großer Rucksack.

Sonst nichts.

Gar nichts.

Endlich meldete sich er sich über Funk. Janina hörte seine rauschende Stimme über ihren Kopfhörer. Er klang irritiert, als er seine Meldung machte:

„Hier ist nichts! Ich nehme das Zeug mit und komme möchte wieder hoch.“

Es herrschte verwirrtes Schweigen an Bord und

Janina saß wie gelähmt auf ihrem Platz und starrte auf die Gestalt unter ihr, die Plane und Zelt zusammenpackte.

Kommissar Johnsen war der Erste, der die Stille durchbrach. Er wandte sich ihr zu und fragte über sein Headset: „Sind wir hier auch wirklich richtig?“

Stummes Nicken.

Johnsen sprach erneut durchs Mikro: „Haben Sie sich vielleicht geirrt, hat er doch von seiner Absturzstelle hochklettern können?“

Janina schüttelte heftig den Kopf. „Nein, auf gar keinen Fall! Sie sehen doch selbst, wie weit unten sich die Stelle befindet! Außerdem hat er ein gebrochenes Bein!“

Sie sah ihn an, als wäre er verrückt geworden.

Johnsen wandte sich nun an den Piloten. „Holen Sie Skogler wieder an Bord und landen Sie bitte oben, so nahe wie möglich am Klippenrand.“

„Verstanden“, rauschte es über Janinas Kopfhörer via Funk. Sie sah zu, wie Skogler Zelt und Rucksack an dem Seil, das eigentlich für die Rettung des Verunglückten gedacht war, befestigte, um sie an Bord des Hubschraubers zu bringen.

Janina biss sich auf die Lippen, um die Worte zurückzuhalten, die sich ihr aufdrängten. Wie konnte das sein? Hendrik musste da unten liegen! Er wartete doch auf seine Rettung!

Skogler wurde wieder an Bord gehievt und beschrieb den anderen, was er vorgefunden hatte: nichts außer dem Rucksack, der unter der Zeltwand gelegen hatte.

Janina erkannte ihn als Hendriks und griff nach ihm wie ein Durstleidender nach einem Glas Wasser. Skogler stand ein wenig verloren vor ihr und sagte vorsichtig:

„Frau Schwalb, ich habe die Befürchtung, dass…“ Er sprach seinen Satz nicht zu Ende und wie auf ein stummes Signal blickten alle gleichzeitig in die Tiefe, wo fünfzig Meter unterhalb des Vorsprungs das dunkle Wasser gegen die zahlreichen steilen, spitzen Granitfelsen schwappte.

„..., dass er weg ist“, beendete Kommissar Johnsen zaghaft den angefangenen Satz.

In diesem Moment verlangsamten sich die Rotoren. Sie landeten.

Janina war seit vierundzwanzig Stunden auf den Beinen, hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und außer einigen unterwegs verschluckten Regentropfen, nichts getrunken.

Dann der schreckliche Unfall, die Angst um ihren Hendrik, die Strapazen des langen Fußmarsches und nun auch noch das!

Langsam, Wort für Wort, drang der Satz in ihr Gehirn ein, den ihr Gegenüber gesagt hatte: „Er ist weg.“

Das war nun endgültig zu viel.

Janina konnte nicht mehr.

Sie hatte alles aus sich herausgeholt, was es herauszuholen gab, doch nun war sie ausgepumpt. Leer.

Ihr gepeinigter Körper trat in Streik.

Sie sackte bewusstlos auf ihrem Platz zusammen und hatte zum dritten Mal an diesem unglücklichen Tag Glück.

Glück, dass ein Arzt an Bord war, der sie in ihrer Ohnmacht umsorgte, bis sie ein sauberes Bett in der kleinen Klinik am Rande von Mosjøen bekam.

Die Suche der Mannschaft dauerte nicht lange und brachte nicht das gewünschte Ergebnis. Janinas und Hendricks Sachen wurden eingesammelt und mitgenommen. Doch ihren Freund fanden sie nicht.

Johnsen wies den Piloten an, zunächst die junge Frau in die Klinik zu bringen und dann wiederzukommen, um die Suche fortzusetzen.

Die Rotorblätter begannen sich erneut schneller und immer schneller zu drehen. Der Helikopter erhob sich in die Luft und flog durch den strömenden, nicht enden wollenden Regen zurück nach Osten.

Eine aufmerksame junge Schwester, die im Moment nicht viel zu tun hatte, saß auf einem Klappstuhl neben Janinas Bett. In einem Krankenhaus, das sich in einem Ort befand, in dem nur so wenige Einwohner lebten und es noch eine zweite, modernere und viel größere Klinik gab, in der die ohnehin spärlichen Patienten untergebracht wurden – Norweger waren bekanntlich robust – hatte sie selten allzu viel zu tun.

Mia, die kleine und natürlich ̶ wie auch sonst hier in Norwegen ̶ blonde Krankenschwester mit dem herzförmigen Gesicht, hatte die Geschichte der gelockten Schwarzhaarigen gehört. Sie empfand großes Mitleid mit ihr, denn sie befand sich etwa im gleichen Alter und hatte erst im vorigen Monat ihren Liebsten geheiratet. Mit 23 Jahren zu heiraten war ihren Freundinnen zwar arg früh erschienen, aber sie war sich sicher, dass sie und ihr „gagibaer“ füreinander geschaffen waren. Er hasste es zwar, vor anderen als Gummibärchen bezeichnet zu werden, aber insgeheim, wenn die beiden allein waren, nannte sie ihn nur so. Es war einfach der passendste Spitzname für ihr Schleckermäulchen.

Ihre Hochzeit lag gerade einmal einen Monat zurück. Wenn sie an diesen großen Tag zurückdachte, wurde ihr noch immer ganz warm ums Herz.

Wenn sie daran dachte, dass ihrem gagibaer etwas zustieße, Gott bewahre, dann wurde ihr ganz anders zumute. Die zierliche Gestalt mit den sorgsam hochgesteckten Haaren bekam allein bei diesem Gedanken nervöses Herzklopfen. Sie dankte Gott dafür, dass ihr Liebster keinen gefährlichen Beruf ausübte, doch wie schnell sich unvorhersehbare Unglücksfälle ereignen können, wusste sie aufgrund ihrer Arbeit nur zu gut.

Sie warf einen Blick auf die friedlich schlummernde Janina und ließ ihren Gedanken freien Lauf.

Wie viele Tragödien hatte sie schon in diesem Gebäude miterlebt? So oft war sie dabei gewesen, wenn Patienten verstarben oder, was ihr beinahe noch schlimmer vorkam, für den Rest des Lebens auf künstliche, lebensverlängernde Maßnahmen angewiesen waren.

Und wie schon so viele Male zuvor, musste sie an einen bestimmten Vorfall denken.

An den armen Jungen, der sich beim Spielen auf einer Scheune in der Entfernung verschätzt hatte und statt auf dem Dach des angrenzenden Stalles fünf Meter tiefer auf dem Betonboden gelandet war. Alle, einschließlich seiner Eltern und ihm selbst, wünschten damals, er hätte den Sturz nicht überlebt.

Stattdessen wurde ihm das zweifelhafte Glück zuteil, diesen Unfall mit schwersten Verletzungen zu überleben. Mia hatte ansehen müssen, wie der Krankenwagen den Zwölfjährigen mit dem gebrochenen Genick in die Notaufnahme geliefert hat. Tage- und nächtelang hatten die Ärzte um sein Überleben gekämpft. Die gesamte Belegschaft hatte mitgefiebert und als sicher war, dass er am Leben bleiben würde, war die Erleichterung trotzdem getrübt. Denn es war absolut unklar, in wie weit er sich wieder erholen würde. Es stellte sich jedoch heraus, dass der Körper des Jungen unglaublich widerstandsfähig und sein Geist heil geblieben war. Dennoch diagnostizierten die Ärzte, dass er bis ans Ende seiner Tage nie wieder auf eigenen Beinen stehen würde.

Er blieb vom Kopf abwärts gelähmt, konnte gerade einmal seinen Kopf und die Arme bewegen. Das Sprechen hatte er nicht verlernt, und mit sehr viel Mühe brachte er es irgendwann wieder fertig, mit den Fingern feinfühligere Bewegungen auszuführen. Alltägliche Dinge wie das Zähneputzen bereiteten ihm mit einem Mal große Mühe und er musste fast alles erst wieder neu lernen.

Doch dieser Junge erwies sich als einer der größten Kämpfer, den Mia je getroffen hatte.

Mia war sehr gläubig, weshalb sie vermutete, dass auch Gott hier seine Finger im Spiel gehabt hatte. Denn seinen Namen hatte der Junge der großen Freude seiner Eltern über ihr erstes und einziges Kind zu verdanken, die es Matthis, „das Geschenk Gottes“.

Das Geschenk Gottes wurde damals mit einem Schlag – einem ultimativ harten Schlag – erwachsen.

Er zeigte seiner Familie, wie sehr er sie liebte und er gab sein Bestes, so selbstständig zu werden und fröhlich zu sein, wie es ihm nur möglich war. Das Rollstuhlfahren lernte er rasch und auch für die vielen kleinen Dinge des Alltags, die ihm schwer zu schaffen machten, fand er nach und nach Lösungswege. Auch wenn er nun bei vielen Dingen auf die Hilfe anderer angewiesen war, versuchte er mit eisernem Willen zunächst alles selbst zu erledigen und bat erst im letzten Moment – mitunter auch beschämt – um Hilfe.

Matthis großer Traum wurde es, an den Paralympics teilzunehmen. Da er, als er noch gesund war, mit Begeisterung Basketball gespielt hatte, war es das Natürlichste auf der Welt für ich, einem Basketballklub für Rollstuhlfahrer beizutreten. Nach einem halben Jahr wurde er zum internen Teamleader.

Mia hielt es für eine großartige Sache, dass seit 1960 auch Rollstuhlbasketball eine anerkannte Disziplin bei den paralympischen Sommerspielen war.

Da Mia Matthis Familie kannte und gelegentlich seine Mutter im Ort traf, wusste sie, dass er vor kurzem seinen sechzehnten Geburtstag mit einer großen Party gefeiert hatte und es gar nicht mehr abwarten konnte, bis er endlich achtzehn Jahre alt war und seinen Führerschein machen konnte. Ja, er hatte sich von verschiedenen Ärzten die Bestätigung geben lassen: Er würde später mit einem speziellen Auto für Behinderte fahren dürfen! Und wenn er erst zwanzig wäre, würde er an dem Paralympics 2020 teilnehmen.

Bis dahin trainierte er weiter verbissen.

Durch Matthis hatte Mia eine wichtige Lektion fürs Leben gelernt: Menschen brauchen Ziele im Leben, Dinge, die sie antreiben und natürlich auch Erfolgserlebnisse, für die es sich lohnt zu kämpfen.

Matthis wusste es nicht, und es war völlig egal, dass er jünger war, als sie selbst: er war Mias Vorbild. Immer wenn sie ihre positive Einstellung zu verlieren drohte und, gerade zur dunklen Jahreszeit, wenn sie, wie so viele Bewohner des hohen Nordens, drohte, in depressive Stimmungen zu verfallen, dachte sie an diesen lebenslustigen Jungen.

Matthis, dieser bedauernswerte Junge, konnte allem etwas Positives abgewinnen und er wurde dem Namen gerecht, den seine Eltern für ihn gewählt hatten.

Er hatte gelernt, sich selbst, ganz ohne Arroganz, als das zu sehen, was jeder Mensch ist:

Ein Geschenk Gottes.

Dabei war es ihm völlig egal, ob oder von welchem Gott. Ein Lächeln huschte über Mias Gesicht, als sie daran dachte, wie sie einmal versucht hatte, Matthis Gott nahezubringen. Er hatte ihren Schilderungen von Jesus Christus aufmerksam zugehört. Dann hatte dieser Junge im Rollstuhl ihr geantwortet, dass er sich über Religion nie große Gedanken gemacht hatte.

Ihm ging es einzig und allein darum, dass jeder Mensch in der Lage war, Dinge zu tun, die kein Tier vermochte. Sein Glaube bezog sich auf die Macht in seinem Inneren ...

„Hallo?“

Der eindringliche Ruf riss Mia jäh in die Wirklichkeit zurück. Sie war so in ihre Gedanken vertieft gewesen, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, wie ihre Patientin erwacht war.

Janina hatte lange und tief geschlafen und als sie mit brennendem Hals erwachte, verspürte sie den sehnlichen Wunsch, alles wäre nur ein Traum gewesen. Doch so viel Glück war ihr leider nicht vergönnt.

Wenigstens brachte sie nicht den Klassiker „wo bin ich?“ zu fragen, denn dass dies hier ein Krankenzimmer sein musste, drang sogar in ihr benebeltes Gehirn hinein.

„Bitte etwas zu trinken“, krächzte sie und Mia reichte ihr rasch ein bereitgestelltes Glas Wasser. Janina leerte es in einem Zug und hielt es ihr bittend erneut hin. Mia füllte nach.

Als der größte Durst gelöscht war und ihr Magen vernehmlich knurrte, erinnerte sie sich daran, wo und vor allem, warum sie hier war. Ein Wasserfall an Fragen sprudelte aus ihrem Mund. Alle körperlichen Bedürfnisse waren vergessen, sie brauchte Antworten!

Sie brauchte, wollte, sehnte sich nach ihrem Hendrik.

Mia bemühte sich nach Kräften, ihre vielen Fragen zu beantworten, doch leider wusste man inzwischen auch nicht viel mehr. Die Ermittlungen waren in vollem Gange, doch immer noch war die einzige Spur von Hendrick sein verlassene Rucksack. Die Tauchmannschaf, die den Grund des Hundalvatnet nach Hendriksen durchkämmte, hatte ebenfalls noch nichts Nennenswertes gefunden.

Bald blieb der Krankenschwester nichts anderes übrig, als hilflos den Kopf zu schütteln, was Janina nahezu in den Wahnsinn trieb.

Also bemühte sich die zierliche Pflegerin lieber darum, ihr mit den Mitteln zu helfen, die sie zur Verfügung hatte: Etwas gegen die Kopfschmerzen, ein warmes Essen und Strom für Janinas leeren Handyakku, falls sie ihre Familie anrufen wollte.

Die Tabletten und das Essen nahm sie gerne an. Sie bedankte sich auch für das Ladekabel und den Netzadapter und steckte ihr Handy an. Doch das tat sie nur in der Hoffnung, einen Anruf von Hendrick zu bekommen. Ansonsten wollte sie niemanden anrufen. Der Draht zu ihren getrennt lebenden Eltern war nicht der Beste. Sie würden sich nur aufregen und ihr Vorwürfe machen, denn sie waren immer gegen ihre Ausflüge und Touren gewesen. Und ihren Bruder, mit dem sie sich besser verstand, würde sie in Äthiopien, sicherlich nicht erreichen und selbst wenn, warum sollte sie ihre Sorgen auch noch in seine Welt tragen? Er hatte als Kinderarzt dort genügend andere Probleme und, dachte sie zynisch, Hendrik hatte er von Anfang an nicht ausstehen können.

Nein, danke, bloß nicht telefonieren. Sie dachte daran, den Kommissar anzurufen, doch auch diesen Einfall verwarf sie wieder, denn in diesem Moment klopfte es leise an den Rahmen ihrer Zimmertür und Johnsen trat ein.

Janina blickte ihn erwartungsvoll an aber seine ernste Miene verhieß nichts Gutes.

Kommissar Johnsen hatte schlechte Nachrichten zu übermitteln. Es waren sogar sehr schlechte und er hasste es, der Überbringer schlechter Nachrichten zu sein! Doch er hatte sich vorgenommen, diesen Job so gut es irgendwie ging, auszuführen.

Mit einem aufgesetzten, leider ganz und gar nicht überzeugend wirkenden Lächeln, trat er an ihr Bett.

Blutige Nordlichter

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